Afrika im Herzen

1. Kapitel

 

 

   „Suzanne! Wo bleibst du denn? Du musst los!"

   Das hübsche dunkelhaarige Mädchen, das in ihrem Zimmer im oberen Stockwerk vor einem Standspiegel stand, verdrehte genervt die Augen. Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse und drehte sich schnell noch einmal um die eigene Achse. Konnte sie das wirklich anlassen? Nicht zu viel und nicht zu wenig, das war ihre Devise für den heutigen Tag. Sie wollte schon, dass man Notiz von ihr nahm, aber sie wollte auf gar keinen Fall unangenehm auffallen.

   Immerhin war es ihr erster Tag an der neuen Highschool. Gut, die Schule war vermutlich nicht wirklich vergleichbar mit einer Schule in ihrem Heimatland, aber es war definitiv davon auszugehen, dass es dort anders zuging als in dem elitären Schweizer Internat, in dem sie die letzten Schuljahre verbracht hatte. Schuluniform war von jetzt an auf jeden Fall Geschichte und Suzanne beabsichtigte das weidlich auszunutzen.

   „Augenblick noch", rief sie dann zu ihrer Mutter hinunter. „Ich komme gleich.“

   „Nicht gleich - Jetzt", kam wie befürchtet postwendend die Antwort. „Mach schon, Gregory sitzt schon im Wagen und wartet auf dich."

   Suzanne gestattete sich einen allerletzten Kontrollblick in den Spiegel, bevor sie in ihre Sandaletten schlüpfte, ihren Rucksack mit einer fließenden Bewegung vom Bett auf ihre linke Schulter positionierte und nur Sekunden später die Treppe hinunter klackerte.

   Gilian Banks, die aussah wie eine nur ein wenig ältere Ausgabe ihrer Tochter, wartete ungeduldig in der Empfangshalle der kleinen Botschaft.

   „Na endlich“, empfing sie ihre Tochter vorwurfsvoll. „Du willst doch nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen, oder?"

   Obwohl sie streng klang entging Suzanne nicht, dass ihre Mutter sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen konnte. Also ging sie gar nicht auf den sanft geäußerten Vorwurf ein. „Wie sehe ich aus?" Wie zuvor in ihrem Zimmer drehte sie sich einmal mit Schwung um die eigene Achse und blickte ihre Mutter erwartungsvoll an.

   Die lächelte wieder und stellte ein wenig erstaunt fest: „Hey, du bist nervös. So kenne ich dich ja gar nicht.“

   „Natürlich bin ich nervös, du bist gut", gab Suzanne offenherzig zurück. „Das wird meine erste "normale" Schule - da will ich doch einen guten Eindruck hinterlassen."

   Gilian Banks betrachtete ihre 17-jährige Tochter, die nervös wie ein Vollblüter vor dem ersten Rennen von einem Fuß auf den anderen tippelte, genauer. Suzanne trug eine enge Röhrenjeans, die ihre langen Beine besonders gut zur Geltung brachte. Über ein zitronengelbes Topp trug sie eine dunkelblaue Bluse, die sie lose über der Hüfte geknotet hatte. Ihr langes, dunkles, naturgelocktes Haar hielt sie mit einem bunten Band locker im Nacken zusammen. An ihren Ohrläppchen baumelten die Erbstücke ihrer Großmutter und ihr Gesicht war dezent, aber durchaus wirkungsvoll geschminkt. Verdammt,  wo und wann hat sie das gelernt, fragte sie sich unwillkürlich.

   Bis vor wenigen Wochen hatte ihre Tochter noch eine katholische Klosterschule in der Schweiz besucht. Sie war eigentlich davon ausgegangen, dass die Schüler dort derartige Dinge eher später lernten. Nun, diese Hoffnung war offenbar mehr als naiv gewesen. Ihr kleines Mädchen hatte sich im letzten Jahr sehr verändert. Irgendwann hatte sie sich, leider gänzlich unbemerkt von ihrer Mutter, von einem unsicheren, etwas linkischen Geschöpf in eine bildhübsche, selbstbewusste junge Frau verwandelt. Es ließ sich nicht leugnen und Gilian verspürte einmal mehr Bedauern darüber, dass sie, aufgrund ihrer bisherigen Lebensumstände, viel zu viel Zeit von der Entwicklung ihres einzigen Kindes verpasst hatte. Zeit, die sich nicht mehr zurückholen ließ. Aber das würde sich ja von jetzt an Gott sei Dank ändern. Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen und Gilian war fest entschlossen, nicht der Vergangenheit hinterher zu trauern, sondern vielmehr das Beste aus der Zeit herauszuholen, die vor ihnen lag.

   „Mam, sagst du vielleicht mal was? Gregory wartet … das hast du selbst vorhin gesagt.“

   Gilian zuckte zusammen und konzentrierte sich wieder auf ihre Tochter, die erwartungsvoll auf ihr Urteil wartete. Suzannes blaue Augen blitzten so erwartungsvoll voller Neugierde und Vorfreude, dass ihr unwillkürlich ein tiefer Seufzer entschlüpfte.

   „Shit.“ Suzanne blickte konsterniert an sich herunter. „So schlimm?“

   „Nein, nein“, versicherte ihre Mutter eilig. „Es ist nur… Wenn es wenigstens eine normale Highschool wäre. Versprich dir lieber nicht zuviel", versuchte sie den Enthusiasmus ihrer Tochter etwas zu bremsen. „Ich will nur nicht, dass du nachher enttäuscht bist.“

   „Niemals. Alles ist besser als das Internat", verkündete Suzanne prompt im Brustton der Überzeugung. „Keine Schuluniform mehr und vor allen Dingen: Keine eingebildeten Snobs, die sich für was Besseres halten.“

   „Ich weiß, du mochtest das Internat nicht besonders", sagte ihre Mutter. „Aber es ist eine erstklassige Schule und dein Vater und ich hatten leider keine große Wahl. Du brauchtest eine gewisse Kontinuität und das konnten wir dir leider aufgrund des Jobs nicht bieten.“

   „Weiß ich doch“, betonte Suzanne ernst. „Du sollst dir deswegen nicht immer Sorgen machen. Ab jetzt sind wir zusammen. Ein ganzes Jahr lang. Nur das zählt.“

   „Ja, aber hier könnt ihr noch nicht mal Kurse wählen.“

   „Na und?“

   „Was ist mit deinen Vorlieben? Deine Stärken? In jedem Jahrgang gibt es nur eine Klasse.“

   „Mam, was soll denn daran schlecht sein? Außerdem ist es mein letztes Schuljahr vor dem College und somit ist das vorläufig unsere letzte Chance mal ein halbwegs normales Familienleben zu führen."

   „Ausgerechnet hier? Am Ende der Welt? Suzanne, ich weiß noch nicht einmal wie lange ich den Job überhaupt haben werde. Diese Botschaft hier ist schließlich nur ein Versuchsprojekt der Regierung. Was ist, wenn sie wieder geschlossen wird?“

   „Na und? Selbst wenn sie dir kündigen sollten, müssen wir doch nicht gehen. Wir könnten hierbleiben. Ganz einfach! Ich weiß gar nicht was du willst: Mir gefällt es hier. Endlich geht es nicht mehr so steif und konventionell zu. Wenn die in Washington den Versuch wirklich als gescheitert einstufen sollten, dann kaufst du die Hütte einfach. Das Haus ist hübsch - man sieht ihm nicht an, dass es eine Botschaft ist. Hier drinnen verläuft man sich wenigstens nicht alle Nase lang. Das Wetter hier ist prima. Die Einheimischen scheinen nett zu sein. Durch die Militärbasis gibt's jede Menge Amerikaner in unmittelbarer Nähe und damit auch alles was das Herz einer amerikanischen Hausfrau begehrt! Mam, die Hauptsache ist doch, dass wir sind zusammen sein können! Das ist doch das, was…“

   „Hör' auf", verlangte ihre Mutter lachend. Sie war schon etwas länger vor Ort, aber sie brachte es nicht übers Herz, ihrer Tochter in diesem Moment zu sagen, dass es durchaus nicht so einfach werden würde, wie die sich das vorstellte. Die Konflikte, die zwischen den Einheimischen und den Bewohnern der Basis schwelten, waren nicht von der Hand zu weisen. Sie hatte das schon nach wenigen Tagen zu ihrem Bedauern festgestellt und sie ahnte, dass diesbezüglich eine Menge Arbeit vor ihr lag.

   Suzanne war nicht dumm, auch sie würde sicher schon sehr bald feststellen, dass hier nicht alles Eitel, Freude, Sonnenschein war. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Tochter sich entsprechend diplomatisch verhalten und beiden Seiten gleichermaßen freundlich und offen entgegen treten würde. Was das anging, blieb ihr nur übrig auf den gesunden Menschenverstand und die Werte, die sie und ihr Mann Suzanne vermittelt hatten, zu bauen.

   „Wir werden ja sehen, wie du in ein paar Wochen denkst“, fuhr Gilian schließlich nach einer Pause fort. „Du bist schließlich erst kurz hier. – Aber Schluss jetzt. Raus hier. Du musst los. Es ist allerhöchste Eisenbahn."

   Gillian Bank öffnete die Tür für ihre Tochter. Die schnitt ein Gesicht als sie die Limousine vor dem Grundstück stehen sah.

   „Mam, Gregory ist ja noch okay. Aber die Limousine? Muss das denn echt sein?", maulte sie.

   „Du bist immerhin die Tochter der Botschafterin. Ein paar Konventionen müssen wir da schon einhalten."

   „Was soll mir denn hier schon großartig passieren? Wir sind am Ende der Welt. Heute Nachmittag werde ich losziehen und mir ein Fahrrad kaufen." Suzanne verließ entschlossen das Haus und ging zum Wagen. Plötzlich realisierte sie, dass ihre Mutter ihr folgte und drehte sich entsetzt um. „Nein, bitte. Du hast doch nicht im Ernst vor mitzukommen? Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Die müssen ja denken ich hätte sie nicht mehr alle. Bitte, tu mir das nicht an! "

   „Nur dieses eine Mal - gönn mir halt die Freude. Außerdem hab' ich sowieso noch etwas mit dem Rektor zu besprechen."

   „Na toll." Maulend stieg Suzanne in den Fond des Wagens, während ihre Mutter um die Limousine herumging und auf der anderen Seite Platz nahm.

 

2. Kapitel

 

   Während der Fahrt blickte Gilian nachdenlich aus dem Fenster und dachte still nach, während sie die Landschaft an sich vorüberziehen ließ.

  So glücklich sie auch darüber war, dass es ihr trotz aller zu überwindenden Hindernisse letzten Endes geglückt war, den Traum ihres Mannes zu verwirklichen, so hatte sie sich seit ihrer Ankunft schon häufiger gefragt, wie wohl ihr zukünftiges Leben hier verlaufen würde. So vieles kam ihr noch unwirklich vor. Die Militärbasis irgendwo im Niemandsland. Mitten in der Wildnis Afrikas gelegen. Am Rande einer kleinen Stadt, die auf kaum einer Landkarte verzeichnet war und die man in ihrem Heimatland kaum schon als Stadt bezeichnet hätte. Klar war, dass die Einheimischen durchaus von den amerikanischen Zuzöglingen profitiert hatten, zum Beispiel durch eine deutlich verbesserte Infrastruktur. Es gab Einkaufsmöglichkeiten und für die Jugendlichen hatte man Freizeitmöglichkeiten geschaffen, die sowohl von den Einheimischen, wie auch von den Angehörigen der Basis genutzt werden konnten. Alles in Allem könnten alle Beteiligten zufrieden mit der Situation vor Ort sein.

   Allerdings hatte Gillian schon wenige Tage nach ihrer Ankunft festgestellt, dass es große Differenzen zwischen den Amerikanern und Afrikanern gab. Inzwischen wusste sie, dass die Kluft tiefer war, als sie es sich vorgestellt hatte. Als sie sich um den Job bewarb, hatte sie geglaubt zu wissen, worauf sie sich einließ, doch das vage Gefühl auf einem Pulverfass zu sitzen verstärkte sich zusehends.

   Williams Traum war es gewesen, genau hier seine diplomatische Laufbahn zu beenden. In dem Land, an das er vor Jahren sein Herz verloren hatte. Als er vor drei Jahren erfahren hatte, dass die Regierung plante, diese kleine Botschaft, sozusagen als minimalistischen Stützpunkt, einzurichten, war seine Begeisterung grenzenlos gewesen. Sie musste zugeben, dass sie sich davon hatte anstecken lassen. Trotz der zunehmenden Unruhen im Land und der Verwicklungen durch den immer häufiger vorkommenden Terrorismus. Doch hier, so hatte sie sich vorgegaukelt, würde schon nichts passieren. Für Anschläge lag der Ort strategisch viel zu ungünstig. Und die Basis vermittelte ihr zusätzlich ein Gefühl der Sicherheit.

   „Was ist los? Stimmt was nicht?“

   „Wieso?“ Gilian riss ihren Blick von der Landschaft los und wandte sich ihrer Tochter zu, die sie prüfend musterte.

   „Du hast geseufzt.“

   „Echt jetzt?“ Hatte sie? Gilian hatte keine Ahnung.

   „Allerdings. Also, was ist los?“

   „Nichts, mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung.“

   „Na dann…“ Suzanne zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ihrer Fensterseite zu.

   Gilian musterte ihre Tochter noch einen Moment lang gedankenverloren, bevor auch sie wieder aus dem Fenter blickte. Gott, sie war froh, so froh, dass sie Suzanne jetzt endlich wieder dauerhaft um sich hatte. Es war so lange her. Doch die letzten Wochen ließen sie mehr und mehr daran zweifeln, ob sie sich den richtigen Ort für eine dauerhafte Familienzusammenführung ausgesucht hatten. Ob Suzanne, die bislang die meiste Zeit ihrer Jugend wohlbehütet in einem Schweizer Internat zugebracht hatte, sich hier in der Wildnis wohlfühlen würde? Sicher, noch war sie Feuer und Flamme, aber noch war auch alles neu und spannend. Wie würde es in ein paar Wochen aussehen?

   William und sie hatten vor zehn Jahren entschieden, ihrer Tochter die häufigen Umzüge und damit verbundenen Schulwechsel zu ersparen und daher schweren Herzens die Entscheidung für das Internat getroffen. Wenn sie ihre 17-jährige Tochter jetzt so anschaute, fragte sie sich, wo nur die Zeit geblieben war? Ein Jahr noch, dann würden sie sich vermutlich schon wieder trennen müssen. Suzanne wollte in den Staaten studieren. Harward sollte es sein. Die Elite-Uni. So war es seit Jahren geplant und wenn ihr einziges Kind sich etwas in den hübschen Kopf gesetzt hatte, dann zog sie das im Regelfall auch durch. Ein Jahr noch. Nur ein Jahr. Verdammte Zeit. Sie verging einfach viel zu schnell.

   Dieses Mal hatte Gilian sich besser unter Kontrolle und schaffte es gerade noch einen neuerlichen Seufzer zu unterdrücken. Sie würden das Kind schon schaukeln. Alle beide. Ganz bestimmt. Suzanne wusste genau, was sie wollte. Sie würde ihren Weg gehen und sicher auch an diesem unwirklichen Ort ihren Platz in der Gemeinschaft finden.

   Und sie? Sie musste die Nerven behalten und durfte sich nicht einschüchtern lassen. Von Nichts und Niemand. Sie hatte das drauf und sie würde es allen Zweiflern beweisen. Ihr Mann war ein guter Lehrer gewesen und hatte ihr viel beigebracht. Während ihrer gemeinsamen Zeit hatte er ihr eine Menge Einblicke in seine Tätigkeit gewährt. Sie war nie nur das schmückende Beiwerk eines Botschafters gewesen. William hatte sie immer mit einbezogen, ihr von seiner Arbeit erzählt, mit ihr diskutiert und so manches Mal sogar ihre Vorschläge durchgesetzt. Das alleine machte sie zwar noch lange nicht zu einer guten und fähigen Diplomatin, das war Gilian klar, aber in den letzten Monaten hatte sie sich alles, was zusätzlich nötig war, hart erarbeitet. Und was den verbleibenden Rest anging … nun, da verließ sie sich einfach auf ihre gute Menschenkenntnis.

   William und sie waren stets Partner auf Augenhöhe gewesen. An der Seite ihres Mannes hatte sie die Grundfähigkeiten der Diplomatie gelernt. Und eines ganz Besonders: Geduld und Souveränität. Dafür war sie ihm dankbar, denn das waren Fähigkeiten, die ihr nicht in die Wiege gelegt worden waren. Früher war sie immer am liebsten sofort vorgeprescht, wenn sie irgendwo Ungerechtigkeiten oder Lügen feststellte. Dank ihres Mannes hatte sie gelernt, dass es manchmal durchaus von Vorteil war, sich in Geduld zu üben, und erst dann aktiv zu werden, wenn der Zeitpunkt günstig war. Williams unerschütterlicher Glaube an sie und sein Vertrauen hatten ihr gut getan. Ja, sie hatten eine verdammt gute Zeit zusammen gehabt. Der überraschende Herztod ihres Mannes vor etwas mehr als zwei Jahren war ein Schock für sie gewesen. Für Suzanne natürlich auch, aber sie hatte definiv mehr Abstand zu den Geschehnissen gehabt, als ihre Mutter.

   Kunststück, dachte Gilian, ich stand immerhin bei diesem verdammten Empfang in der spanischen Botschaft direkt neben William, als er sich plötzlich an die Brust gefasst hatte und im Blitzlichtgewitter der zahlreich anwesenden Fotografen zusammengebrochen war. Sie hatte völlig unter Schock stehend seine Hand bis zum unwiderruflich letzten Atemzug ihres Mannes gehalten. Ein, zwei Minuten waren ihnen noch geblieben, bevor 16 Jahre Ehe Geschichte wurden. Ihre Welt war zu einem Trümmerhaufen zerfallen und sie selbst am Boden zerstört.

   Trotzdem … während dieser kurzen Zeitspanne, die William noch blieb, hatte er es geschafft, ihr den Weg für eine Zukunft ohne ihn zu weisen. Er hatte seine letzten Kräfte mobilisiert und ihr das Versprechen abgerungen, ihren gemeinsamen Traum auch ohne ihn zu verwirklichen. Gilians Augen wurden feutcht, wie immer eigentlich, wenn sie sich an diese letzten Minuten ihres Mannes erinnerte. Gemeinsamer Traum, das hatte er gesagt. Obwohl es eigentlich viel mehr seiner gewesen war und sie sich ihm nur angeschlossen und ihn bei seinen Plänen unterstützt hatte. Sicher, sie kannte und mochte Afrika ebenfalls, schließlich hatten sie einige schöne Familienurlaube dort verbracht. In luxuriösen Ressorts, das verstand sich von selber. Aber ohne ihren Mann wäre sie sicherlich niemals auf die Idee gekommen, ganz nach Afrika umzusiedeln, das war ein unumstößlicher Fakt.

   Nach Williams Beerdigung daheim in Washington war Suzanne zunächst ins Internat zurückgekehrt, während sie sich in die Arbeit und später, als feststand, dass die Stelle tatsächlich mit ihr besetzt wurde, dann noch in die weiteren Vorbereitungen gestürzt hatte. So hatten sie es im Vorfeld vereinbart. Im Grunde hätte sie gerne noch erst einmal ein, zwei Monate alleine die Lage vor Ort sondiert, doch als sie ihrer Tochter diesen Gedanken präsentiert hatte, war sie auf Granit gestoßen. Nach einigem Hin und Her hatte sie schließlich klein bei gegeben.

   Und jetzt waren sie hier. Mit einer Mischung aus Wehmut, Neugier und Anspannung beobachtete Gilian, wie Gregory die Limousine an den letzten Wohnhäusern der Stadt vorbei weiter in Richtung Schule lenkte, die etwas außerhalb der kleinen städtischen Häuseransammlung lag. Es war ein schmaler Grat zwischen der fremden, einheimischen und der, durch die Militärbasis und der angeschlossenen High-School immer präsenten, altbekannten Kultur. Ihre Aufgabe war es unter anderem, von nun an dafür zu sorgen, dass beide Seiten gleichermaßen zu ihrem Recht kamen. Große Staatsbesuche und Empfänge würde sie wohl kaum zu bewältigen haben. Hier ging es allein darum, vor Ort den Burgfrieden zu wahren. Eine Aufgabe, die es aber durchaus in sich hatte.

   Ach, verdammt, dachte Gilian trotzig, ich kann das! Ich krieg das hin! Und falls nicht, so ist das auch kein Beinbruch. Dann habe ich es wenigstens versucht. Das Wichtigste unterm Strich ist doch, dass Susanne und ich endlich mehr Zeit miteinander verbringen können. Gilian spürte, wie sich eine Hand warm auf ihren Arm legte und drehte sich um.

   „Ist wirklich alles klar, Mam?“ Suzanne musterte ihre Mutter kritisch. „Du bist so still.“

   Gilian blinzelte, griff nach der Hand ihrer Tochter und drückte sie leicht. „Alles in Ordnung. Mach dir keine Gedanken. Ich bekomme wohl nur gerade etwas Muffensausen.“

   Suzanne lächelte und erwiderte den Händedruck ihrer Mutter. „Ach, Mam, wir sind zusammen. Was soll denn da noch groß schiefgehen?“


3. Kapitel

 

   Gregory brachte den Wagen auf dem sandigen Boden des Parkplatzes der Schule zum Stehen und Suzanne ließ hastig die Hand ihrer Mutter los. Sie war ebenfalls nervös, viel nervöser als sie bereit war, zuzugeben. Zappelig wartete sie ab und beobachtete, wie der langjährige Chauffeur der Familie Banks, der im Laufe der Zeit zu einer Art Mädchen für alles avanciert war, ausstieg und formvollendet die Wagentür für sie öffnete. Über die Kleinigkeit, dass er dies eigentlich zuerst für ihre Mutter hätte tun müssen, sah sie großzügig hinweg. Sie wusste, ihre Mutter würde das auch tun … so genau nahm die es mit den steifen Konventionen Gott sei Dank schon längst nicht mehr.

   Ihr selber war das ganze Getue auch so schon furchtbar unangenehm, denn auf dem doch relativ kleinen Parkplatz vor der Schule herrschte schon reger Betrieb und die vornehme dunkle Limousine erregte natürlich in dieser Umgebung schon genug Aufsehen. Weiße und farbige Amerikaner sowie einheimische Afrikaner in bunter Landestracht, aber auch in normaler Kleidung, näherten sich zu Fuss, auf Fahrrädern oder auch auf Mopeds aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen dem Schulgebäude und streiften im Vorbeikommen die ungewohnte Nobelkarosse mit misstrauischen oder auch belustigten Seitenblicken.

   Suzanne beugte sich zurück ins Wageninnere. „Bitte, Mam“, sagte sie unbehaglich. „Kannst du nicht ein anderes Mal mit dem Rektor sprechen? Ich komme hier bestens alleine zurecht.“

   Sie warf ihrer Mutter einen flehendlichen Blick zu, die daraufhin lächelnd kapitulierte.

   „Okay, okay, ich sehe ein, dass ich hier überflüssig bin." Gilian stieg ohne Gregorys Hilfe aus, kam um den Wagen herum und drückte ihre Tochter kurz an sich. „Sieh´ es mir nach. Auch für mich ist das neu."

   Suzanne wand sich eilig aus der mütterlichen Umarmung heraus. „Mam, bitte!“ Ihrer Stimme war das Entsetzen auszuhören. „Wie sieht das denn aus? Alle gucken schon her."

   Gilian lächelte und dieses Mal lag Wehmut in ihrem Blick: „Schon gut. Beruhige dich. Ich geb' ja schon Ruhe. Ich wollte dir doch nur einen schönen ersten Tag wünschen.“

   „Von mir auch, Miss Suzanne", echote Gregory seitlich stehend.

   „Ja, danke euch", atmete Suzanne auf. „Den werde ich sicher haben. Wenn ihr jetzt endlich fahrt.“

   „Suzanne“, mahnte ihre Mutter mit leisem Vorwurf in der Stimme. „Du tust ja gerade so, als hätten wir die Pest.“

   „Nein, natürlich nicht, aber…“

   „Egal, was du sagst, Gregory wird dich heute Nachmittag pünktlich nach Schulschluss wieder abholen."

   „Nein!“, rief Suzanne verzweifelt aus und dämpfte gleich darauf wieder ihre Stimme, als sich prompt ein paar Köpfe in ihre Richtung drehten. „Das ist nicht nötig. Ich komm´ schon nach Hause. Ehrlich, ich..."

   „Keine Widerrede", schnitt ihre Mutter ihr rigoros das Wort ab. „Gregory wird hier vor der Schule auf dich warten. Und jetzt geh' schon, bevor ich es mir noch anders überlege und doch mit rein komme."

   Suzanne verdrehte die Augen, griff nach ihrem Rucksack und schritt auf das mittelgroße, zweistöckige Gebäude zu, das so gar nicht nach einer High-School, wie man sie sich gemeinhin vorstellte, aussah. Ihr Herz klopfte jetzt doch ziemlich laut, insbesondere da sie jeden ihrer Schritte von einer neugierigen Meute beobachtet fühlte. Verdammt – alles bloß, weil dieses Schlachtschiff von einem Auto solches Aufsehen erregt hatte. Sie hasste es auf diese Art und Weise aufzufallen und so schritt sie mit gesenktem Kopf eilig voran.

   So in Gedanken versunken, zuckte sie erschrocken zusammen, als ein Motorrad plötzlich ohne warnend zu hupen ihren Weg kreuzte und sie dabei grob schnitt. Fast wäre der Fahrer ihr über die Füße gefahren.

   „Hey!", Sie wich zurück und blickte dem Kamikaze-Fahrer, der zudem noch ohne Helm fuhr, erbost hinterher: Ein Junge in ihrem Alter mit zu langen dunkelblonden, leicht gewellten Haaren. Er trug ein ausgeleiertes, nicht mehr ganz sauberes T-Shirt und eine ausgebleichte, zerfledderte Jeans, die zudem an beiden Knien breite Querrisse aufwies, wie sie gleich darauf feststellte, als er seine Maschine querstellte und anhielt. An den Füßen trug er Turnschuhe in verschiedenen Farben. „Idiot! Kannst du nicht aufpassen!“

   Der Junge stellte einen Fuß auf den Boden, drehte sich ganz zu ihr um und musterte sie schweigend, ohne allerdings den Motor seiner Geländemaschine auszuschalten.  Selbst aus der Entfernung wirkte sein eindringlicher Blick beinahe einschüchternd auf Suzanne. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und zum Vorschein kamen durchaus gutaussehhende, braungebrannte Züge. An seinem linken Ohr baumelte ein großer, auffälliger silberner Ohranhänger mit einer Feder.

   „Was sollte das?", fragte Suzanne scharf. Schärfer, als es ihre Absicht gewesen war, was daran lag, dass sie sich tatsächlich sehr erschrocken hatte. „Verdammt, du musst mich doch gesehen haben.“

   Es entstand eine peinliche Pause. „Tut mir leid", murmelte der unbekannte Junge dann kaum hörbar. Danach lenkte er seine Konzentration  wieder auf seine Maschine, gab Gas und rauschte davon.

   Suzanne schüttelte ob dieser Reaktion fassungslos den Kopf und wollte gerade ihren Weg fortsetzen, als sie seitlich angesprochen wurde. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass eines der Mädchen, die vor dem Schulgebäude ihre Ankunft beobachtet hatten, inzwischen auf sie zugekommen war.

   „Hallo. Du musst die Tochter der neuen Botschafterin sein. Ich bin Kimberly."

   „Auch Hallo." Suzanne ergriff die ihr dargebotene Hand. „Ich heiße Suzanne.“

   „Ich weiß", lächelte Kimberly. „Nicht wundern, im Grunde wissen das hier schon alle. Neuigkeiten sprechen sich in dieser gottverlassenen Gegend ziemlich schnell herum."

   Suzanne lächelte freundlich zurück. Dann erkundigte sie sich: „Sag mal: Wer war denn das eben?" Sie machte eine Kopfbewegung zu dem blonden Typ rüber, der inzwischen seine Maschine ein Stück weiter abgestellt hatte und gerade im Begriff war, sie abzuschließen. „Der ist ja schräg drauf. Ist der immer so?“

   Kimberly folgte mit den Augen Suzannes Nicken. „Ach, der? Das ist unser Eingeborener. Hast recht, der ist schräg, aber keine Angst - wir benehmen uns hier nicht alle so.“

   „Wie jetzt? Das soll ein Afrikaner sein?", fragte Suzanne perplex. „Sag, dass das nicht dein Ernst ist.“

   „Nein, ist es natürlich nicht.“ Kimberly lachte leise. „Er ist natürlich kein echter Eingeborener. Aber alle hier nennen ihn so. Ich glaube, er ist tatsächlich hier geboren. Außerdem ist er ein echter Eigenbrötler. Verkehrt nur mit den Einheimischen."

   „Und das gibt ihm das Recht sich wie ein Flegel aufzuführen?", fragte Suzanne, gerade so laut, dass der Typ, in dessen Hörweite sie gerade vorbeigingen, es auch mitbekommen musste. Zu ihrem Bedauern tat er jedoch so als hätte er ihre Bemerkung gar nicht mitbekommen, obschon er sie kaum überhört haben dürfte.

   „Flegel? Drückst du dich immer so geschwollen aus?“

   Suzanne lachte: „Nö, ich hoffe nicht. Muss mir unbedingt noch den Internatsslang abgewöhnen, was?“

   „Scheint so“, erwiderte Kimberly und lachte ebenfalls. „Was Marc angeht: Kümmere dich nicht um ihn. Lass ihn ganz einfach in Ruhe. Er ist zwar ein Sonderling, aber einer von der harmlosen Sorte. Der tut keinem was zuleide. – Komm lieber mit, ich würde dich gern den anderen vorstellen." Kimberly packte Suzanne am Arm und zog sie einfach mit sich. „Wir waren schon alle sehr gespannt auf dich.“


4. Kapitel

 

   Suzanne folgte dem Mädchen bereitwillig, froh darüber nicht mehr alleine auf sich gestellt zu sein. Natürlich war sie gespannt und neugierig auf alles, was sie erwartete, aber auch gleichzeitig ziemlich nervös und unsicher. Daher war sie froh darüber, dass Kimberly, die auf sie einen ganz sympathischen Eindruck machte, sich so bereitwillig ihrer annahm. Während Kimberlys Erläuterungen zu dem Jungen auf dem Motorrad hatte sie innerlich erleichtert aufgeatmet. Es wäre schon eine blöde Situation gewesen, wenn sie diese kurze Auseinandersetzung womöglich ausgerechnet mit einem der beliebtesten Jungs der Schule gehabt hätte. Obwohl sie nach wie vor zu dem stand, was sie ihm so spontan an den Kopf geworfen hatte.

   Kimberly führte sie zu einer kleinen Gruppe von Jugendlichen, die am Haupteingang schon auf sie zu warten schienen.

   „Hey, Leute, das ist sie: Suzanne Banks", stellte Kimberly sie den anderen vor. „Suzanne, das sind: Gloria, Ben, Fred, Chris, Melanie und Lilian." Bei jedem Namen deutete Kimberly kurz mit der Hand auf die entsprechende Person. Suzanne bemühte sich krampfhaft bei der Geschwindigkeit die Namen und die dazugehörigen Gesichter in ihrem Gedächtnis zu verankern. „Hallo." Sie nickte jedem Einzelnen in der kleinen Gruppe zu und dabei klang ihre Stimme schon längst nicht mehr so selbstsicher wie noch vor wenigen Minuten.

   „Kann man hier als Normalsterblicher vielleicht mal durch?", fragte da plötzlich eine dunkle, aber durchaus angenehme Stimme, direkt hinter ihnen. „Ihr blockiert den Eingang."

   Suzanne drehte sich, genau wie der Rest der Gruppe, um. Der Typ mit dem Motorrad stand hinter ihnen. Ohne das Motorrad an der Seite wirkte er vergleichsweise fast schmächtig. Er trug den Riemen seines Rucksacks lässig über eine Schulter geworfen und musterte die kleine Gruppe vor sich mit schiefgelegtem Kopf. Aus der Nähe erkannte Suzanne, dass er sanfte braune Augen hatte … Augen, die im Augenblick allerdings gleichermaßen desinteressiert, wie auch herausfordernd blickten.

   „Hey, Marc, mein Lieber. Du bist aber früh dran heute. Gab´ es etwa keine Löwen mehr, die du vor dem Aussterben retten musstest?“, fragte Ben mit provozierendem Unterton. Suzanne glaubte zumindest, dass es sich um Ben handelte. Automatisch trat sie einen Schritt beiseite, um Platz zu machen. Die anderen machten allerdings keinerlei Anstalten die Tür freizugeben, obschon sich hinter Marc schnell ein ganzer Trupp Jugendlicher angesammelt hatte und darauf wartete, das Schulgebäude betreten zu können.

   Ein unangenehmes Schweigen machte sich breit und plötzlich lag eine gewisse Spannung in der Luft. Nach ein paar Sekunden lächelte Marc dann überraschend, doch das Lächeln erreichte nicht seine Augen. Es spielte lediglich für einen kurzen Moment dünn und unübersehbar spöttisch um seinen Mund herum. Dann machte er einen Schritt nach vorn und wollte sich einfach mit sanftem Nachdruck an Ben und den anderen vorbeischieben.

   „Hey!", protestierte Ben laut, packte Marc grob am Arm, zerrte ihn zurück und drehte ihn zu sich herum. „Der Dschungelkönig sucht Stress. Na los, spucks aus. Was willst du?“

   „Lass – mich – los“, verlangte Marc sehr ruhig und betont. „Sofort.“

   „Was, wenn nicht?“ Ben, etwa einen halben Kopf größer als Marc, ließ seinen Gegner zwar los, baute sich stattdessen aber dicht vor ihm auf.

   „Ich an deiner Stelle würde es nicht herausfinden wollen.“ Marc wirkte gänzlich unbeeindruckt.

   „Du willst mir drohen? Ausgerechnet du?“

   Suzanne beobachtete erstaunt und entsetzt, wie Marc zwei Schritte zurücktaumelte, als Ben ihm einen gezielten Stoß vor die Brust versetzte. Doch er ging immer noch nicht auf die offene Provokation ein. Im Gegenteil, er blieb bemerkenswert ruhig und fixierte sein Gegenüber lediglich aus zusammengekniffenen Augen: „Benjamin, wann wird es endlich in dein Spatzenhirn gehen, dass du mich nicht provozieren kannst?" Er sprach leise, aber nicht im Geringsten ängstlich, obwohl Ben nicht nur größer war als er, sondern auch kräftiger wirkte. „Du tust mir nur leid. Ich sage mir immer wieder, dass du nichts daür kannst. Dein Vater ist General – was also sollte anderes aus dir werden als ein kompletter Vollpfosten?"

   Suzanne hielt erschrocken die Luft an, denn für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als wolle Ben Marc an die Kehle gehen. Doch dann lachte er plötzlich laut auf: „Wir werden ja alle noch erleben wer von uns zuletzt lacht. Was glaubst du, wo du noch hinkannst wenn sie euch da draußen den Geldhahn zudrehen?"

   „Wir werden ja sehen", entgegnete Marc immer noch außerlich ruhig, schob sich endgültig an Ben vorbei ins Gebäude, wo er, ohne sich noch einmal umzudrehen, gleichmütig den Flur entlang schlenderte.

   Ben wollte impulsiv hinterher, wurde jedoch von Fred – wenn Suzanne sich richtig erinnerte – daran gehindert. „Komm schon, lass den Spinner. Was soll denn Suzanne von uns denken?"

   Ben zögerte kurz, dann ging ein Ruck durch seinen Körper. „Okay, du hast ja Recht." Von einem Moment zum anderen legte sich ein strahlendes Lächeln auf seine gutaussehenden Gesichtszüge und er ergriff Suzannes Hand. „So, du bist also Suzie? Herzlich willkommen am Arsch der Welt."

   Suzanne hasste es wenn man ihren Namen abkürzte, aber da sie nicht gleich als Spielverderber vor den anderen dastehen wollte, hielt sie sich dezent zurück. Sie war nicht scharf auf eine Außenseiterrolle, wie dieser Marc sie anscheinend inne hatte. Also nickte sie, lächelte unverbindlich und sagte lediglich: „Ja, bin ich. Hallo. Ich freue mich, endlich hier zu sein."

   „Wie jetzt? Echt? Du freust dich darüber im Niemandsland gestrandet zu sein? Ernsthaft?", reagierte Ben sichtich konsterniert.

   „Nein, ich meine, ja, ich...", stotterte Suzanne, plötzlich unsicher geworden. „Ich bin halt froh, endlich aus dem Internat raus zu sein. So schlimm wird es ja wohl hier nicht sein, oder?“

   „Na ja, es geht", räumte Ben nach einer Pause ein. „Man bekommt zwar hier mittlerweile alles, was man so zum Leben braucht, aber andererseits sind hier auch Hund und Katze begraben. Internet? Null. Handyempfang? Eher nicht, und wenn ist der Empfang `ne Katastrophe. Die Eingeborenen schimpfen dass Kaff hier Stadt, aber im Grunde ist das ein Witz. Du wirst schon sehen. Aber hey, der Mensch gewöhnt sich an Alles, richtig? Wir geben uns auf jeden Fall redlich Mühe, nicht vor lauter Langeweile einzugehen.“

   „Okay…“, antwortete Suzanne gedeht und bemühte sich, ihr Entsetzen nicht zu deutlich zu zeigen. Sie hoffte, ihrem Instinkt trauen zu können, dass der neue Klassenkamerad maßlos übertrieb.

   Der ließ sie nicht aus den Augen, aber er ruderte mit seinen nächsten Worten zu ihrer Erleichterung wieder ein wenig zurück: „Mach´ dir keine Sorgen. So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Wir versuchen einfach immer, das Beste aus allem herauszuholen.“ Er zwinkerte verschwörerisch. „Der einzige Vorteil ist, dass man uns einiges nachsieht. Vermutlich, weil wir ja alle nicht freiwillig hier sind.“

   `Ich eigentlich schon', dachte Suzanne bei sich, hütete sich aber, ihre Gedanken laut zu äußern. Außerdem fragte sie sich unwillkürlich, wer wohl `man´ war und um was für Dinge es sich handeln mochte, wenn man den Jugendlichen gegenüber Nachsicht walten ließ. Vermutlich hatten sie einen Ort aufgetan, wo sie wilde Partys feierten und hin und wieder so richtig die Sau raus ließen. Ob man sie wohl auch mal dazu einladen würde? Oder würden die anderen vorsichtig sein, weil sie die Tochter der Botschafterin war? Nun, sie würde es erfahren und das vermutlich schon bald. Sie hoffte inständig, dass die anderen sie aufnahmen und behandelten, wie eine aus ihrer Mitte. Gott, sie wünschte sich das so sehr.

   Es klingelte und Suzanne fuhr unwillkürlich zusammen.

   „Beeilung. Los, Leute, wir müssen in die Klasse", trieb Kimberly die anderen an und die Gruppe machte sich geschlossen auf den Weg zum Klassenraum.

   „Eigentlich müsste ich vorher noch ins Sekretariat“, wandte Suzanne ein. „Kimberly, könntest du mir wohl…?“

   „Quatsch, du kommst mit uns. Es wissen eh schon alle, dass du heute deinen ersten Tag hast. Außerdem gibt es nur eine Klasse für unsere Altersgruppe, da ist groß nix zu regeln“, rief Ben ihr über die Schulter zu. „Alles andere kannst du in der Pause immer noch erledigen.“

   „Okay…“ Immer noch zögernd schloss Suzanne sich der Gruppe an.

   „Er hat recht", raunte Kimberly Suzanne unterwegs noch zu. „Mach dir keine Gedanken. Ben ist schon in Ordnung. Außerdem ist es für uns alle von Vorteil zu seiner Cllique zu gehören. Sein Vater ist der oberste Macker bei uns draußen auf der Basis. Der General hat `ne Menge Einfluss. Das bringt uns einige Vergünstigungen. Aber wem sag ich das?“ Sie kicherte leise. „Deine Mutter ist immerhin die Botschafterin. Vermutlich hat sie ab jetzt noch mehr zu sagen und mehr Einfluss als der General."

   Suzanne lächelte unsicher und dachte sich ihren Teil. Schon nach den wenigen Minuten war ihr auch ohne Kimberlys Erläuterung klar geworden, dass sie sich an Benjamin und seine Clique würde halten müssen wenn sie dazugehören wollte. Sie wusste nur noch nicht so genau, was sie davon halten sollte.

   Als sie gemeinsam mit den Anderen den Klassenraum betrat, riskierte sie rasch einen neugierigen Seitenblick in den Raum und bemerkte Marc, der, in der letzten Reihe sitzend, angeregt mit einem Afrikaner diskutierte. Dabei gestikulierte er lebhaft mit den Händen und strich sich mehrfach, die zu langen Haare aus dem Gesicht nach hinten. Es schien, als hätte Kimberly recht. Im Umgang mit den Einheimischen gab sich Marc offenbar nicht ganz so wortkarg. In diesem Augenblick blickte er nach vorn. Er schien zu stutzen, als er sie bemerkte und ein seltsam wissendes Grinsen legte sich auf seine Züge. Beinahe gönnerhaft. Dann war der kurze Moment auch schon wieder vorbei, denn Marc richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Gesprächspartner.

   `Komischer Kauz', dachte Suzanne bei sich, aber sie kam nicht mehr dazu sich weitere Gedanken über irgendetwas zu machen, denn eine Lehrerin betrat die Klasse und begrüßte sie freundlich. Sie wurde gebeten, sich vor der gesamten Klasse kurz vorzustellen und sich danch einen der freien Plätze auszusuchen. Dankbar nahm sie daraufhin Kimberlys stumm durch ein einladendes Kopfnicken ausgesprochene Aufforderung an, sich neben sie zu setzen. Eilig durchquerte sie den halben Klassenraum und war sich dabei sehr bewusst, dass die neuen Klassenkameraden jeden ihrer Schritte verfolgten. Gott, wie sie es hasste derart im Mittelpunkt zu stehen, aber da musste sie durch. Erleichtert ließ sie sich gleich darauf auf den freien Stuhl neben Kimberly fallen. Die Lehrerin bat Kimberly noch kurz, ihr beim Start etwas behilflich zu sein und begann gleich darauf mit dem Unterricht. Der Rest des Tages verlief eher ereignislos und ehe Suzanne es sich versah hatte sie den ersten Schultag hinter sich gebracht.

 

5. Kapitel

 

   Suzanne starrte tief in Gedanken versunken auf ihren Teller. Geflasht von den Eindrücken des Tages saß sie mit ihrer Mutter beim Abendessen. Ihr Schädel rauchte und sie versuchte immer noch, die neuen Eindrücke einzuordnen und zu verarbeiten.

   Die neue Clique, die merkwürdige Begegnung mit diesem Marc, die neuen Lehrer, der Lehrplan … Puh, sie runzelte unbewusst besorgt die Stirn. Ganz besonders der Lehrplan. Wenn sie an den dachte, wurde ihr ganz anders zumute. Der Rektor hatte ihn ihr in der Pause ausgehändigt und nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte, wusste sie jetzt in etwa, was sie erwartete. Pauken, pauken und noch mal pauken. Das Lernpensum hatte es wirklich in sich. Sie war zwar auf einem Internat für gehobene Ansprche gewesen, aber was den Kids hier abverlangt wurde, war definitiv kein Zuckerschlecken. Damit hatte sie nicht gerechnet. Vermutlich musste sich die Schule hier in der Wildnis beweisen, um ihre Existenzberechtigung zu behalten. Ihre Mutter hatte erwähnt, dass die High-School teilweise mit Fördermitteln subventioniert wurde. Und auch dass das einigen Militärs ein Dorn im Auge war.

   Toll, dachte sie, während sie die leise Verzweiflung vom Mittag, die sie eigentlich schon besiegt geglaubt hatte, wieder hochkommen fühlte. Kompetenzgerangel und Machtstreitigkeiten und wer darf das mal wieder ausbaden? Der Nachwuchs. Fair fand sie das nicht. Sie war noch nie eine der Besten gewesen und ihre Erfolge waren allesamt hart erarbeitet. Wer in Harward angenommen werden wollte, musste sie nicht nur mit guten, sondern mit erstklassigen Ergebnissen aufwarten. Nur so funktionierte es.

   Unbewusst blies Suzanne die Wangen auf. Harward, die Eliteuni schlechthin … eigentlich war es ja der Wunschtraum ihres Vaters gewesen und nicht ihrer. Trotzden hatte sie sich fest vorgenommen, alles zu tun, was in ihrer Macht stand, um ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Posthum sozusagen, dachte sie bitter. Hoffentlich machte ihr dieser Lehrplan da jetzt, quasi kurz vor der Ziellinie, keinen Strich durch die Rechnung. Na ja, wenn sie sich noch ein wenig mehr anstrengte als im Internat würde sie hoffentlich zurechtkommen.

   „Du bist so still“, wunderte sich ihre Mutter. „Erzähl´ doch mal. Wie war´s denn?“

   „Ganz in Ordnung soweit", antwortete Suzanne ausweichend und konzentrierte sich wieder auf ihren Teller. Sie wollte sich nicht gleich am ersten Tag beklagen. Außerdem wäre es unfair. Sie brauchte erst einmal ein klareres Bild von Allem.

   „Und? Hast du schon neue Freunde gefunden?"

   „Um Gottes Willen, Mam, nein. Wo lebst du denn? Ich bin siebzehn. So schnell schließe ich keine Freundschaften. Vielleicht im Kindergarten, ja. Aber die Zeiten sind lange vorbei.“ Sie quittierte die Frage ihrer Mutter mit einem nachsichtigen Kopfschütteln. „Aber es gibt da eine Clique. Die haben mich unter ihre Fittiche genommen und mir alles gezeigt. Die Väter sind alle auf der Basis stationiert.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Könnte sein, dass das langfristig vielleicht was wird.“

   „Landsleute also.“ Gilian Banks lächelte. „Hey, es ist doch schön, wenn sie dir den Einstieg leicht machen. Und die Afrikaner in deiner Klasse? Du warst doch so gespannt auf die Einheimischen. Haben sie dich auch gut aufgenommen?“

   „Ja, klar“, antwortete Suzanne gedehnt. „Das schon. Aber irgendwie … hatten wir gar nicht so viel Kontakt. Ich glaube, jeder geht da seine eigenen Wege." Vor ihrem inneren Auge erschien plötzlich das Bild, wie sie den Klassenraum betreten und gesehen hatte, wie Marc mit dem afrikanischen Jungen diskutierte. „Na ja, zumindest fast alle", setzte sie zögernd hinzu.

   „Du meinst, es gibt so etwas wie eine Rangordnung innerhalb der Klasse? Eine Zweiklassengesellschaft?“

   Schulterzucken. „Sieht so aus.“

   „Das finde ich aber schade. Sehr schade. Schließlich sind wir in diesem Land die Gäste.“ Gilian blickte ihre Tochter ernst an. „Suzanne, ich verlasse mich darauf, dass du immer daran denkst und dich dementsprechend verhältst.“

   „Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, wie ich mich als Tochter der Botschafterin zu verhalten habe“, antwortete Suzanne unüberhörbar verstimmt.

   „Das ist keine Frage des Status. Es geht hier einfach nur um gutes Benehmen“, rügte ihre Mutter.

   „Schon gut. Aber hast du mal daran gedacht, dass es vielleicht gar nicht an den Kids von der Basis liegt? Womöglich sind es ja die Einheimischen, die nichts mit uns Amerikanern zu tun haben wollen?“

   „Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Leute hier sind alle so freundlich", meinte ihre Mutter zweifelnd.

   „Warten wir´s ab.“ Suzanne hatte keine Lust, sich weiter löchern zu lassen und wendete das Blatt. „Wie war denn dein Tag?“

   „Ich war in der Stadt unterwegs und danach auf der Basis. Eine Art Vorstellungsrunde. Schließlich bin ich schon seit 2 Wochen hier, da wurde es langsam Zeit. Wie gesagt: Alle waren sehr freundlich und entgegenkommend – nur bei General Mc.Allister hatte ich ein bisschen das Gefühl, dass er mich eher für überflüssig hält. Ich kann mich aber auch irren."

   „Lass dich von den Kerlen bloß nicht über den Tisch ziehen", warnte Suzanne ihre Mutter kauend.

   „Suzanne", antwortete diese scherzhaft entsetzt. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie euch im Internat eine solche Ausdrucksweise beibringen.“

   „Na klar", lachte Suzanne. „Was glaubst du denn? Denkst du etwa, die Nonnen haben sich von den Kerlen über den Tisch ziehen lassen? Köche, Gärtner, Handwerker, Chauffeure … ich schwöre, die hatten ganz schön Respekt vor den Pinguinen."

   Gilian Banks stimmte in das Gelächter ihrer Tochter ein. „Nein, wahrscheinlich nicht. – Hör mal, was Anderes. Ich plane einen kleinen Empfang hier in der Botschaft. Sozusagen als Einstand. Was hältst du von der Idee?"

   „Gute Idee. Wen willst du einladen – die Leute von der Basis?“

   „Auch.“ Suzannes Mutter zwinkerte verschwörerisch. „Nein, wenn schon, denn schon. Keine halben Sachen. Ich dachte an die wichtigsten Leute von der Basis mit ihren Familien und parallel die wichtigen Leute hier aus der Stadt. Den Bürgermeister, ein paar Geschäftsleute..."

   „Vergiss den Medizinmann nicht", schloss Suzanne schmunzelnd. „Der ist immens wichtig.“

   „Du brauchst gar nicht ironisch zu werden."

   „Och, Mum. Ich weiß nur nicht ob die Idee so toll ist, hier alle unter einen Hut bringen zu wollen", meinte Suzanne nachdenklich und musste dabei wieder an den zurückliegenden Schultag denken. „Wie gesagt: Die Gräben zwischen den Parteien scheinen tief."

   „Dann schütten wir sie eben zu", antwortete ihre Mutter entschlossen.

   „Da hast du dir, glaube ich, eine ganze Menge vorgenommen."

   „Entweder ein Empfang für alle oder gar kein Empfang."

   Wieder schmunzelte Suzanne. Sie kannte ihre Mutter. Wenn sie diesen leicht trotzigen Unterton in ihre Stimme legte, war sie nicht von einem einmal getroffenen Vorhaben abzubringen. „Okay, dann eben ein Empfang für alle. An mir soll's nicht liegen. Wird bestimmt ein interessanter Abend."

 

6. Kapitel

 

   Etwa zur gleichen Zeit nahm Marc zusammen mit seinem Vater und einigen Angestellten der Station das Abendessen auf der großzügigen Terrasse des rustikal wirkenden zweistöckigen Hauptgebäudes ein. Es war eine große, fröhliche Runde, bei der der Anteil der Afrikaner eindeutig überwog.

   Seitlich der breiten Einfahrt, die zum Hauptgebäude führte, befanden sich Käfige und Gehege, die teils besetzt und teils leer waren. Marcs Vater unterhielt sich angeregt mit Charlie, seinem Partner, der gleichzeitig auch sein Schwiegervater und ältester und bester Freund in einer Person war. Vor Jahren, als John Gilbert Charlies Tochter geheiratet hatte, war er mit den beiden nach Afrika gegangen. Zu dritt hatten sie peu à peu die Station mit Praxis und angeschlossenem Forschungslabor aufgebaut. Das Forschungslabor wurde allerdings seit dem Tod von Charlies Tochter kaum noch genutzt und lag brach und so gut wie ungenutzt hinter dem Hauptgebäude.

   „Freiwillige vor. Wer kümmert sich nach dem Essen um das verletzte Elefantenkalb?", fragte Marcs Vater in die Runde. „Die Wunde muss noch einmal frisch versorgt werden.

   „Ich mach das", bot Marc an.

   „Alleine?“, wandte John zweifelnd ein. „Vergiss nicht, die Kleine hat Angst und wehrt sich bestimmt wieder.“ 

   „Tom? Was ist, hilfst du mir?"

   Der afrikanische Junge, mit dem Marc sich am Morgen im Klassenraum so angeregt unterhalten hatte, nickte zustimmend.

   „In Ordnung“, erklärte sein Vater sich einverstanden. „Aber passt auf eure Füße auf. Das Tier ist kräftiger als es aussieht und außerdem extrem misstrauisch.“

   „Dad, ich mach´ das nicht zum ersten Mal.“

   „Ja, ja. Schon gut. Charlie, konntest du herauskriegen wann dieser neue Botschafter in der Stadt eintrifft? Wie ihr alle wisst, wurden die Subventionen bis zu seinem Dienstantritt eingefroren. Hier wird’s aber langsam eng. Uns geht das Geld aus. Ich muss dringend mit dem Mann wegen der Verlängerung der Zuschüsse reden.“

   „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie uns die Zuschüsse streichen werden?“, fragte Charlie.

   „Ich habe keine Ahnung. Ich hoffe nicht, aber ich will euch nichts vormachen. McAllister hat leider gute Beziehungen nach oben. Wenn uns die Regierung tatsächlich jetzt zugunsten der Basis den Geldhahn zudrehen sollte …“ John stockte und strich sich die von der Sonne ausgebleichten immer etwas strubbeligen blonden Haare nach hinten. „… na ja, dann können wir den Laden hier wohl bald dicht machen. Wir bräuchten dringend neues Verbandsmaterial und der Futtermittelschrank müsste auch bald aufgefüllt werden. Aber ehrlich gesagt, ich trau mich gerade nicht, eine Bestellung aufzugeben.“

   Alle Blicke richteten sich auf ihn und es wurde still am Tisch. Jeder der Anwesenden wusste wie angespannt die finanzielle Lage der Station zurzeit mal wieder war. Marcs Eltern und Charlie hatten seinerzeit ihr ganzes Vermögen in den Aufbau und den Erhalt der Station gesteckt. Trotz geringer persönlicher Bedürfnisse war - besonders nach dem Tod von Johns Frau – das Geld immer wieder knapp geworden und ohne die Unterstütung der Regierung hätte die Station schon vor einiger Zeit geschlossen werden müssen.

   In den letzten Monaten war es besonders schlimm gewesen und die Kosten waren eklatant explodiert. Die Zahl der verletzten Tiere, die in die Fallen von Wilderern geraten waren, stieg stetig. Hinzu kamen die verwaisten und schwer traumatisierten Jungtiere, die gefunden und zur Station gebracht wurden. Fast alle hatten mitansehen müssen, wie ihre Mütter massakriert und hingerichtet wurden und reagierten dementsprechend, wenn Menschen sich ihnen zu nähern versuchten. 

   John setzte seit Wochen all' seine Hoffnungen auf den neuen Botschafter und damit auf die erneute Bewilligung der Subventionen. Nicht nur das: Wenn sie die Station halten wollten, dann musste er strenggenommen sogar eine Erhöhung der Zuschüsse durchboxen. Sollte ihm das nicht gelingen wäre es schlichtweg eine Katastrophe. Nicht nur für ihn, sondern auch für seine Leute.

   Bedächtig ließ er seine Blicke über die betretenen Mienen am Tisch schweifen. Es gab Momente da fürchtete er, dass ihm alles über den Kopf wachsen würde. Manchmal, in den wenigen ruhigen Augenblicken, die er sich gönnte, schien es, als würde die Verantwortung ihn schier niederdrücken, aber aufgeben kam für ihn definitiv nicht in Frage. Nicht solange die Mannschaft und Charlie ihm so loyal zur Seite standen. Keiner, nicht ein einziger, hatte bislang in Erwägung gezogen, die Station im Stich zu lassen. Und genau das war es, was ihn zusehends in Panik versetzte. Die Existenzen, die auf dem Spiel standen. Hinter jedem einzelnen Angestellten stand eine Familie, die ernährt werden wollte. Sie hatten alle schon einmal zugunsten der Station auf die Hälfte ihres Lohns verzichtet. Das konnte er nicht noch einmal von seinen Leuten verlangen. So konnte, nein, so durfte es nicht weitergehen.

   Wieder einmal sagte er sich stumm, dass er der Chef war und dass es seine Aufgabe war, Zuversicht zu vermitteln. „Hey." Er stand auf und versuchte mit einem breiten Lächeln, das allerdings ein wenig gezwungen wirkte, die bedrückte Runde am Tisch aufzumuntern. „Nun macht doch nicht solche Gesichter. Ich bin überzeugt: Wenn der neue Botschafter erst einmal hier war und sich alles angesehen hat, wird er sich auch für uns einsetzen.“

   „Du willst ihn ernsthaft hier rausholen?“, erkundigte Charlie sich zweifelnd. „Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“

   „Klar. Ich werde ihn einladen, damit er sich mit eigenen Augen von unserem Projekt überzeugen kann. Das hat bislang noch niemand getan und die Schreibtischtäter in Washington haben ja keine Ahnung. Woher sollen sie auch? Jetzt überlegt doch mal, wie es euch ergangen ist? Denkt nach. Viele von euch hatten damals Zweifel, aber nachdem ihr euch hier alles angesehen hattet, konnte keiner mehr `Nein´ zur Station sagen.“

   Charlie wies mit einer Hand über das hölzerne Terrassengeländer hinweg und meinte trocken: „Dann sollten wir vielleicht vorher noch ein bisschen was tun.“

   John Gilbert folgte der Handbewegung seines Schwiegervaters mit den Augen und nickte zustimmend. „Ja, ich weiß, in letzter Zeit ist `ne Menge liegengeblieben. Aber hey, das werden wir doch wohl hinkriegen, oder? Wenn wir alle an einem Strang ziehen schaffen wir das.“ Er beugte sich vor und stützte sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab. Am Muskelspiel seiner braungebrannten Oberarme war zu erkennen, dass er harte Arbeit gewohnt war. „Kommt schon, Leute“, sagte er jetzt beschwörend. „In das Material für die Reparaturarbeiten müssen wir nichts investieren. Das müssten wir noch komplett im Schuppen vorrätig haben. Ein paar Eimer Farbe sind auch noch da und ein bisschen Aufräumen schadet nie. Ihr werdet sehen: Wenn wir gleich morgen anfangen sieht es hier in ein paar Tagen schon wieder anders aus.“

   Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Der gutaussehende Mann am Tisch richtete sich erleichtert wieder zu seinen vollen 187 Zentimetern auf. „Wir schaffen das“, wiederholte er. „Es war doch schon häufiger eng und wir haben es immer wieder hinbekommen. Ich gebe zu, dieses Mal ist die Situation wirklich brenzlig, aber ich bin ehrlich davon überzeugt, dass wir es schaffen. Ansonsten würde ich es euch sagen. Ihr wisst, dass ich euch nichts vormache.“ Zuversichtlich blickte er erneut in die Runde und hoffte dabei inständig, dass sich seine Zuversicht auf die anderen übertrug. Am Gesicht seines Sohnes blieb er hängen. Er kannte seinen Sohn und dessen Miene ließ ihn nichts Gutes ahnen.

   „Was ist los?", fragte er kurz.

   „Nichts“, antwortete Marc kauend. „Ich denke nur, dass die Zeit ein wenig knapp werden könnte. Der neue Botschafter ist nämlich bereits im Lande."

   „Was?“ Johns Gesicht drückte seine Verblüffung aus. „Charlie?“, fragte er dann an seinen Schwiegervater gewandt.

   „Wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich es dir gesagt.“

   John konzentrierte sich wieder auf seinen Sohn. „Und woher willst du das wissen?“

   „Ich bin immerhin jeden Tag in der Stadt“, entgegnete Marc lakonisch. „Du erinnerst dich: Die Schule? Und ich weiß es, weil wir heute das Töchterchen in unsere Klasse bekommen haben“, erwähnte er dann in beiläufigem Tonfall. „Stimmts, Tom?“

   Tom nickte bestätigend, schwieg aber vorsichtshalber.

   „Und das sagst du mir erst jetzt?“

   Marc zuckte mit den Achselnn. „Ich hielt es nicht für so brandwichtig."

   „Verdammt, Marc. Du wusstest genau, dass ich darauf gewartet habe." John Gilbert klang jetzt eindeutig verärgert und das war er auch.

   Marc schien das nicht zu berühren. Er stand auf und stupste Tom am Arm. „Kommst du?“

   „Was hast du vor?“, erkundigte sich John.

   „Das Elefantenkalb verarzten“, gab Marc zurück. Außerdem ist mir der Appetit vergangen.“

 

   Später am Abend lag Marc auf seinem Bett und starrte nachdenklich an die Decke. Er kannte seinen Vater genau und er wusste, dass der die Szene beim Abendessen nicht auf sich beruhen lassen würde. Aber was hätte er tun sollen? Er hatte seinem alten Herrn nicht unbedingt vor allen anderen sagen wollen, dass er schon seit einer Weile nicht mehr an die Rettung der Station glaubte, also hatte er sich in diese, zugegebenermaßen, nicht allzu glückliche Reaktion geflüchtet. Nachdem Tom sich verabschiedet hatte, hatte er sich auf sein Zimmer zurückgezogen und wartete jetzt darauf, dass sein Vater erschien um das unterbrochene Gespräch fortzuführen. Er würde kommen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

   Genau so war es auch. Nach einer Weile klopfte es leise an die Tür und noch bevor Marc antworten konnte, steckte sein Vater bereits den Kopf zur Tür herein.

   „Bist du noch wach?“, erkundigte er sich flüsternd in die Dunkelheit hinein.

   „Bemüh dich nicht. Ich bin wach“, antwortete Marc, der sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen konnte.

   John betätigte den Lichtschalter, blieb aber an der Tür stehen. „Können wir reden?"

   „Sicher, komm rein."

   Sein Vater kam näher und setzte sich zu ihm aufs Bett. „Okay, raus mit der Sprache. Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt? Was zum Teufel geht bloß in letzter Zeit in deinem Kopf vor? Du weißt doch ganz genau wie wichtig es für uns alle ist, dass wir diese Mittel bekommen. Möglichst schnell bekommen.“

   „Ja, ich weiß, Dad, aber wir werden sie nicht bekommen. Das weißt du genauso gut wie ich. Nicht von unserer Regierung. Wenn wir nicht schnell einen privaten Sponsor finden gehen wir mit Pauken und Trompeten unter. Sollte ich dir das vielleicht vor den Anderen sagen? Wo du sie doch gerade erst wieder motiviert hattest?"

   „Woher zum Teufel willst du das wissen? Wir werden erst mit Bestimmtheit wissen was auf uns zukommt, wenn wir es versucht haben.“

   Marc richtete sich auf und raufte sich die Haare. „Und? Wie weit willst du gehen, Dad? Wie sehr willst du dich erniedrigen? Willst du vielleicht vor ihnen niederknien und betteln? Sieh' doch endlich ein, dass der Regierungszug abgefahren ist. Das ist er spätestens seitdem der General aufgesprungen ist“, setzte er bitter hinzu.

   „Die Subventionen sind unsere einzige Chance. Ich muss sie beantragen“, beharrte John. „Oder hast du eine zündende Idee, woher wir auf die Schnelle einen privaten Sponsor zaubern sollen?“

   „Nein, so ad hoc nicht. Aber lass uns wenigstens versuchen, einen anderen Weg zu finden“, versuchte Marc seinem Vater Mut zu machen. „Alles ist besser, als denen in den Arsch zu kriechen.“

   „Und wie? Kannst du mir verraten wie das gehen soll?"

   „Noch nicht - aber ich werd' darüber nachdenken. Und mir wird etwas einfallen. Das garantiere ich dir. Bis dahin müssen wir nur noch ein wenig länger durchhalten. Nimm solange mein Collegegeld. Es reicht aus, um die erste Zeit zu überbrücken.“

   „Bist du verrückt geworden? Wovon willst du dann im nächsten Jahr studieren?"

   Marc wich den Blicken seines Vaters aus und fixierte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand. „Wer sagt denn, dass ich überhaupt studieren möchte?"

   „Quatsch. Natürlich wirst du studieren. Du weißt, dass deine Mutter und ich dieses Geld nie angerührt haben – ganz egal, wie schlecht es um die Station stand."

   „Ja, ich weiß, aber Dad, wenn hier alles den Bach runtergeht…“ Jetzt blickte Marc seinem Vater direkt in die Augen. „… kannst du mir einen Grund nennen, warum ich dann noch meinen Dr. med. oder Dr. vet. machen sollte? Ich kann den Sinn nicht erkennen."

   John schien ein Gedanke durch den Kopf zu schießen und er kniff forschend die Augen zusammen als er den Blick seines Sohnes erwiderte: „Du hast doch nicht etwa wieder Schulprobleme?"

   „Nein, keine Sorge, meine Leistungen sind okay. Aber das allein hilft uns momentan nicht weiter. Lass mich das Studium zurückstellen. Im Grunde brauche ich es doch gar nicht: Was ich wissen muss, um die Station am Laufen zu halten, weiß und kann ich."

   „Darüber wird nicht diskutiert“, blieb John unerbittlich hart.

   „Dad, bitte. Ich rede doch nur von zurückstellen. Später können wir ja dann immer noch weitersehen“, beschwor Marc seinen Vater. „Denk doch mal nach. Du könntest gleich morgen die Bestellung aufgeben und müsstest nicht darüber nachgrübeln, wie du sie bezahlen sollst.“

   John Gilbert stand abrupt auf. „Das Collegegeld wird nicht angerührt! Kommt nicht in Frage! Das ist mein letztes Wort! Verstanden?"

   „Großer Gott, wie kann man nur so verbohrt sein?!", schmiss Marc seinem Vater wütend an den Kopf und hämmerte unkontrolliert mit der Faust auf die Bettdecke. „Fuck!“

   „Ich gehe davon aus, dass du mich verstanden hast. Und was deine letzte Bemerkung angeht: Die ignoriere ich zu deinen Gunsten lieber. Gute Nacht."

   Die Tür fiel einen Tick lauter als es nötig gewesen wäre ins Schloss, was nur bewies, wie wütend und aufgewühlt John in diesem Augenblick war. Marc warf sich wieder auf den Rücken und starrte gegen die Decke. Plötzlich begannen seine Augen zu leuchten und ein Lächeln glitt über sein Gesicht:

   „Genau, das ist es! Dass ich nicht schon eher daran gedacht habe“, murmelte er leise vor sich hin. „Das könnte die Lösung aller Probleme sein.“

   Zufrieden mit sich löschte er das Licht und drehte sich auf die Seite.

 

7. Kapitel

 

   Zwei Wochen waren seit Suzannes erstem Schultag vergangen. Sie hatte sich gut in die Klassengemeinschaft eingefügt und es schien so als hätte sie ihren Platz neben Kimberly und den Anderen aus der Clique um Benjamin gefunden. Der gutaussehende, dunkelhaarige Ben schien sich sogar für sie zu interessieren, worum sie von einigen der anderen Mädchen insgeheim glühend beneidet wurde – den amerikanischen Mädchen wohlgemerkt.

   Das war bislang der einzige Punkt der Suzanne ein wenig aufstieß: Die Kluft zwischen den Einheimischen und den Jugendlichen von der Basis schien noch tiefer zu sein als sie ursprünglich angenommen hatte. Sie hätte durchaus nichts dagegen gehabt auch die afrikanischen Jugendlichen näher kennenzulernen, einen guten Kontakt zu ihnen aufzubauen und eventuell sogar Freunschaften zu schließen, doch beides – die amerikanische Clique und die Afrikaner - schien leider ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.

   Der einzige Amerikaner der ausschließlich Kontakt mit den Afrikanern pflegte war dieser Marc. Allerdings wurde er von Benjamin und den anderen aus der Clique auch immer nur geringschätzig als `der Eingeborene' bezeichnet. Suzanne hielt sich mit solchen Äußerungen zwar geflissentlich zurück, doch das alleine änderte nichts an der Situation, dass sie, seit der unerfreulichen Begegnung an ihrem ersten Schultag, kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt hatten.

   Suzanne gab die Hoffnung nicht auf, eines Tages die Kluft zwischen den beiden Parteien verringern zu können und genau aus diesem Grunde wollte sie unbedingt so bald wie möglich mit Marc reden. Irgendwie hatte sie das bestimmte Gefühl als sei das, was sie sich überlegt hatte, nur mit seiner Unterstützung durchführbar.

   An diesem Morgen passte sie ihn vor Schulbeginn auf dem Parkplatz ab als er wie üblich erst kurz vor Schulbeginn mit seinem Motorrad auf das Schulgelände gerast kam. Er ging derart hart in die Bremsen, dass der trockene Boden aufgewirbelt wurde, und kurzfristig die nähere Umgebung in einem staubigen Nebel einhüllte. Er parkte sein Motorrad, schloss es ab, schnappte sich seinen Rucksack und bewegte sich danach, ohne eine sichtbare Reaktion auf Suzannes Anwesenheit zu zeigen, zielstrebig auf das Schulgebäude zu.

   Kunststück, dachte sie und bekämpfte ihre aufkommende Missstimmung. Offensichtlich kam Marc nicht im Traum auf die Idee, dass sie hier auf ihn wartete, Woher auch? Wenn sie darüber nachdachte musste sie zugeben, dass der Gedanke durchaus abwegig war.

   Sie räusperte sich einmal kurz. „Ähm, wartest du mal? – Bitte."

   Sichtlich überrascht blieb er stehen und drehte sich um. „Meinst du mich?“, erkundigte er sich sicherheitshalber, während er sich noch einmal umschaute, ob nicht doch noch jemand anderes in der Nähe war, den sie hätte meinen können.

   „Ja, klar.“ Suzanne bewegte sich auf ihren Klassenkameraden zu und blieb dann, ein wenig verlegen, direkt vor ihm stehen. „Hallo.“

   Hallo.“

   Na, wenigstens antwortet er, dachte Suzanne im Stillen erleichtert. Sie war sich dessen gar nicht so sicher gewesen.

   Abwartend und, wie es schien, ein wenig misstrauisch ruhten Marcs braune Augen auf ihrem Gesicht. Vermutlich fragte er sich, was sie von ihm wollte … das war schließlich die logische Reaktion, wenn man von jemandem angesprochen wurde, mit dem man sonst nichts zu tun hatte. Suzanne suchte verzweifelt nach Worten und wusste plötzlich nicht mehr, wie sie ihr Anliegen am Besten vorbringen sollte. Dabei hatte sie sich beim Frühstück alles so schön zurechtgelegt. Doch jetzt war mit einem Mal alles wie weggefegt und ihr Kopf schien leer zu sein. Hinzu kam, dass seine prüfende Musterung sie unerwartet merkwürdig befangen machte.

   Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Marc – obwohl er nicht viel größer war als sie – aus der Nähe betrachtet plötzlich gar nicht mehr so schmächtig wirkte, wie er ihr bislang vorgekommen war. Dieser Eindruck entstand vermutlich durch die übergroßen, weiten Klamotten, die er immer trug. Jetzt, wo er direkt vor ihr stand, registrierte sie, dass er breite Schultern hatte und ziemlich muskulöse Oberarme. Überrascht stellte sie fest, dass er eigentlich sogar eine ziemlich gute Figur machte.

   „Was wird das hier?" Marc schien langsam ungeduldig zu werden. „Liegt irgendwas an, oder wolltest du vielleicht nur den weißen Eingeborenen ein bisschen anstarren?"

   Suzanne zuckte zusammen und fühlte sich ertappt. Schließlich hatte sie ihn tatsächlich angestarrt. Ziemlich ungeniert sogar. Kein Wunder, dass er sich verarscht vorkam.

   „Blödsinn", antwortete sie burschikos. „So schön bist du nicht."

   „Das beruhigt mich aber.“ Ein angedeutetes Grinsen huschte über seine Züge und brachte auf der linken Wange kurz ein Grübchen zum Vorschein. „Ich hatte schon Sorge, du bittest mich um ein Foto… Also, was willst du?"

   Suzanne gab sich einen Ruck. Das fehlte noch, dass sie sich hier lächerlich machte. „Na ja, es ist so: Wie du ja weißt bin ich neu hier und da wollte ich so eine Art Einstandsfete geben – bei mir zu Hause. Meine Mutter gibt zwar auch einen Empfang, um alle hier kennenzulernen und sich vorzustellen, aber solche Events sind immer stinklangweilig.“

   „Wenn du das sagst.“ Marc zuckte desinteressiert mit den Achseln.

   „Doch, ist so. Das kannst du mir glauben.“

   „Gut, okay, ich glaub´s dir.“ Marc verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und musterte Suzanne nun mit schiefgelegtem Kopf. „Ich versteh´ nur immer noch nicht so ganz, worauf du eigentlich hinaus willst.“

   „Na ja, ich dachte mir, ich stelle was Eigenes auf die Beine. Etwas, das eher für unsere Altersgruppe ist, verstehst du?" Verdammt, was stammele ich mir da eigentlich für einen Blödsinn zusammen, ärgerte sie sich gleich darauf über sich selber.

   Marcs Reaktion kam promt. „Ich bin weder blöd, noch zurückgeblieben", gab er jetzt unüberhörbar gereizt zur Antwort.

   „Sorry“, warf sie schnell entschuldigend ein. „Ich weiß ja.“

   „Schon gut. Aber eines verstehe ich trotzdem nicht: Was habe ich mit deiner Fete zu schaffen? Warum erzählst du ausgerechnet mir davon?"

   „Weil ich, genau wie meine Mutter, alle dazu einladen möchte. Und ich dachte ... na ja, du kennst die anderen schließlich viel besser als ich."

   Marcs Augenbrauen fuhren überrascht in die Höhe. „Du redest aber jetzt nicht von den Afrikanern, oder?“

   „Doch. Wenn ich alle sage, dann meine ich auch alle", antwortete Suzanne erleichtert. „Was ist? Wirst du mir helfen?"

   „Eine Idee deiner Mutter?", forschte Marc.

   „Nein! Es ist meine Idee! Wie kommst du darauf, dass…?“ Sie unterbrach sich und wischte mit der Hand durch die Luft. „Egal. Auf jeden Fall dachte ich, du könntest deine Freunde vielleicht eher als ich davon überzeugen, dass die Einladung kein Fake ist und dass ich es ernst meine. Was meinst du?“

   Suzannes Mut sank, denn in Marcs Augen war jetzt unverhohlener Spott zu lesen.

   „Du hältst dich wohl für sehr clever", stellte er trocken fest. „Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber deine Idee ist Scheiße.“

   „Ach ja, findest du? Ich bin da ganz anderer Ansicht", antwortete sie und konnte selber hören, wie trotzig sie klang. Beinahe hätte sie mit dem Fuß aufgestampft, um ihre Absicht zu unterstreichen, konnte sich jedoch Gott sei Dank im letzten Augenblick beherrschen. „Was spricht dagegen?“

   „Nun, wenn du mich schon so fragst, so ziemlich alles.“ Marc strich sich die langen Haare aus der Stirn und dachte einen Moment lang nach, bevor er schließlich weitersprach. „Eins würde mich interessieren: Was halten deine Freunde von dieser revolutionären Idee? Benjamin zum Beispiel?“

   „Es ist meine Idee und meine Party – nicht Bens!" Wieder klang der Trotz in ihrer Stimme durch. „Ich entscheide, wen ich einlade. – Also: Was ist nun? Kann ich mit deiner Hilfe rechnen oder nicht?" Ihre Stimmlage, ihre Gestik, ja, ihre ganze Körperhaltung drückte die Leidenschaft aus, mit der sie ihre Idee verteidigte und es schien als könnte sie Marc damit tatsächlich überzeugen. Auf jeden Fall schien seine Ablehnung ins Wanken zu geraten, wie sie befriedigt feststellte.

   „Ich glaube fast, du meinst es wirklich ernst." Der Spott war jetzt gänzlich aus seinen Augen verschwunden und hatte stattdessen einem etwas ungläubigen Staunen Platz gemacht.

   „Suzie?", rief Ben von der Eingangstür zum Schulgebäude her zu ihnen rüber. „Was treibst du denn da? Kommst du?"

   „Moment noch", antwortete sie ihm über die Schulter hinweg. Dass Marc aufgrund ihrer Reaktion erneut überrascht eine Augenbraue hochzog, registrierte sie sehr wohl und es machte ihr Mut. „Also?", forderte sie abermals eine Antwort von Marc. „Wie sieht´s aus? Kann ich mit dir rechnen?“

   „Okay. Gut, ich werd´ drüber nachdenken“, versprach er nach kurzem Zögern.

   „Bitte“, sagte sie flehentlich.

   „Eine Frage noch: Warum kommst du damit ausgerechnet zu mir?“

   „Na, weil sie dir glauben werden“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen und musste über sich selber lächeln. „Ihr seid Freunde. Sie vertrauen dir. Wenn ich mit der Idee zu ihnen käme, würden sie sicher denken, dass… „ Sie unterbrach sich. „Du weißt schon… Komm schon, ich mag nicht betteln. Ich versuche doch bloß, hier ein bisschen Normalität reinzubringen.“

   Als Marc jedoch hartnäckig schwieg, gab sie schließlich resigniert auf: „Okay, okay, ich hab´ verstanden. Du hast vermutlich recht: War `ne blöde Idee von mir. Vergiss es.“ Sie winkte ihrer Clique zu, die immer noch beim Haupteingang auf sie wartete, und setzte sich in Bewegung.

   „Hey.“ Marc griff nach ihrem Arm. „Nun warte doch mal.“

   Suzanne blieb stehen, drehte sich um und warf Marc einen fragenden Blick zu. „Was?“

   „Du hast gewonnen“, teilte er ihr ruhig mit. „Ich werd' mit den anderen drüber reden."

   „Gut.“ Sie freute sich aufrichtig. „Danke dir.“

   „Freu´ dich nicht zu früh. Ich kann nichts versprechen."

   „Das verlangt ja auch niemand von dir. Aber ohne deine Unterstützung stünde ich von vorneherein auf verlorenem Posten. So gibt´s wenigstens `ne Chance."

   Marc ließ ihren Arm los, stopfte die Hände tief in die Hosentaschen seiner weiten Cargo-Shorts und schlenderte neben Suzanne her langsam auf das Schulgebäude zu. „Darf ich noch was zu dem Thema sagen?", erkundigte er sich nach einigen Metern leise.

   „Klar.“

   „Also, ehrlich gesagt finde ich die Idee gar nicht so blöd“, gestand er und blickte sie forschend von der Seite her an. „Ich meine, was kann schon groß passieren? Das Schlimmste, was passieren kann ist, dass es schiefgeht und alles beim Alten bleibt.“

   „Schon richtig“, stimmte sie ihm zu. „Aber wenn du mir hilfst wird es nicht schiefgehen. Mir würden deine Freunde sicher nicht glauben. Vermutlich würden sie denken, ich wolle sie verarschen, oder so was.“

   Wieder grinste er flüchtig. „Oder sowas..."

   „Ja, genau."

   „Woher willst du wissen, dass ich das nicht auch denke“, gab er zu bedenken. „Ich kenn´ dich nicht. Warum sollte ich dir vertrauen?“

   „Ich weiß nicht.“ Suzanne blieb wieder stehen und sah ihm nun gerade und offen ins Gesicht. „Die Entscheidung, ob du mir glaubst, oder nicht, die kann dir niemand abnehmen.“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf, bevor sie fortfuhr. „Okay, Erklärungsversuch: Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass ich bis vor kurzem auf einem Schweizer Internat war und vorher noch nie eine öffentliche Schule besucht habe. Keine Ahnung, vielleicht bin ich ja deswegen ein bisschen weltfremd und zugegeben, ja, es war ein Elite-Internat, aber nichts desto trotz gibt es dort Schüler aus zig verschiedenen Nationen und auch Rassen. Wenn ich dort eins gelernt hab´, dann, dass es völlig gleichgültig ist, welcher Rasse oder auch welchem Glauben man angehört. Es geht alleine um den Menschen. Ich hab´ mich darauf gefreut, endlich einmal so was wie Normalität erleben zu dürfen und ich war gespannt auf das, was mich hier erwartet. Und dann … erlebe ich so was. Diese scheiß vergiftete Atmosphäre. Ich fass´ es einfach nicht! Diese ganze Stimmung hier ist doch krank! Ich dachte, du und ich, wir könnten vielleicht so was wie Verbündete werden. Gleichgesinnte, die ein Ziel verfolgen. Aber wenn noch nicht einmal du dazu bereit bist, gewisse Risiken einzugehen, um die Situation hier vielleicht langfristig zu entkrampfen…“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „…dann weiß ich auch nicht weiter. Es tut mir leid, wenn ich dich mit meinen obskuren Ideen belästigt haben sollte, aber womöglich hab´ ich dich ja nur überfallen und dur denkst noch mal drüber nach.“

   Ein wenig atemlos beendete Suzanne ihre flammende Ansprache und fiel anschließend unversehends in einen leichten Dauerlauf, um Marc die Gelegenheit zur Antwort zu nehmen. Sie wusste sehr gut, dass seine Blicke ihr folgten, denn sie spürte sie förmlich in ihrem Rücken. Was sie allerdings nicht wusste war, ob sie mit ihren Worten etwas bei ihm bewirkt hatte. Das würde sich erst später zeigen. Bis dahin konnte sie nur hoffen.

 

8. Kapitel

 

 

 

   „Hey, nett, dass ihr auf mich gewartet habt“, begrüßte Suzanne Kimberly und den Rest der Clique, als sie den Haupteingang erreichte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. „Was ist? Gehen wir rein?“

 

   „Was hattest du denn mit dem zu schaffen?" Ben warf einen misstrauischen Blick nach hinten, wo Marc langsam näher schlenderte.

 

   Ich wusste ja gar nicht, dass ich dir Rechenschaft schuldig bin", antwortete Suzanne unschuldig und betrat noch vor Ben das Schulgebäude. „Nun kommt schon", forderte sie die anderen auf. „Ich hab´ keinen Bock, zu spät zu kommen."

 

   Ben bedeutete den Anderen mit einer Kopfbewegung ihr zu folgen und setzte sich selber, offensichtlich immer noch verwirrt über das soeben beobachtete, in Bewegung. „Nun sag schon: Was war los?", bohrte er sofort wieder nach, als er Suzanne eingeholt und mit ihr auf einer Höhe war. „Hör zu, sag Bescheid, wenn der dir blöd kommt, dann…“

 

   Suzanne verdrehte die Augen. „Benjamin, bitte hör´ auf mit dem Mist. Nichts war los. Aber bitte: Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe Marc lediglich darum gebeten, seine Freunde davon zu überzeugen, dass die Einladung zu meiner Fete kein Fake ist", ließ sie dann im Weitergehen ganz beiläufig die Bombe platzen.

 

   Da Ben und die anderen ihre Einladungen schon vor vier Tagen erhalten hatte, wusste er sofort, worüber sie sprach. Entgeistert blieb er mitten im Flur stehen. „Du machst Scherze, oder?“ Seine Stimmlage machte deutlich, was er davon hielt.

 

   „Nicht im geringsten“, verkündete Suzanne ungerührt und amüsierte sich innerlich über Ben, dessen ehrliches Entsetzen so offenkundig war, dass es schon fast wieder komisch wirkte.

 

   „Komm schon, das kannst du nicht bringen.“

 

   „Warum nicht? Ich kann einladen, wen ich möchte. Außerdem bin ich die Tochter der Botschafterin. In der Position ist es auch ein politischer Aspekt, niemanden vor den Kopf zu stoßen", änderte sie ihre Taktik und versuchte es jetzt durch die Hintertür. Schießlich wollte sie die Clique um Ben nicht verprellen. Ganz im Gegenteil: Gerade sie mussten unbedingt kommen. Sie brauchte beide Lager vor Ort, damit ihr Plan aufgehen konnte. Suzanne beobachtete mit Genugtuung, wie Ben nach ihren Worten ins Schleudern geriet. Doch noch gab er sich nicht geschlagen.

 

   „Das ist ja alles gut und schön, aber ich bezweifle sehr, dass die anderen von deiner großmütigen Idee angetan sind. – Bitte sei nicht enttäuscht, aber ich könnte mir sogar vorstellen, dass der Eine oder Andere einen Rückzieher macht und gar nicht erst kommt.“

 

   „Das täte mir ehrlich leid. – Aber du, was ist mit dir? Du kommst doch ganz sicher, oder?" Sie blickte Ben treuherzig an. „Bitte. Mach keinen Rückzieher. Lass mich nicht hängen.“

 

   „Na ja..." Ben wand sich wie ein Aal. Suzanne vermutete nicht ganz zu Unrecht, dass er sich diesen Event selbstverständlich nicht entgehen lassen wollte. Die Möglichkeiten zum Feiern hier draußen waren begrenzt. Selbst, wenn sie ihn mit ihrer Ankündigung verärgert hatte. Er würde kommen und mit ihm auch der Rest der Clique. Vermutlich überlegte er gerade, wie er es am elegantesten hinbekam, dass er nicht sein Gesicht verlor. Im nächsten Augenblick bekam sie die Bestätigung.

 

   „Mach dir keine Sorgen. Natürlich werde ich kommen und Kimberly und den Rest werde ich auch überzeugen. Freunde lassen einander nicht hängen. Mit den `Anderen´ meinte ich die Eingeborenen. Ich vermute, dass sie nicht kommen werden."

 

   Ha! Innerlich frohlockte Suzanne. Ben hatte sie am Wickel. Ihre Taktik hatte sogar besser funktioniert als erwartet. Nach seinen Worten konnte er ihr noch nicht einmal mehr aus ihrem Gespräch mit Marc einen Strick drehen. „Siehst du, und genau aus diesem Grund habe ich mit Marc geredet. Du überzeugst die Clique und er wird die Einheimischen überzeugen", sagte sie zuversichtlich, lächelte Ben noch einmal gewinnend an und betrat vor ihm den Klassenraum.

 

 

 

   Für die nächsten zwei Stunden wurde das Thema zwangsläufig auf Eis gelegt, aber schon in der nächsten Pause ging es wieder los. Marc beobachtete aus der Ferne sehr genau wie die ganze Clique um Ben eindringlich auf ihre neue Freundin einredete. Er versuchte anhand von Suzannes Reaktionen und ihrer Mimik – soweit diese aus der Ferne zu erkennen war – ihre Antworten zu deuten. Zu seinem allergrößten Ärger funktionierte dies leider nicht so gut wie erhofft. Gerade als er überlegte, ob er seinen Beobachtungsposten mehr in die Nähe der Gruppe verlegen sollte, registrierte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung an seiner linken Seite.

 

   Er drehte den Kopf in Richtung des unwillkommenen Besuchers und erkannte seinen Freund Tom, den Sohn des Bürgermeisters. Der folgte neugierig den Blicken seines Freundes.

 

   „Was geht denn da ab?“

 

   „Nichts Besonderes.“ Marc gab sich einsilbig und richtete seinen Blick wieder nach vorn.

 

   „Oh, doch. Ich denke schon.“ Tom grinste breit und zwei Reihen weißer Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht auf. „Es muss schon was Besonderes sein, wenn es dich so beschäftigt, dass du den Feind ausspannst.“

 

   „Hey!“ Marc knuffte seinen Freund den Ellbogen in die Seite. „Ich spanne nicht.“

 

   „Normalerweise nicht, aber jetzt gerade schon“, konterte Tom ungerührt. „Also los, raus mit der Sprache.“

 

   Marc seufzte tief und gab nach. „Okay, du gibst ja doch keine Ruhe.“ Er berichtete seinem besten Freund von Suzanne´s überraschender Einladung und ihrer Bitte, ihn bei ihrem Vorhaben zu unterstützen. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich davon halten soll", schloss er schließlich.

 

   Tom richtete nun ebenfalls wieder seinen Blick auf die Szene die sich ein Stück entfernt abspielte. „Ihre Mutter scheint `ne ganz vernünftige Frau zu sein", verkündete er dann plötzlich völlig unvermittelt. „Sie war ein paar Mal bei uns zu Hause, um mit meinem Vater zu reden. Da hab´ ich sie kennengelernt.“

 

   „Ah ja? Und was willst du damit andeuten? Wie die Mutter, so die Tochter, oder was?“

 

   Sein Freund zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung, aber könnte doch immerhin sein.“

 

   „Okay, das heißt, du kaufst ihr also ab, dass sie es ernst meint?", wollte Marc wissen.

 

   „Hm…“ Tom wackelte bedächtig mit dem Kopf. „Das habe ich nicht gesagt.“

 

   „Meine Güte! Du bist mir wirklich `ne grosse Hilfe", reagierte Marc säuerlich. „Was denn nun?“

 

   „Ich meine nur, dass wir ihr vielleicht fair sein und ihr `ne Chance geben sollten. Danach werden wir auf jeden Fall klarer sehen. Und wenn sie´s verbockt…“ Er zuckte wieder mit den schmalen Schultern. „Dann wissen wir wenigstens woran wir bei ihr sind und könnten sie beruhigt und ohne schlechtes Gewissen in den Wind schießen.“

 

   „Ja … ja, vielleicht hast du Recht", antwortete Marc, immer noch voller Zweifel. Der Gedanke hatte definitiv was für sich.

 

   „Natürlich hab´ ich Recht – ich bin schließlich ein schlaues Kerlchen.“ Über das ganze Gesicht grinsend packte Tom Marc am Arm. „Na los, komm, es klingelt. Unsere Privilegien reichen nicht aus, um einen Eintrag wegen Verspätung aus dem Weg zu schaffen.“

 

 

 

   Mehr zufällig traf Marc nach Schulschluss beim Verlassen des Gebäudes noch einmal auf Suzanne. Sie stand in der Nähe seines Motorrades und  wartete offensichtlich auf ihren Chauffeur. Er schlenderte an ihr vorbei zu seiner Kiste.

 

   „Und?", sprach sie ihn prompt wieder an, als er mit ihr auf gleicher Höhe war. „Wie sieht´s aus? Hast du schon über meine Bitte nachgedacht?"

 

   Eigentlich hatte er vorgehabt wie so oft schweigend an ihr vorbeizugehen, doch ihre Frage amüsierte ihn und so blieb er eher widerwillig stehen und drehte sich um.

 

   „Ich hatte Unterricht“, erinnerte er sie. „Ich weiß ja nicht, wie das in der Schweiz so läuft, aber hierzulande sollte man dabei seine Konzentration auf den Unterricht lenken und sich nicht mit den Bitten oder Problemen irgendwelcher anderen Leute beschäftigen.“

 

   „Wow, ich wusste ja gar nicht, dass du in so langen Sätzen sprechen kannst“, stichelte Suzanne. „Das erfordert bestimmt viel Konzentration.“

 

   Marc stutzte, doch ein schneller Blick in ihr Gesicht zeigte ihm, dass die Bemerkung wohl nicht gehässig gemeint war. Ein Lächeln spielte um Suzannes Mundwinkel und ihre blauen Augen blitzten fröhlich.

 

   „Geduld gehört wohl nicht zu deinen Stärken“, schmunzelte er.

 

   „Geduld ist was für Weicheier. Das Leben ist zu kurz für Geduld“, verkündete Suzanne im Brustton der Überzeugung. „Also? Was ist?“

 

   „Ich hätte da noch eine Frage."

 

   „Noch eine? Ich dachte zwar, ich hätte mich klar ausgedrückt, aber okay. Bitte."

 

   „Deine Mutter – ist das ihre Bedingung für deine Fete?“

 

   Von einer Sekunde zur anderen verdunkelten sich Suzannes blaue Augen. „Das hast du heute Morgen schon mal gefragt“, sagte sie kurz.

 

   „Nicht direkt, aber so ähnlich, ja. Sorry, aber ich werde den Gedanken einfach nicht los, dass deine Mutter dahintersteckt. Sie tut es – alle einladen, meine ich – und nun verlangt sie, dass du das Gleiche tust. Dass du dir ihre Pläne zu Eigen machst. Wäre doch eigentlich logisch, oder?“

 

   „Es ist meine Fete“, antwortete Suzanne, wobei sie jede einzelne Silbe betonte und ihm direkt in die Augen blickte.

 

   „Mag ja sein. Trotzdem könnte es doch sein, dass deine Mutter Einfluss darauf nimmt“, erwiderte Marc und hielt dem direkten Blickkontakt stand.

 

   „Okay, es reicht! Schon gut.“ Ehrlich entrüstet blickte Suzanne ihn an. „Konzentrier dich ein letztes Mal und hör mir gut zu: Das würde meine Mutter nie tun. Niemals würde sie versuchen, sich derartig in mein Leben einzumischen! Ich hab´ heute Morgen versucht, dir meine Beweggründe zu erklären, aber du willst sie offensichtlich nicht verstehen.“

 

   „Ich versuche doch nur…“

 

   Sie hob eine Hand und unterbrach ihn. „Nein, stopp. Lass gut sein. Weißt du was? Vergiss es. Ich werde mir jemand anderen suchen, der mir hilft."

 

   Damit ließ sie ihn zum zweiten Mal an diesem Tag stehen. Sprachlos beobachtete Marc wie Suzanne ihm grußlos den Rücken zukehrte und mit schnellen Schritten dem Ausgang des Schulgeländes zustrebte. Er zuckte förmlich zusammen als plötzlich Toms Stimme neben ihm erklang.

 

   „Hm… ich würde sagen, jetzt hat sie einen gut, was das verbocken angeht, nicht wahr?“

 

   „Ach, Scheiße“, murmelte Marc und setzte sich langsam in Bewegung.

 

   Tom trabte neben ihm her. „Ich sag´ dazu nur eins: Du hast die Wahl. Du weißt, wie du das wieder gerade rücken kannst.“

 

   „Was? Du glaubst, ich habe die Wahl? Bist du jetzt komplett verrückt geworden? Was ist denn das für eine Wahl? Wenn ich tue was die Neue will – was ich vielleicht tun sollte, denn immerhin will mein Vater ja die Subventionen und da könnte es durchaus von Vorteil sein, wenn ich der Tochter der Botschafterin einen Gefallen tue – bringe ich definitiv Benjamin McAllister und seine Anhänger gegen mich auf. Tolle Alternative.“

 

9. Kapitel

 

   Später am Nachmittag machte Suzanne sich noch einmal auf den Weg in die Stadt. Sie war zu Fuß unterwegs, denn sie arbeitete nach wie vor  immer noch an der Umsetzung ihres Plans, sich ein Fahrrad zu organisieren. Leider bislang ziemlich erfolglos. Es schien als gäbe es in der gesamten näheren Umgebung nicht einen einzigen funktionstüchtigen Drahtesel.

   Es ärgerte sie maßlos, dass Gregory sie nach wie vor jeden Morgen mit der Limousine zur Schule bringen musste, doch in diesem Punkt ließ ihre Mutter leider überhaupt nicht mit sich reden. Sie war der festen Überzeugung, dass die Schule, die ja in der Nähe der Basis lag, schlicht zu weit entfernt von der Stadt war; insbesondere da ein Teil der Strecke ab dem äußeren Stadtrand ziemlich unwegsam und unübersichtlich war. Suzanne seufzte. Wenn es nach ihrer Mutter gegangen wäre, dürfte sie noch nicht einmal alleine in die Stadt gehen, doch wenigstens was das anging hatte Suzanne sich inzwischen durchsetzen können.

   Heute hatte sie sich einmal mehr auf den Weg gemacht und sie war fest entschlossen, dieses Mal mehr Erfolg zu haben. Nach den unerfreulichen, frustrierenden Diskussionen mit Marc in der Schule brauchte sie einfach ein Erfolgserlebnis. Dringend. Ohne ein Rad, bzw. einen brauchbaren Tipp, an wen sie sich diesbezüglich wenden konnte, würde sie nicht wieder heimgehen, soviel stand fest.

   Zugegeben, am Anfang war sie vielleicht etwas naiv an ihr Vorhaben herangegangen, aber trotzdem musste es doch auch hier, in der Wildnis, möglich sein, irgendwoher ein Fahrrad zu bekommen. Als Stadtkind war sie es gewohnt, dass man über das Internet im Zweifelsfall alles bekommen konnte. Wenn nötig sogar per Expresslieferung binnen 24 Stunden.

   Nicht im Traum hatte sie damit gerechnet, dass das World Wide Web ihren neuen Wohnort leider noch nicht erobert hatte. Hier verließ man sich noch auf den guten alten Funkverkehr. Sie hatte zwar von ihrer Mutter erfahren, dass es Überlegungen dahingehend gab, zumindest die Botschaft und das Hauptquartier der Basis mit entsprechender Technik auszustatten, doch noch wurde darum gestritten, ob sich das überhaupt lohnte und wer die dafür notwendigen Ausgaben finanzieren sollte. Es stand also in den Sternen, ob es überhaupt dazu kommen würde und im Augenblick halfen ihr diese Überlegungen dummerweise nicht die Bohne. Wenn alle Stricke rissen und sie nicht bald einen fahrbaren Untersatz fand, würde sie Gregory wohl doch noch bei seinem nächsten Ausflug in die Kreisstadt begleiten müssen. Der Haken an diesem Plan war, dass Gregory sich – aufgrund der großen Entfernung – meistens schon vormittags auf den Weg dorthin machte. Zu einer Zeit, wo sie noch in der Schule hockte. Was letztlich blaumachen bedeutete. Eine Option auf die ihre Mutter sicherlich nicht sehr begeistert reagieren würde. Sollte es herauskommen. Um Gregorys Verschwiegenheit machte sie sich keine Sorgen, trotzdem … die Gefahr war nicht zu unterschätzen und eigentlich wollte sie Ärger vermeiden.

   Ziellos stromerte Suzanne durch die staubigen Straßen und klapperte zum wiederholten Male die wenigen an der Hauptstraße gelegenen Läden ab. Doch dieses Mal unterhielt sie sich ausführlich mit den Inhabern in der Hoffnung, dass irgendjemand einen Tipp für sie hätte. Eine Adresse, eine Telefonnummer, irgendetwas. Was sie bekam war … Nichts. Es war mehr als frustrierend. Trotz der Misserfolge ließ Suzanne sich nicht entmutigen und schlenderte langsam weiter. Dabei blickte sie aufmerksam in jeden Vorgarten und jede sich auftuende Ecke hinein. Die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte sie während sie spürte, wie ihre Enttäuschung von Minute zu Minute wuchs.

   Sie war so in sich versunken, dass sie kaum noch etwas von dem mitbekam, was um sie herum vorging. Ohne auf die Straße zu achten, änderte sie abrupt die Richtung und erst als sie jemand hart am Arm packte und hastig zur Seite zerrte, realisierte sie, dass sie einen entgegen kommenden klapprigen Pick Up fast übersehen hätte. Der Fahrer hupte wütend und tippte sich mehrfach vielsagend gegen die Stirn, bevor er samt seinem Wagen in einer Staubwolke verschwand. Erschrocken stieß Suzanne den unwillkürlich angehaltenen Atem aus. „Puh.“

   „Ja, das war verdammt knapp“, erklang neben ihr eine tiefe Stimme. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“

   Suzanne blickte zur Seite und erkannte Marcs Freund, der sie nicht minder erschrocken anblickte. „Hallo", begrüßte sie ihren Klassenkameraden freundlich. „Ja, das war es allerdings. Danke. Ich hab´ den echt komplett übersehen. Tom, richtig?“

   Sie hatten in der Schule zwar so gut wie keinen Kontakt, aber Suzanne hatte ihr Gegenüber trotzdem direkt erkannt. Im Gegensatz zu Ben fand sie nämlich nicht, dass alle Afrikaner gleich aussähen. Ben wurde nicht müde, seine Ansicht zu betonen und die Art und Weise, wie er das immer so verächtlich sagte, störte Suzanne immens, doch bislang hatte sie dazu geschwiegen. Was ihren farbigen Klassenkameraden anging, so war ihr aufgefallen, dass er viel Zeit in Marcs Nähe verbrachte. Die beiden schienen gut befreundet zu sein.

   „Ja. Hallo … und Entschuldigung." Tom wich augenscheinlich überrascht zurück und machte Anstalten, seinen Weg ohne ein weiteres Wort fortzusetzen.

   Suzanne nahm ihm sein merkwürdiges Verhalten nicht übel. Schließlich wusste sie inzwischen, dass die Afrikaner von den Amerikanern geflissentlich übersehen wurden. Sowohl in der Schule, wie auch wenn man sich nachmittags zufällig begegnete. Aber sie war nicht wie Alle. Eine Tatsache, die Tom offensichtlich noch nicht bekannt war. Kunststück. Woher auch? „Hey. Warte mal", rief sie eilig und folgte ihrem Klassenkameraden, der schon wieder einige Meter zwischen sie gelegt hatte.

   Tom blieb zögernd stehen und blickte sich suchend um. „Meinst du mich?", erkundigte er sich.

   Toms offensichtliche Unsicherheit ließ Suzanne lächeln. „Sicher, wen sollte ich denn sonst meinen? Oder siehst du hier vielleicht noch Jemanden?“ Sie tat ganz bewusst so, als wisse sie nicht warum Tom so reagierte und redete schnell weiter, um ihm sein Misstrauen zu nehmen. „Wieso entschuldigst du dich bei mir? Ich bin schließlich die, die nicht aufgepasst hat.“

   Tom blickte sie aus großen Augen an: „Fragst du das im Ernst? Ich hab´ dich angefasst. Wenn das Ben oder einer der Anderen von der Basis mitbekommen hätte, dann hätte´ ich jetzt `ne Menge Probleme am Hals.“

   „Aber das ist doch Bullshit“, rief Suzanne aus. „Ohne dein Eingreifen wäre ich glatt überfahren wurden.“

   Tom stopfte die Hände in die Taschen seiner abgeschnittenen Jeans und zuckte schweigend mit den Achseln. Dabei blickte er zu Boden und fühlte sich offensichtlich sehr unwohl.

   Suzanne beschloss das Thema zu wechseln, bevor Tom sich noch dazu entschloss, einfach weiter zu ziehen. „Okay, verstehe. Lassen wir das Thema. Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich dich treffe. Ich bräuchte mal `nen Insidertipp. Ich bin jetzt schon seit Wochen auf der Suche nach einem Fahrrad, aber es gelingt mir leider nicht, eins auftreiben.“

   „Ein … Du willst ein Fahrrad?" Tom riss die Augen weit auf. „Ernsthaft?“

   „Warum fragst du das immer? Ja, ich möchte ein Fahrrad. Ich finde es total lächerlich andauernd mit Chauffeur vor der Schule vorzufahren. Du nicht auch?"

   Weiße Zähne blitzten auf als Tom, immer noch deutlich verunsichert, kurz lächelte. „Ja. Schon... Ein wenig."

   „Siehst du. Meine Mutter weigert sich, mich zu Fuß gehen zu lassen und genau deswegen brauche ich schnellstens ein Fahrrad."

   Toms Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit schienen zu schwinden. Endlich. „Aber ein Fahrrad wäre für sie in Ordnung?“, erkundigte er sich leise.

   Suzanne zuckte mit den Achseln. „Mütter“, antwortete sie in einem Tonfall, der alles zu erklären schien und der Tom erneut ein scheues Lächeln abrang.

   „Gut, also dann. Wenn du wirklich ein Rad suchst - bei uns im Schuppen steht noch so ein altes Vehikel rum.“

   „Wie? Echt jetzt?"

   „Ja. Ist zwar ein Herrenrad und sieht, so weit ich mich erinnere, auch ziemlich mitgenommen aus, aber hier in der Gegend ist die Auswahl nicht gerade groß, wie du vermutlich schon bemerkt hast."

   „Allerdings", stöhnte Suzanne. „Ich hab' schon alles abgegrast. Mehrfach. Brauchst du das Rad denn nicht mehr? Oder jemand anders aus deiner Familie?"

   „Ich konnte kürzlich einen alten Lieferwagen ergattern und der Rest meiner Familie … Nein. – Wenn du willst kannst du ja kurz mitkommen und es dir ansehen", schloss er plötzlich wieder unsicher werdend.

   „Gerne", antwortete Suzanne, aufrichtig erfreut. „Jetzt gleich?"

   „Wenn du Zeit hast..."

   „Klar. Gehen wir."

   Gemeinsam gingen die beiden Jugendlichen einträchtig nebeneinander die staubige Strasse entlang. Das Gespräch verebbte zwar aber Suzanne fühlte sich trotzdem ziemlich erleichtert. Der Nachmittag war besser gelaufen als erwartet. Sie bekam ein Fahrrad und zusätzlich hatte sich ihr überraschend die Möglichkeit einer ersten richtigen Kontaktaufnahme mit den Einheimischen getan. Wenn sie jetzt noch irgendwie herausbekommen könnte, ob Marc womöglich doch schon mit Tom und den anderen geredet hatte, könnte es auf ein `Perfekt´ hinauslaufen. Aber vermutlich war es nicht sehr clever direkt mit der Tür ins Haus zu fallen. Nicht, dass sie womöglich durch ihr Vorpreschen Toms gerade eingeschlafenes Misstrauen wieder weckte.

   Tief in ihre Gedanken versunken blies Suzanne die Wangen auf. Marc hatte recht mit seiner Einschätzung gehabt. Geduld gehörte wirklich nicht zu ihren Tugenden, aber dieses Mal würde sie sich zusammenreißen. Vorläufig. Tom hatte ihre Mimik offenbar bemerkt und deutete sie prompt falsch.

   „Was ist? Hast du es dir anders überlegt?“

   „Nein! Nein, um Gottes Willen. Ich möchte das Rad. Unbedingt. Ehrlich.“

   „Gut“, antwortete er ruhig. „Wir sind da. Da vorne wohne ich.“

   Tom wies auf ein kleines, zweistöckiges gepflegtes Haus am Stadtrand, das genausogut in einer amerikanischen Kleinstadt hätte stehen können Sogar der weiße Lattenzaun zur Abgrenzung der Grundstücksgrenze war vorhanden. Lediglich der Vorgarten ließ ein wenig zu wünschen übrig, was aber wohl eher der Wasserknappheit in der Region geschuldet war. Das Haus war größer als die meisten anderen in der Stadt, strahlte aber auf den ersten Blick eine gewisse Gemütlichkeit aus. Auf der überdachten Vorterrasse war schon aus der Ferne eine Hollywoodschaukel zu sehen. Direkt neben den vier Stufen, die hoch auf die Terrasse und zur Eingangstür führten stand ein weiß lackierter Holzschaukelstuhl. Beim Näherkommen erkannte Suzanne darin sitzend eine zierliche, grauhaarige ältere Dame in Landestracht. Die runzeligen Hände lagen in ihrem Schoß gefaltet und ihr Kopf war nach rechts auf die Schulter geneigt.

   „Meine Großmutter“, erklärte Tom. „Sie sitzt gerne hier draußen und hat alles im Blick. Meistens schläft sie allerdings auf ihrem Beobachtungsposten ein – wie man sieht“, setzte er nachsichtig schmunzelnd hinzu.

   „Ah, okay. Jedem das Seine“, antwortete Suzanne etwas abwesend, während sie mit großen Augen die Szenerie auf sich wirken ließ.

   „Was hast du erwartet?“, fragte Tom, der sie nicht aus den Augen ließ, plötzlich. „Eine Lehmhütte oder eine Art Wigwam?“

   Suzanne kicherte leise. „Gott, nein. Das sicher nicht. Aber … Ach, ich weiß auch nicht.“ Plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Hey, ich weiß. Dein Vater ist der Bürgermeister, richtig? Meine Mutter hat mir von dem Haus erzählt. Sie war ein  paar Mal hier. Sie findet es sehr hübsch und ich muss ihr recht geben."

   „Na ja", grinste Tom und zeigte dabei wieder seine weißen Zähne. „Meine Mutter ist ziemlich stolz auf das Haus. Und mein Vater ist der Ansicht, dass der Bürgermeister sich wenigstens irgendwie abheben sollte – und wenn es nur durch das Haus ist. Du bist da sicher anderes gewöhnt. Größer. Schöner.“

   „Ja, schon, aber darauf kommt es doch nicht an. Allerdings hab´ ich gehört, dass dein Vater ein kluger und wichtiger Mann ist. Er wird respektiert. Das spricht für ihn. Ich finde, alleine darauf kommt es an – nicht auf das Haus in dem er wohnt."

   „Wer sagt denn sowas?"

   „Meine Mutter. Wie gesagt, die beiden kennen sich."

   „Ich weiß. Ich hab´ deine Mutter auch letztens kurz kennengelernt. – Komm, wir gehen direkt hinten rum. Das Rad steht im Schuppen.“

   Suzanne folgte Tom hinter das Haus und beobachtete stumm, wie er zielstrebig einen Holzschuppen zuging, ihn öffnete und darin verschwand. Es dauerte einen Moment bis er schließlich mit einem uralten, ziemlich angerosteten Fahrrad an seiner Seite wieder heraus kam.

   „Das ist es“, sagte er entschuldigend. „Ich sagte ja schon, dass es nicht mehr besonders schön ist, aber so schlimm hatte ich es nicht in Erinnerung. Die Reifen scheinen aber in Ordnung zu sein; nur ein wenig Luft könnt´ nicht schaden.“ Tom wirkte richtiggehend zerknirscht. „Tut mir leid.“

   „Das braucht es nicht. Ich nehme es. Wieviel willst du dafür haben?"

   Ihr Klassenkamerad hob abwehrend eine Hand. „Um Gottes Willen! Nimm es einfach mit. Mein Vater wird begeistert sein, wenn es endlich aus seinem Schuppen verschwindet."

   „Nein, das geht nicht. Ich möchte es bezahlen. 20 Dollar? Reicht das? Ich glaub´, mehr hab´ ich grad nicht bei mir.“

   „Selbst das ist noch viel zu viel für die Rostlaube. Nein, hör zu…“

   „Nein, warte kurz.“ Suzanne wühlte bereits in ihrem Rucksack herum und nachdem sie ihre Geldbörse gefunden hatte, drückte sie Tom schnell zwei Zehner in die Hand. „Hier, nimm, ist schon in Ordnung. Ehrlich", fügte sie hinzu als Tom immer noch zögerte, das Geld anzunehmen. „Ich bin dir sehr dankbar. Und Gregory wird sich bestimmt ein Loch in den Bauch freuen.“

   „Wer ist Gregory", fragte Tom verständnislos.

   „Unser Chauffeur", lachte Suzanne. „Klingt hochtrabender als es ist. Eigentlich ist er mehr so eine Art Mädchen für alles und im Laufe der Jahre fast zum Familienmitglied geworden. Auf jeden Fall dürfte es ihm sehr entgegenkommen, wenn er mich nicht mehr jeden Tag fahren muss." Sie nahm das Fahrrad von Tom entgegen, bückte sich leicht nach vorn und betrachtete es eingehend. „Wenn man das Outfit ein bisschen bearbeitet und aufmotzt sieht es bestimmt wieder wie neu aus.“

   Tom lächelte nun auch. Doch es war spürbar, dass er immer noch vorsichtig war. „Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte“, sagte er nun verabschiedend. „Wenn mir was Passendes zum Aufmotzen in die Hände fallen sollte dann kann ich es dir ja vorbeibringen.“

   „Klar, das wäre toll“, freute sich Suzanne.

   „Tja dann…“

   Sie musste raus mit der Sprache. Wenn sie nicht sofort den Mund aufmachte war die Gelegenheit verpasst. Und wer wusste schon, wann ihr das nächste Mal eine so gute quasi auf dem Präsentierteller serviert wurde? Also fasste sie sich ein Herz. „Sag mal… Marc und du, ihr seid doch befreundet, nicht wahr? Hat er schon mit dir geredet?"

   „Du meinst wegen dieser Feier", fing Tom den Ball direkt auf.

   „Ja genau.“ Suzanne war froh, dass er nicht lange um den heißen Brei herumredete. „Und? Wirst du kommen? Freitag in einer Woche."

   „Ich … ähm ... sorry, aber ich kann dir noch keine Zusage geben", sagte Tom ausweichend.

   „Kannst du nicht, oder willst du nicht? Sei ehrlich", forderte sie ihren Klassenkameraden enttäuscht auf. Sie verstand nicht, warum Tom nach der soeben verbrachten gemeinsamen Zeit noch einen Rückzieher machte. Das Gespräch und der Handel waren doch gut gelaufen. Sie hatten sich gut verstanden. Warum zum Teufel zögerte er?

   „Na ja, so 50/50", antwortete der. „Du musst das verstehen. Wir wollen keinen Ärger mit den Kids von der Basis und Marc meinte, das will gut überlegt sein. Wenn wir zu deiner Fete kommen, wird es höchstwahrscheinlich Ärger geben.“

   „So? Meinte Marc das? Hast du keine eigene Meinung", fauchte Suzanne böse und knallte ihren Rucksack mit so viel Schwung auf den Gepäckträgerm dass er seitlich wieder herunterfiel. „Hätte ich ihm doch bloß nichts von meinem Plan erzählt. Mann, ich bin so ein Trottel."

   „Sei nicht sauer.“ Tim bückte sich, hob den Rucksack auf und befestigte ihn hinten auf dem Fahrrad. „Es ist ja noch nichts entschieden. Wir diskutieren noch. Ich finde deine Idee nämlich gar nicht so schlecht."

   „Dann gib dir einen Ruck und sag zu. Und überzeug´ deine Freunde mitzukommen. Komm schon, einen Versuch ist es wert."

   „Was sagen denn eigentlich deine Leute dazu?"

   „Das lass mal meine Sorge sein.“ Sie lächelte Tom zum Abschied zu. „Danke noch mal. Wir sehen uns morgen in der Schule." Sie schwang sich auf den Sattel ihrer neuesten Errungenschaft und trat kräftig in die Pedale. Nach der ersten Kurve ließ sie ein kritischer Blick auf die Reifen seufzen. „Okay“, murmelte sie leise. „Jetzt hab´ ich zwar ein Rad, aber ´ne Luftpumpe wär´ verdammt noch mal auch nicht schlecht.“

 

10. Kapitel

 

   Nachdem Suzanne sich auf den Heimweg gemacht hatte, ließ Tom das Gespräch mit ihr noch einmal gedanklich Revue passieren. Schließlich fasste er einen Entschluss, setzte sich in seinen alten klapprigen Lieferwagen und fuhr raus zur Auffangstation. Nach kurzem Suchen fand er seinen Freund bei den Käfigen hinter dem Haupthaus.

   „Hey“, begrüßte er Marc, der seinen Freund offensichtlich nicht hatte kommen hören, denn er ließ vor Schreck fast einen Futtereimer fallen ließ.

   „Mensch, Tom“, grummelte er, nachdem er seinen Freund erkannt hatte. „Verdammt, eines Tages bekommst du noch einen Eimer an den Schädel, wenn du dich weiter so anschleichst. Was willst du hier? Hab´ ich irgendwas verpeilt? Waren wir verabredet?“

   „Nein. Alles okay. Aber ich hatte eben Besuch. Rate mal."

   „Keine Ahnung. Mach's nicht so spannend."

   „Suzanne Banks."

   „Wie jetzt? Suzanne?" Marc blickte interessiert hoch, stellte bedächtig den Futtereimer beiseite und kam langsam näher. „Ernsthaft jetzt? Sie war bei dir zu Hause?"

   „Jep." Tom machte kein Hehl aus seiner Zufriedenheit.

   „Und? Was wollte sie?"

   „Du wirst es nicht glauben“, prophezeite Tom und grinste breit.

   „Grund gütiger. Versuch´s einfach.“

   „Okay. Du erinnerst dich doch sicher an mein altes Fahrrad. Sie hat´s mir abgekauft.“

   „Ja nee, ist klar.“ Marc grinste ungläubig und knuffte seinen Freund mit der Faust an der Schulter. „Jetzt mal ehrlich. Raus mit der Sprache."

   „Hey, das war ehrlich. Sie hat wohl keine Lust mehr auf Gregory. Das ist der Chauffeur. Sie meinte, sie kommt sich blöd vor, dauernd mit dem Auto vorzufahren.“

   „Aha." Marc war ziemlich verblüfft. „Und da hattest du gerade nichts Besseres zu tun, als ihr deine olle Rostlaube zu verkaufen?“

   „Ich hab´ ihr das Rad angeboten und sie wollte es unbedingt haben. Sie hat mir 20 Dollar dafür gegeben.“

   Marcs Augen blitzten amüsiert auf und er prustete kurz.

   „Was zum Teufel ist so komisch daran?"

   „Ey, jetzt hör´ auf. Das fragst du noch? Ich geb´ ja zu, dass ich noch nicht weiß, was ich von ihr halten soll, aber für so blöd hätte ich sie definitiv nicht gehalten.“ Er klopfte Tom anerkennend auf die Schulter. „Du wirst mal ein guter Geschäftsmann."

   „Hey, ich hab sie nicht über den Tisch gezogen. Ich wollte ihr das Rad ja sogar schenken, aber sie bestand darauf, dafür zu bezahlen."

   „Okay, okay. Schon gut. Ich wette, es ging ihr auch um diese Fete. Sie hat dich doch sicher darauf angesprochen?"

   „Ja."

   „Und?“ Marcs Gesichtsausdruck verschloss sich wieder. „Sag schon. Hast du dich von ihr einwickeln lassen?“

   „Verdammt nochmal, was hast du eigentlich gegen sie?"

   „Nichts", entgegnete Marc kurz und wich den forschenden Blicken seines Freundes aus. Stattdessen schnappte er sich den Futtereimer und fuhr mit seiner Arbeit fort. „Ich kenn´ sie ja kaum. Aber ihr Umgang zwingt mich zur Vorsicht."

   Tom lehnte sich entspannt mit dem Rücken gegen die Käfigwand. „Ich glaube ja, sie ist gar nicht so übel."

   „Meinetwegen freunde dich mit ihr an“, antwortete Marc knapp. „Aber pass auf: Das Mädchen ist clever.“

   „Ach nee. Eben hast du noch geglaubt, dass sie sich von mir hat verarschen lassen.“

   „Geschenkt.“ Marc grinste. „Aber im Ernst, ich denke schon, dass sie was auf dem Kasten hat. Irgendwie hat sie es ja auch geschafft, mich zum zuhören zu kriegen. Ihr Plan in allen Ehren, aber ich weiß gar nicht genau, wie sie sich das vorgestellt hat. Sie muss doch inzwischen mitbekommen haben, was hier abgeht.“

   „Schon mal daran gedacht, dass sie es womöglich trotzdem ernst meinen könnte? Und dass ihr klar ist, dass sie alleine auf verlorenem Posten steht; dass sie Unterstützung braucht, wenn es funktionieren soll?"

   „Mag ja alles sein. Aber wir beide wissen, dass es nicht funktionieren kann. Je früher sie das einsieht, desto besser. Alles andere bringt nur noch mehr Unruhe rein.“

   „Wie kann man nur so stur sein? Woher willst du das wissen? Es hat doch noch nie einer ernsthaft probiert.“

   „Tom, denk doch mal nach. Wie lange sind die Amis jetzt hier? Hat auch nur einer von denen in all den Jahren mal was anderes als Handlanger in uns gesehen?" Marc, der sich selber gerne als Afrikaner bezeichnete, strich sich die Haare zurück. „Mann, was war das früher für ein himmlischer Frieden hier, bevor sie diese Scheißbasis aus dem Boden gestampft haben.“

   Tom schwieg. Sein Freund hatte normalerweise eine ziemlich gute Menschenkenntnis, aber irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass Marc dieses Mal falsch lag. Allerdings hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er seinen Freund davon überzeugen sollte. Marc war einer der Wenigen gewesen, die von Anfang an äußerst aggressiv reagiert hatten, als damals die Pläne laut wurden, dass eine Militärbasis kommen sollte. Da er diese Einstellung bis zum heutigen Tag konsequent beibehalten hatte, verkniff Tom sich an dieser Stelle den dezenten Hinweis, dass die Basis durchaus auch Vorteile für die Einheimischen gebracht hatte. Es machte schlichtweg keinen Sinn.

   „Siehst du: Diese dämliche Militärbasis geht den Amis über alles. Daran wird sich nichts ändern. Die Frau Botschafterin ist doch bloss hier eingesetzt worden, um sich um deren Belange zu kümmern. Nichts anderes zählt für die. Vielleicht brauchen sie ein paar von uns zum schuften aber glaub' mir: Mit der Zeit werden wir Einheimischen eher noch in unseren Freiheiten beschnitten werden. Warte ab was ich dir sage."

   „Denkt dein Vater auch so?"

   Marc lachte auf, aber es klang bitter. „Dad? Er ist ein unverbesserlicher Optimist. Ein Träumer. Das war er schon immer. Aber was bleibt ihm auch sonst übrig? Die Station pfeift mittlerweile aus dem letzten Loch. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden, das weißt du doch."

   „Ist es wirklich so schlimm?"

   „Schlimmer." Marc nickte. „Die Forschungsabteilung liegt schon ewig brach. Wir können noch nicht mal mehr die alten Impfstoffe herstellen, viel weniger neue entwickeln. Dad setzt jetzt alle seine Hoffnungen auf die Botschafterin. Er will ihr in den nächsten Tagen seine Aufwartung machen … sagt er. Ich drücke es anders aus: Er wird seinen Stolz über Bord werfen und betteln gehen. Er will einfach nicht einsehen, dass es vorbei ist mit seinem Traum." Er machte eine Handbewegung, die das ganze Gelände umreiaen sollte.

   Tom schluckte.

   „Heißt das, ihr werdet die Station schließen, wenn ihr die Mittel nicht bekommt? Ihr werdet weggehen? Zurück nach Amerika?"

   Marc schüttelte heftig den Kopf. „Ich werde niemals zurück nach Amerika gehen. Die zwei Jahre, die ich drüben war haben mir gereicht."

   „Was willst du denn tun?"

   „Abwarten. Noch ist es ja nicht so weit. Ich habe einen Plan wie wieder Geld in unsere Kassen kommt."

   „Und was ist das für ein Plan?"

   Wieder schüttelte Marc seinen Kopf. „Ist noch nicht spruchreif." Er stellte die Futtereimer wieder ab, denn vom Haus her ertönte in diesem Augenblick eine laute Glocke. „Komm, zerbrich dir nicht meinen Kopf. Geh' lieber mit essen. Du bist eingeladen. Alles Weitere wird sich finden, du wirst schon sehen."

 

11. Kapitel

 

   Am nächsten Tag hatte Marc nach der Schule noch ein paar Besorgungen zu machen. Aus diesem Grund war er mit dem Jeep und nicht mit dem Motorrad unterwegs. Er war gerade auf dem Rückweg zum Wagen, als er hinter sich seinen Namen rufen hörte. Er drehte sich um und erkannte Suzanne, die mit schnellen Schritten auf ihn zukam.

   „Großer Gott. Was will die denn schon wieder", murmelte er leicht genervt und setzte sich demonstrativ schon einmal in den Wagen um deutlich zu machen, dass er nicht viel Zeit hatte. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes, daher fragte er lediglich ziemlich kurz angebunden: „Was ist denn nun schon wieder? Ich hab´s eilig. Hat das nicht Zeit bis morgen in der Schule?"

   Suzanne funkelte ihn wütend an. „Nein, hat es nicht. Damit du mir dann wieder so erfolgreich aus dem Weg gehen kannst?“

   Marc, der sehr wohl bemerkt hatte, dass Suzanne bereits den ganzen Vormittag darauf aus gewesen war, mit ihm zu reden, verdrehte die Augen. „Ich weiß nicht, was du meinst“, murmelte er.

   „Ich denke, dass weißt du sehr wohl“, fauchte sie.

   Er gab sich einen Ruck. „Okay, lassen wir das. Was willst du?“

   Suzannes Wut schien indes noch längst nicht besänftigt. Jedenfalls deutete ihre Antwort das an. „Das fragst du noch?! Ich hab´ dich für intelligenter gehalten."

   „Hey, ich hab' wirklich keine Zeit für Frage- und Antwortspiele. Entweder du sagst mir jetzt was du willst oder du lässt es einfach, klar?"

   „Du hast mit Tom geredet - über meinen Plan meine ich."

   „Das sollte ich doch auch", gab er unschuldig zurück und trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. „Ist schon in Ordnung. Du brauchst dich nicht zu bedanken. War es das?"

   Marc ließ den Motor an und zuckte im nächsten Moment erschrocken zurück, denn Suzanne hatte sich blitzschnell vor den Wagen bewegt und stützte sich mit beiden Händen auf der Motorhaube ab. „Verdammt nochmal, du bist unmöglich. Ehrlich, nichts liegt mir ferner als mich bei dir zu bedanken."

   „Ach..."

   „Jawohl! Ich bin zu dir gekommen, weil ich dachte, ich könnte dich überzeugen. Ich hatte gehofft, du würdest mich bei meinem Vorhaben unterstützen. Vielleicht nicht die Fete - aber doch grundsätzlich die Idee! Und nach unserem Gespräch dachte ich, du hättest verstanden! Und was tust du? Du arbeitest gegen mich. Schlimmer noch, du boykottierst mich, verdammte Schheiße!“

   „Hey! Ich hab' mit Tom geredet. Was zum Teufel willst du denn noch? Ich hab´ klar gesagt, dass ich dir nichts versprechen kann." Langsam wurde Marc ebenfalls sauer.

   „Geredet? Du hast ihn gewarnt!", warf Suzanne ihm vor. „Du versuchst, die Afrikaner in deine Richtung zu beeinflussen!"

   „Jetzt mach aber mal halblang. Ich hab' dir von Anfang an ehrlich gesagt, dass ich nicht daran glaube, dass sich deine Idee umsetzen lässt. Nichts anderes habe ich auch Tom gesagt als er mich nach meiner Meinung gefragt hat. Was zum Teufel erwartest du eigentlich von mir? Dass ich meinen Freund anlüge, oder was?"

   „Du willst ja gar nicht kooperieren! Dir gefällt die Situation so, wie sie ist, nicht wahr? Egal, was du sagst, du hast absolut kein Interesse daran, das sich hier was ändert! Komm schon, sag. Ist es nicht so?"

   „Ihr seid die Politiker", gab Marc achselzuckend zurück. „Du und deine Mutter.“

   „Ach, Scheiße!" Suzanne knallte so fest mit der flachen Hand auf die Motorhaube, dass eine kleine Delle im Blech zurückblieb. Erschrocken über sich selbst zog sie die Hand zurück.

   „Hey! Spinnst du jetzt total?!" Marc lehnte sich aus dem offenen Fenster und funkelte Suzanne erbost an.

  „Warum hast du nicht von Anfang an Klartext geredet? Du hättest deutlich sagen können, dass du nicht an meine Idee glaubst. Glaub mir,  ich verkrafte eine Ablehnung und in dem Fall hätte ich auf deine Unterstützung dankend verzichtet.“

   „Himmel noch mal!“ Marc fuhr sich durch die Haare. „Ihr Amerikaner habt sie doch nicht alle! Alles verkompliziert ihr!"

   „Ach ja? Auch wenn es dir nicht in den Kram passt: Du bist ebenfalls Amerikaner", erinnerte Suzanne ihn bissig.

   „Gehst du mir jetzt bitte aus dem Weg? – Oder willst du vielleicht ein Stück mitfahren?", bot er plötzlich eine Spur zu freundlich an.

   „Du vergisst, dass ich ein Fahrrad habe! – Ich bin überzeugt davon, dass du das weißt.“

   „Wie schön für dich – aber vielleicht sollte ich besser sagen, wie schön für mich", antwortete er ironisch, legte den Rückwärtsgang ein, setzte ruckartig ein Stück zurück und machte dann einen Schlenker um Suzanne herum bevor er abrauschte und sie in einer Staubwolke zurückließ.

 

   „Gott! Wie kann man nur so stur sein!", schrie Suzanne außer sich. Wütend stampfte sie mit dem Fuss auf, während sie dem sich rasch entfernenden Wagen hinterher blickte.

   „Er ist eigentlich ganz in Ordnung wenn man ihn näher kennt."

   Suzanne drehte sich um. Tom stand wenige Meter weiter an einen Baum gelehnt und hatte die Auseinandersetzung offenbar in aller Seelenruhe mitverfolgt.

   „Sagst du", schnaubte Suzanne immer noch erbost.

   „Ja", entgegenete Tom schlicht. „Das sage ich. Du kennst mich nicht, aber glaub mir, mit meiner Menschenkenntnis ist alles in Ordnung."

   Da erst ging es Suzanne auf, dass sie Tom mit ihrem verächtlichen `Sagst du' womöglich beleidigt haben könnte.

   „Tut mir leid", sagte sie daher versöhnlich und versuchte sich zu beruhigen. „Es war nicht so gemeint, wie es sich angehört hat."

   „Schon in Ordnung." Tom kam zu ihr rüber. „Ich bin nicht so leicht zu beleidigen. Trotzdem: Du bist im Unrecht. Es ist nur so, dass Marc zurzeit ne Menge Probleme hat.“

   „Wer hat die nicht? – Hilfst du mir denn wenigstens weiter?"

   „Mach dir keine Gedanken. Ich hab´ schon mit den anderen geredet. Wir werden kommen. Zumindest der größte Teil von uns."

   „Oh, wow.“ Erleichtert und dankbar blickte Suzanne Tom an. „Ich dank dir."

   „Dafür nicht. – Aber ich frage mich … hast du dir eigentlich mal Gedanken darüber gemacht was du tun wirst, falls deine Freunde einen Rückzieher machen?"

   „Das glaube ich zwar nicht aber wenn doch, dann feiern wir eben alleine", antwortete Suzanne mit einem Achselzucken, obwohl ihr bei dem Gedanken definitiv nicht ganz wohl in der Magengegend war. Ganz besonders nicht, nachdem ihr Kimberly am Morgen gesteckt hatte, dass Ben schon gemeint habe, für seinen Geschmack hinge sie ein bisschen viel mit den Eingeborenen herum.

   Womöglich hatte sie sich ja doch gleich zu Beginn zu weit in ihrem Bestreben vorgewagt, die verfeindeten Parteien einander näherzubringen. Was, wenn nun alles schiefginge und sie am Ende ganz alleine dastünde? Das wäre fatal – ganz besonders in dieser Gegend.

   „Wie du meinst", nahm nun Tom den Faden wieder auf. „Warten wir  es ab. Immerhin hast du Eins schon erreicht: Die ganze Schule spricht bereits über deine Fete. – Mach´s gut, ich muss los." Tom winkte zum Abschied und schlenderte daraufhin zu seinem Wagen.

   „Ja", zweifelte Suzanne leise. „Das wird sicher das gesellschaftliche Ereignis."

 

12. Kapitel

 

   „Dad!" Auf der Suche nach seinem Vater hatte Marc schon das ganze äußere Areal der Station abgegrast. Jetzt versuchte er sein Glück im Haus. „Dad! Hey, wo steckst du, verdammt!?", brüllte er, kaum dass er in der Diele stand.

   „Ich bin hier."

   John Gilberts Stimme kam von oben aus dessen Schlafzimmer. Drei, vier Riesenschritte und Marc hatte die breite Treppe schon überwunden. Als er das Zimmer betrat, sah er erstaunt wie sein Vater unentschlossen und offensichtlich komplett ratlos vor dem offenen Kleiderschrank stand. Auf dem Bett türmte sich bereits ein ganzer Berg von Kleidungsstücken, die John achtlos und unordentlich dort hatte fallen lassen.

   „Wow! Was ist denn hier passiert?“ Marc wies auf das Chaos. „Hier sieht´s ja aus als hätte eine Bombe eingeschlagen. Mistest du aus, oder was, zum Teufel, hast du vor?"

   „Ja. Nein. Aber ich müsste mir wirklich mal ein paar neue Sachen zulegen", murmelte sein Vater geistesabwesend. „Meine Klamotten sind ja alle uralt."

   „Das hat dich bislang doch auch nicht gestört."

   „Jetzt stört es mich aber", bemerkte John nachdrücklich.

   „Okay, aber wir haben kein Geld", stellte Marc trocken fest. Verstehst du, der Zeitpunkt ist vielleicht ein klitzekleines bisschen ungünstig.“ Er hob die Hand und ließ einen minimalen Abstand zwischen Daumen und Mittelfinger.

   „Was du nicht sagst." John blickte seinen Sohn entnervt und wütend an.

   Marc zuckte mit den Achseln: „Na und? Stimmt doch. Was willst du überhaupt? Die Sachen sind doch okay. Ich verstehe nicht, warum du plötzlich so einen Wirbel um deine Klamotten machst. Wir sollten unser Geld lieber für neue Vorräte ausgeben. A pro pos: Ich dachte, wir wollten in die Stadt?“

   „Sicher", murmelte sein Vater, während er in eine helle Baumwollhose stieg. „Du hast ja recht.“ Dann fischte er ein blaues kurzärmeliges Hemd aus dem Stapel auf dem Bett, öffnete die obersten zwei Knöpfe und zog es kurzerhand über den Kopf. Während er die Enden in die Hose stopfte, fragte er: „Sag mal, hast du vielleicht `nen Gürtel für mich? Das Teil schlabbert ziemlich.“

   Marc verdrehte die Augen und schüttelte schweigend den Kopf.

   „Gut, dann muss es eben so gehen.“ John griff nach seinem alten, etwas abgewetzten Jackett mit den dunklen Lederflicken auf den Ellbogen. Ein Kleidungsstück, dass er eigentlich nur zu besonderen Gelegenheiten trug, denn er hasste förmliche Kleidung fast genauso wie sein Sohn. „Krawatte?“ Er hielt sich die beiden einzigen, die er besaß, abwechselnd vor den Bauch. „Was meinst du?“

   „Nein, verdammt!“ Marc reichte das Theater jetzt endgültig. „John Gilbert, dürfte ich vielleicht endlich mal erfahren, was du planst? Hallo? Seit wann machst du dich stadtfein, wenn wir lediglich bestellte Vorräte abholen. Die kennen uns dort. Du brauchst niemanden zu beeindrucken. Oder ist da etwa was im Busch von dem ich wissen sollte? Bitte nicht die Sekretärin vom alten Fishman?"

   „Quatsch!“ John musterte seinen Sohn kritisch von oben bis unten. „Ich finde übrigens, du könntest dich auch etwas besser anziehen wenn wir in die Stadt fahren. Dein Look sieht ziemlich ramponiert aus."

   „Na und? Was zum Teufel ist neu daran? Außerdem war ich bis eben bei den Tieren.“ Plötzlich fiel es Marc wie Schuppen von den Augen. „Oh, nein“, stöhnte er. „Bitte nicht. Du willst in die Botschaft – richtig?"

   „Na ja, vielleicht. Wenn die Zeit ausreichen sollte – warum denn nicht? Ich meine, wenn wir schon mal in der Stadt sind, könnten wir doch auch gleich unseren Anstandsbesuch hinter uns bringen, findest du nicht? So schlagen wir quasi zwei Fliegen mit einer Klappe."

   „Vergiss es. Ohne mich", verkündete Marc entschlossen und winkte ab. „Wenn du wirklich meinst, du musst dich lächerlich machen, dann bitte tu das alleine. Setz mich vorher einfach bei Tom ab. Wenn du deinen … Anstandsbesuch hinter dich gebracht hast kannst du mich ja wieder einsammeln kommen."

   „Aber..."

   „Dad, nein. Ich werde nicht mitkommen", sagte Marc fest.

   „Gut", willigte sein Vater sichtlich verärgert ein. „Wie du willst. Dann setze ich dich eben bei Tom ab und fahre zuerst in die Botschaft. Danach können wir dann immer noch beim alten Fishman wegen der Vorräte vorbeifahren. Der schließt eh nie pünktlich."

   „Alles klar, ich warte draußen auf dich", erwiderte Marc kurz und verließ das Zimmer. „Mann, ist das lächerlich", murmelte er beim rausgehen gerade so laut, dass sein Vater es mitbekommen musste.

**********

   Nachdem John seinen Sohn wie angekündigt vor dem Haus des Bürgermeisters abgesetzt hatte, fuhr er weiter zur Botschaft. Mittlerweile fragte er sich, ob Marc nicht doch recht hatte, und er gerade im Begriff war, sich lächerlich zu machen. Mit etwas gemischten Gefühlen betätigte er den altmodischen Türklopfer und holte einmal tief Luft. Okay, jetzt war es zu spät, um zu kneifen. Jetzt musste er da durch.

   Was für eine Frau mochte die Botschafterin sein? Mal ganz davon abgesehen, dass er fest mit einem Mann gerechnet hatte. Das wäre ihm persönlich deutlich lieber gewesen. Mit Frauen konnte er einfach nicht so gut umgehen. Mit Joyce, ja, aber das war etwas völlig Anderes gewesen. Ihr Verhältnis war etwas ganz Besonderes gewesen. Sie hatten nicht viele Worte gebraucht. Mit seiner Frau hatte er sich immer blind verstanden. Das Problem war nur, dass Joyce inzwischen schon sehr lange tot war.

   John blies die Wagen auf, während er wartete, verlagerte das Gewicht auf das andere Bein und ließ seine Gedanken weiter schweifen. Ja, Joyce war schon lange tot und in dieser Gegend gab es leider definitiv nicht sehr viele Alternativen für einen Mann in seinem Alter. Nicht, dass er bislang etwas vermisst hätte – nur eben jetzt machte ihn das Bewusstsein über seine stark eingerosteten Smalltalkfähigkeiten plötzlich zunehmend nervös. Er fühlte sich merkwürdig befangen und wurde zusehends unsicherer.

   Er rechnete kurz nach. Die Tochter der Botschafterin ging in Marcs Klasse … also würde die Frau etwa in seinem Alter sein. Puh, ein wenig älter wäre ihm lieber gewesen. So vermutete er eine karrieresüchtige Erfolgsfrau und hegte starke Zweifel daran, dass eine solche Person seine Situation auch nur andeutungsweise verstehen konnte. Wahrscheinlich wollte sie das auch gar nicht. Wozu sollte sie sich seine Probleme mit der Station an den Hals hängen? Verdammt, Marc hatte Recht. Angeklopft hin oder her. Wahrscheinlich war es besser, sich auf dem Absatz rumzudrehen bevor er sich hier gleich bis auf die Knochen blamierte...

   Gerade als John so weit mit seinen Gedankengängen gekommen war wurde plötzlich die Tür vor ihm mit einem solchen Ruck aufgerissen, dass er erschrocken zwei Schritte zurückwich. Ihm gegenüber stand eine offensichtlich schwer beschäftigte Angestellte, die kurz lächelte als sie sein Zusammenzucken registrierte.

   „Ach, Gott sei Dank, Sie sind noch da. Ich hatte schon befürchtet, Sie wären wieder gegangen.“

   Jetzt war John verwirrt. Das klang ja fast so, als hätte man ihn erwartet. „Äh, nein", stotterte er etwas aus der Fassung gebracht. „Ich bin noch da.“ Gleich im nächsten Augenblick kam er sich unsagbar blöd vor. Hinzu kam, dass ihm sein Gegenüber auf den ersten Blick sehr gut gefel. Die Frau war mittelgroß, fraulich schlank und hatte ebenmäßige Gesichtszüge, die von vollem halblangem, braunem Haar eingerahmt wurden. Klare, wache blaue Augen, die von kleinen Lachfältchen umsäumt wurden blickten ihn aufmerksam an. Vermutlich handelte es sich um die Köchin, denn sie hatte eine Schürze umgebunden und ihre Hände trugen deutlich Teigspuren. Ein paar kleine Teigspritzer hatten den Weg in den Haaransatz und auf ihre linke Wange gefunden und zogen seine Blicke magisch an.

   „Oh, entschuldigen Sie.“ Die Frau trat einen Schritt beiseite und gab die Tür frei. „Wie unhöflich von mir. Bitte, kommen Sie doch erst mal herein.“

   John gab sich einen Ruck. „Sehr gerne.“ Er betrat die geräumige Halle und blickte sich neugierig um. „Danke."

 

13. Kapitel

 

   John beobachtete amüsiert wie die Frau hektisch versuchte die Teigspuren an ihren Händen möglichst unauffällig an der Schürze abzuwischen. Darunter trug sie eine schlichte dunkelblaue Röhrenjeans, die dabei auch ihre Teigspuren abbekam und darüber lose eine weiße Hemdbluse. Der Teig erwies sich jedoch als sehr widerspenstig. Schließlich gab sie ihre Versuche auf und hob mit einem entschuldigenden Lächeln beide Hände in die Luft.

   „Hefeteig. Klebt wie Hund. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht einmal die Hand geben. Tut mir sehr leid. Bitte verzeihen Sie mir."

   „Das macht doch nichts", entgegnete er vergnügt. „Ich bin..."

   „Stopp, sagen Sie nichts – lassen Sie mich raten", unterbrach sein Gegenüber ihn schnell. „Sie müssen der sagenumwobene John Gilbert sein – der Mann aus dem Busch."

   John war verblüfft. „Woher wissen Sie das? Sieht man mir das so sehr an?“ Er bedauerte einmal mehr, dass er sich kaum mehr daran erinnerte wie man einen Flirt anfing.

   „Nein", antwortete sie und lächelte, was diese kleinen reizvollen Fältchen um ihre Augen etwas tiefer werden ließ. „Natürlich nicht. Aber wie ein Soldat sehen Sie ehrlich gesagt nicht gerade aus. Außerdem hat man uns schon viel über den Lebenskünstler da draußen berichtet. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

   „Ganz meinerseits."

   „Das mit dem Händeschütteln holen wir dann bei nächster Gelegenheit nach, in Ordnung?"

   „Natürlich.“ Es entstand eine kurze Pause. – Verdammt, was konnte er nur sagen um dieses Gespräch noch ein wenig auszudehnen. Er war wirklich völlig aus der Übung. Dass er eigentlich hergekommen war, um mit der Botschafterin zu sprechen, hatte John für einen Moment lang völlig verdrängt, so sehr faszinierte ihn diese Frau.

   „Ähm, würde es Ihnen etwas ausmachen mich kurz in die Küche zu be-gleiten?", erkundigte sich das Objekt seiner Verwirrung leise.

   Erst da fiel ihm der eigentliche Grund seines Besuches wieder ein. „Hören Sie, ich will nicht unhöflich sein – ein anderes Mal herzlich gerne – aber eigentlich wollte ich der Botschafterin meine Aufwartung machen – so sagt man doch wohl. Natürlich nur, wenn sie zu Hause ist – es ist nämlich ein spontaner Besuch. Ich habe keinen Termin."

   „Ich weiß." Die Frau lächelte ihn strahlend an und John fragte sich unwillkürlich, was er wohl gesagt hatte, dass sie so strahlen ließ. „Kommen Sie doch einfach erst mal mit", forderte sie ihn jetzt auf. Aus der Ferne war ein Telefonklingeln zu hören. „Das Telefon liegt in der Küche. Bitte. Ich muss da rangehen."

   Die Frau wartete seine Antwort nicht ab, sondern eilte bereits voraus. John folgte ihr achselzuckend. Was sollte er auch sonst tun?

   Die Küche war ein großer, quadratischer Raum am Ende der Halle. Suchend blickte die Unbekannte sich um. „Wo ist es denn nur?", mumelte sie dabei leise vor sich hin.

   „Dem Klinglen nach zu urteilen: Hier", sagte John und hob einige zusammengeknüddelte Handtücher auf. „Köchin und Sekretärin", bemerkte er dabei mit einem Grinsen. „Sie sind offensichtlich ein Multitalent. Ich bin beeindruckt."

   „Danke." Sie nahm den Hörer von ihm entgegen und es war John nicht ganz klar ob sie seine Bemerkung meinte, oder die Tatsache, dass er das Telefon gefunden hatte. Sie wischte sich die andere Hand jetzt kurzerhand rigoros an der Jeans ab und meldete sich mit fester Stimme: „Ja?"

   Na, ob das die korrekte Art und Weise war, sich in einer Botschaft so zu melden, ließ John mal dahingestellt. Für die Botschaterin wäre das sicher nicht in Ordnung, aber ihm war es herzlich egal. Er würde diese herrlich unkomplizierte und freundliche Frau sicher nicht an ihre Chefin verraten. Ob sie wohl etwas dagegen hätte, wenn er sich einfach setzte? Bestimmt nicht, dachte John, zog sich einen Stuhl heran und nahm rittlings darauf Platz.

   „Oh, General McAllister, ja, tut mir leid. Ich bin sehr beschäftigt. Ich wünsche Ihnen auch einen guten Tag." Sie blickte in Johns Richtung, nickte ihm freundlich zu und verzog dann, während sie ihrem Gesprächspartner lauschte, ein wenig das Gesicht. Eine ärgerliche Falte fand Platz auf ihrer Stirn und ihre blauen Augen schienen sich zu verdunkeln.

   John bemerkte jede kleine Veränderung in ihrem hübschen Gesicht, denn er beobachtete sie immer noch sehr genau. Als sie jedoch jetzt, mit merklich kühlerer Stimme, antwortete, erstarrte er im nächsten Augenblick. Mit einem Mal wurde ihm klar bewusst, wen er hier vor sich hatte.

   „General, ich finde wirklich, dass sollten Sie meine Sorge sein lassen. Und..."

   Anscheinend wurde sie von ihrem Gesprächspartner unterbrochen, denn sie hielt inne und hörte wieder eine Zeitlang zu. Als sie dann endlich wieder zu Wort kam, klang ihre zuvor so freundliche und warme Stimme eiskalt und sehr verärgert.

   „Hören Sie… Nein, stopp! Sie hören jetzt mir zu. Mir ist durchaus bewusst, dass Sie die Umstände hier besser kennen als ich, aber Sie werden doch sicher gestatten, dass ich mir selber ein Bild von der Lage mache. Und General, Sie dürfen mir glauben, dass ich durchaus dazu in der Lage bin. – Bitte, lassen Sie mich ausreden. Ich habe nicht vor, Ihnen in Ihre Arbeit reinzureden. Im Gegenzug erwarte ich allerdings, dass Sie das Gleiche bei mir tun. Beherzigen Sie diese einfache Regel und wir werden glänzend miteinander auskommen."

   John konnte nicht anders, er lauschte mit offenem Mund.

   „Sie müssen mir nicht sagen, wofür ich hier zuständig bin, aber ich weiß auch, dass ich Gast in diesem Lande bin. Ich werde mich hüten, meine Gastgeber vor den Kopf zu stoßen indem ich sie schlicht ignoriere. Für Sie mag diese Art schlechten Benehmens vielleicht in Ordnung sein, General. Für mich gilt das ganz sicher nicht.“

   John unterdrückte eine impulsive Beifallsbekundung und konnte seine positive Überraschung gerade noch durch ein kräftiges Räuspern tarnen.

   „Nein. Es geht Sie zwar nichts an, General, aber ich bin alleine“, hörte er die Botschafterin jetzt äußerst kühl antworten und sofort packte ihn das schlechte Gewissen. Das fehlte noch, dass er die Botschafterin jetzt in Bedrängnis brachte. Entschuldigend hob er beide Hände, woraufhin sie jedoch nur abwehrend den Kopf schüttelte.

   „Hören Sie, General, es täte mir wirklich sehr leid, Ihre Familie beim Empfang nicht begrüßen zu können. Es täte mir leid um jeden Einzelnen, der nicht kommt. Die Entscheidung liegt natürlich letztlich bei Ihnen. Ich kann und werde Sie selbstverständlich nicht dazu zwingen. – Und jetzt … Entschuldigen Sie mich bitte, General McAllister, wie gesagt, ich habe zu tun. Guten Tag."

   Gilian Banks beendete das Gespräch und suchte nach einem Lappen um den Hörer, der trotz aller Vorsicht klebrige Teigspren abbekommen hatte, abzuwischen. „Puh, was für eine Schweinerei“, sagte sie dann, wobei eine gewisse Frustration in ihrer Stimme mitschwang. „Mr. Gilbert, ich muss mich schon wieder bei Ihnen entschuldigen. Es tut mir leid, dass sie das eben mit anhören mussten", wandte sie sich dann wieder direkt an John.

   Der erhob sich ein wenig steif von seinem Stuhl. „Kein Problem", reagierte er mit einem schiefen, leicht gequält wirkenden, Grinsen. „Ich schätze, ich habe mich eben ganz schön lächerlich gemacht. Sie müssen mich ja für einen rechten Hinterwäldler halten. Ich hoffe, Sie nehmen meine Entschuldigung an. Ehrlich, mir war nicht bewusst, dass Sie … Na ja, was rede ich. Sie werden es bemerkt haben. Ich denke, ich werde mich jetzt wohl besser verabschieden."

   „Aber nein, warum denn?" Gilian hatte ihm den Rücken zugewandt und sich inzwischen an der Spüle die Hände gewaschen. Jetzt fuhr sie eilig herum und streckte ihm ihre schmale Hand hin. Automatisch ergriff John die ihm dargebotene Hand und drückte sie. Der feste Händedruck dieser zierlichen und für ihn überaus beeindruckenden Frau überraschte ihn einmal mehr.

   „Ich bin wirklich froh darüber, dass Sie so spontan vorbeigekommen sind", wiederholte sie nun. „Sie ersparen mir dadurch einen Weg, den ich auf Anhieb vermutlich sowieso nicht gefunden hätte.“

   „Ach ja?“

   „Ja, ehrlich“, warf sie schnell ein und zögerte kurz bevor sie weitersprach. „Nicht Sie müssen sich bei mir entschuldigen, sondern eigentlich ich mich bei Ihnen. Ich muss gestehen, dass es mir eben großen Spaß gemacht hat, als ich bemerkte, dass Sie nicht wissen, wen Sie vor sich haben. Wissen Sie, es tat richtig gut, endlich einmal wieder normal behandelt zu werden und ich schätze, ich wollte das einfach noch ein wenig auskosten. Allerdings war es nicht in Ordnung, das auf Ihre Kosten zu tun“, schloss sie ein wenig zerknirscht. „Sind Sie jetzt böse mit mir?“

   Gott bewahre. Wie konnte er, wenn sie ihn so liebenswürdig zerknirscht anblickte. „Nein, ich … ich konnte ja nicht wissen..." John stockte.

   „Natürlich nicht. Woher sollten Sie auch? Außer zu gesellschaftlichen Ereignissen und in Notfallsituationen ist die Botschaft ja normalerweise an den Wochenenden geschlossen.“

   „Na ja, ich war zufällig in der Stadt und da dachte ich..."

   „Ihr Besuch geht in Ordnung, ehrlich. Ich hatte nur nicht mit Besuch gerechnet, daher mein Aufzug. Bitte, hören Sie endlich auf, sich zu entschuldigen.“

   „Gut, aber nur wenn Sie ebenfalls aufhören, sich zu entschuldigen“, antwortete John schmunzelnd.

   „Abgemacht.“ Gilian Banks lächelte. „Meine Tochter und unser Chauffeur sind unterwegs um ein paar Einkäufe zu machen und da hatte ich den glorreichen Gedanken, ich könnte vielleicht meine eingerosteten hausfraulichen Fähigkeiten ein wenig auffrischen. Aber es scheint zu lange her zu sein, wenn ich mir das Chaos hier so angucke." Sie stutzte und fixierte John plötzlich. „Sagen Sie, John Gilbert. Können Sie backen?“

 

14. Kapitel

 

 

 

   Tom, der den überraschenden Besuch seines Freundes mit sichtlicher Überraschung quittiert hatte, betrat mit einem Tablett in den Händen sein Zimmer, wo Marc, hingelümmelt auf Toms Bett, auf ihn wartete. Er goss frisch gekochten Tee aus einer Kanne in Tassen und positionierte anschließend einen Teller mit Gebäck auf der Matratze.

 

   „Hier“, sagte er mit einem Achselzucken. „Du kennst ja meine Mutter. Meint immer, wir stünden kurz vor´m verhungern.“

 

   „Womit sie bei mir gar nicht so unrecht hat.“ Marc grinste breit und langte direkt zu. „Lecker“, meinte er kauend. „Wie immer. Kannst ihr Danke von mir sagen.“

 

   „Pfh, das kannst du gleich selber machen“, antwortete sein Freund und ließ sich ebenfalls auf seinem Bett nieder, woraufhin prompt der Teller mit Gebäck gefährlich in Schieflage geriet.

 

   „Hey“, protestierte Marc prompt. „Pass gefälligst auf. Das gute Zeug.“

 

   „Keine Panik. Nix passiert.“ Tom warf seinem Freund einen kritischen Blick zu. „Und nun sag schon. Was führt dich her? Hattest du nicht gesagt, du hättest heute keine Zeit.“

 

   „Hab´ ich normalerweise auch nicht, aber mein Dad wollte unbedingt noch `nen Abstecher machen und darauf hatte ich absolut keinen Bock.“

 

   „So, und da darf ich als Lückenbüßer herhalten“, schmunzelte Tom.

 

   „Wenn du es unbedingt so nennen willst.“ Marc schüttelte abwehrend den Kopf. „Ich hätte es anders ausgedrückt.“

 

   „Ist egal. Mach dir keinen Kopf. – Was hat er denn so fürchterliches vor, dein alter Herr?“

 

   „Er macht sich vermutlich gerade in der Botschaft komplett zum Affen“, mutmaßte Marc und verzog unwillig sein Gesicht. „Stell dir vor, er hat sich extra seinen Sonntagsstaat übergeworfen. Das Drama muss ich mir echt nicht geben. Außerdem hatte ich keine Lust, womöglich der Nervensäge schon wieder über den Weg zu laufen.“

 

   „Suzanne?“

 

   „Hm“, nickte Marc mit vollem Mund. „Sie hat mir heute nach der Schule aufgelauert. Ich schwöre, die geht mir mit ihrer blöden Fete echt auf den Geist.“

 

   „Ich weiß“, nickte Tom. „Ich hab´s am Rande mitbekommen.“

 

   „Ah ja?“ Marc zog die Augenbrauen hoch. „Vielleicht hast du dann ja auch gesehen, wie sie mich angegangen hat. Ich sag´s dir: Das Mädchen hat ihre Emotionen nicht im Griff. Seit dem Gespräch habe ich eine verdammte Delle in der Motorhaube.“

 

   Tom grinste breit. „Wenn du mich fragst, hattest du die kleine Ansage durchaus verdient.“

 

   „Soviel zum Thema `am Rande´“, konstatierte Marc trocken und verabreichte seinem Freund einen leichten Rippenstoß. „Was ist los mit dir, Alter? Spannst du mich aus?“

 

   „Nichts liegt mir ferner. Sagen wir, ich bin ein guter Beobachter und bekomme so einiges mit, was anderen entgeht.“

 

   „Natürlich; was sonst? – Aber mal ganz im Ernst: Die zieht das echt durch, oder?

 

   „Davon gehe ich aus“, nickte Tom. „Und ehrlich gesagt, ich finde das gut. Wer weiß, vielleicht ist es ja tatsächlich mal an der Zeit, dass sich hier was tut.“

 

   Jetzt war Marc ehrlich verblüfft. „Glaubst du ernsthaft, sie wird Erfolg damit haben?“

 

   „Das habe ich nicht gesagt. Aber wenigstens versucht mal jemand was. Selbst wenn sie nicht direkt erfolgreich sein sollte. Es könnte immerhin der Anfang von etwas Großem sein.“

 

   „Ja, aber wer weiß, ob dieses Große dann auch etwas Gutes sein wird?“, warf Marc zweifelnd ein.

 

   „Marc, nicht jede Veränderung muss schlecht sein.“ Er musterte seinen Freund prüfend. „Was ist denn nun? Kommst du zu Suzannes Fete, oder kneifst du?“

 

   „Ja, ja, verflucht, ich denke schon.“ Marc stöhnte gespielt verzweifelt. „Aber nur, damit ich hinterher nicht zwei Nervensägen im Nacken sitzen hab´. Und jetzt lass uns endlich von was anderem reden, okay?“

 

**********

 

   Die überraschende Frage der Botschafterin hatte John völlig aus dem Konzept gebracht. „Was? Backen? Ich? Ein wenig. Ehrlich gesagt, eher schlecht als..."

 

   Gilian Banks fiel ihm ins Wort: „Prima. Möchten Sie mir vielleicht helfen? Wir könnten uns dabei ein wenig unterhalten und kennenlernen. Wenn es funktioniert und wir zusammen etwas Genießbares hinbekommen, lade ich Sie nachher zum Kaffee ein. Kommen Sie, geben Sie sich einen Ruck.“

 

   John konnte nicht anders. Gilian schaute ihn so erwartungsvoll an, dass er spontan lachen musste. „Sie … Sie haben General McAllister angelogen“, stellte er schließlich immer noch leise lachend fest.

 

   „Na und.“ Die Botschafterin strich sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. Dabei wirkte sie nicht im Geringsten, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. „Er hatte es nicht anders verdient. Seit meiner Ankunft versucht er mich zu gängeln und mir zu sagen, was ich seiner Meinung nach zu tun und zu lassen habe.“

 

   John hob abwehrend beide Hände. „Dazu sage ich besser nichts.“

 

   „Ist auch besser so. Ich hätte das gar nicht zu Ihnen sagen sollen. Das war unprofessionell.“ Gilian legte den Kopf schief und blickte John prüfend an. „Und? Was ist nun? Bleiben Sie?“

 

   Er schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid, es geht nicht. Ich wollte mich wirklich nur kurz vorstellen und ... ich habe noch einiges zu erledigen." Das bedauerte John in diesem Augenblick wirklich sehr, wie er überrascht im gleichen Moment registrierte, als er die Worte aussprach.

 

   „Hören Sie, ich … ich habe von Ihren Problemen gehört. Ich würde allerdings gerne mehr darüber erfahren.“ Gilian wurde ernst. „Von Ihnen. Bitte, lassen Sie uns reden.“

 

   Er zögerte kurz, doch dann verneinte er abermals. „Nicht heute. Ein anderes Mal gerne. Ich hatte nicht vor, gleich bei unserer ersten Begegnung mit der Tür ins Haus zu fallen. Außerdem ist unsere Problematik nicht mit wenigen Worten zu erklären. Ich wollte Sie einladen. Ich würde mir wünschen, dass sie sich ein wenig Zeit nehmen, um sich vor Ort ein Bild von der Station zu machen. Kommen Sie zu uns raus. Schauen Sie sich alles in Ruhe an. Bilden Sie sich eine eigene Meinung. Bitte. Anschließend dürfen Sie uns gerne mit Fragen bombardieren. Mein Team und ich, wir würden uns freuen, Ihnen jede Einzelne zu beantworten.“

 

   „Okay. Aber Sie holen mich ab, ja?"

 

   John lächelte erleichtert. Das war leichter gewesen, als er vermutet hatte. „Jederzeit. Wann?“

 

   „Ich werde es Sie wissen lassen. Versprochen. Gregory wird zwar beleidigt sein, wenn er mal wieder nicht zu fahren braucht, aber ich nehme ihr Angebot sehr gerne an. – Oh, ähm, Gregory ist eigentlich unser Chauffeur", setzte sie dann erklärend hinzu. „Aber seitdem wir hier sind avanciert er mehr und mehr zum Mädchen für alles."

 

   „Verstehe.“ John streckte seine Rechte aus. „Abgemacht?"

 

   Gilian schlug ein. „Unbedingt. Ich komme sobald ich kann. Aber vorher müssen Sie mit ihrem Team unbedingt nächsten Samstag zu meinem Empfang hier in der Botschaft kommen."

 

   „Das ist nicht gerade unser bevorzugtes Terrain.“ John verzog sein Gesicht. „Außerdem muss ich Sie warnen. Der General und ich liegen nicht gerade auf einer Wellenlänge."

 

   „Kein Problem."

 

   „Es könnte aber durchaus zu einem werden."

 

   „Nicht für mich. Drücken gilt nicht. Vergessen Sie nicht, dass Diplomatie sozusagen mein Hauptfach ist."

 

   „Dann kann ich ja wohl kaum ablehnen."

 

   Gilian beobachtete zu ihrer Freude, wie wieder dieses schiefe Grinsen auf seinem Gesicht erschien. Es verlieh John einen fast jungenhaften Charme, doch er schien sich dessen nicht bewusst zu sein. „Genau“, antwortete sie. „Ich freue mich schon darauf, Ihre Familie kennenzulernen."

 

   „Ich habe nur einen Sohn. Marc. Meine Frau ist vor einigen Jahren gestorben. Allerdings lebt mein Schwiegervater mit uns auf der Station. Er ist sozusagen mein Partner."

 

   „Ich weiß. Ich mache meine Hausaufgaben. Ich bin bestens über Sie informiert", antwortete Gilian trocken. „Aber mir wurde gesagt, alle auf Ihrer Station bezeichnen sich als eine große Familie."

 

   „Hm, mich würde interessieren, wer da so intensiv über unsere Station geplaudert hat.“

 

   „Ich bin diskret.“ Gilian wirkte amüsiert. „Aber keine Sorge, bislang habe ich nur Gutes gehört.“

 

   „Okay, dann war es der Bürgermeister“, grinste John breit. Die Frau imponierte ihm mehr und mehr. „Aber er hat recht. Das tun wir. Im Laufe der Zeit sind wir zu einer Familie zusammengewachsen.“ Er ließ seinen Blick zögernd in Richtung Tür wandern. „Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich gehen. Mein Sohn wartet im Bürgermeisteramt auf mich."

 

   „Tja, wirklich schade.“ Gilian begleitete John bis zur Tür. Sie schien es ehrlich zu bedauern, ihn nicht zum Bleiben bewegen zu können. „Wir sehen uns nächste Woche. Ich habe Ihr Wort", erinnerte sie ihn zum Abschied noch einmal lächelnd. „Nicht vergessen.“

 

   „Keine Sorge. Wir werden da sein. Alle. Und vielen Dank."

 

   „Wofür denn? Großer Gott, ich habe Ihnen noch nicht mal einen Drink angeboten."

 

   „Ach, ich weiß auch nicht. Ich rede Unsinn. Mein Gefühl für Small-Talk ist mir anscheinend im Laufe der Jahre irgendwie abhanden gekommen. Auf Wiedersehen … wie spricht man Sie eigentlich korrekt an? Botschafterin?“

 

   „Um Himmels Willen. Ich heiße Banks. Gilian Banks. Aber das wissen Sie ja sicher längst."

 

   Sie drückten einander kurz die Hände und John wurde plötzlich bewusst, dass er ihre Hand länger hielt, als es eigentlich für einen simplen Abschiedsgruß nötig gewesen wäre.

 

   „Tja dann … bis nächste Woche, Gilian Banks." John Gilbert machte, dass er wegkam bevor er noch mehr Blödsinn von sich gab.

 

**********

 

   Hinter der Gardine beobachtete Gilian wie John mit langen Schritten auf einen dunkelblauen Kastenwagen zuging, der vor der Botschaft geparkt stand. Im Gehen zog er sein Jackett aus und warf es lässig durch das offene Fenster auf den Beifahrersitz, bevor er einstieg und urplötzlich, als sie schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, doch noch einen Blick zurück zum Haus warf.

 

   Hastig zupfte sie die Gardine wieder gerade und lehnte sich anschließend aufatmend mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür. Dabei fiel ihr Blick unweigerlich in den gegenüberliegenden Dielenspiegel und sie bemerkte zu ihrem Entsetzen die diversen Teigsprenkel in ihrem Gesicht.

 

    „Oh mein Gott! Kein Wunder, dass er so auf mein Gesicht gestarrt hat." Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge raus. „Was hast du geglaubt, du dumme Nuss? Etwa, dass der Mann versucht hat, mit dir zu flirten? Dass er dich angestarrt hat, weil du ihn so beeindruckt hast? Wohl kaum.“ Sie feuchtete einen Zeigefinger an und fuhr sich energisch damit über die Wange. „Der Mann war lediglich zu höflich, etwas zu sagen. Verdammt!“

 

15. Kapitel

 

   „Oh, wow. Dass du auch noch mal kommst…" Marc empfing seinen Vater sichtlich missgelaunt, als der endlich im Bügermeisteramt auftauchte. „Ich dachte schon, du kämst gar nicht mehr. Wir haben noch `ne Menge zu erledigen und by the way: Ich hab' heute Abend noch was vor."

   „Ach ja? Was denn? Gibt´s da was, dass ich wissen sollte?", erkundigte sein Vater sich aufgeräumt. „`Ne neue Freundin vielleicht?"

   „Sehr witzig, nee, es … es hat was mit der Schule zu tun."

   „Abends?", wunderte sich John.

   „Ich hab´ den Termin nicht gemacht", gab Marc sich zugeknöpft.

   „Na los, komm.“ John klopfte seinem Sohn aufmunternd auf die Schulter. „Dann sollten wir nicht noch mehr Zeit verlieren."

**********

   Während der Fahrt zum Einkaufszentrum musterte Marc seinen Vater mehrmals prüfend. Sein alter Herr hatte verdächtig gute Laune – er pfiff sogar stillvergnügt vor sich hin. So hatte er ihn lange nicht mehr gesehen, aber in seiner eigenen derzeitigen Stimmungslage war soviel Frohsinn kaum auszuhalten.

   „Und? Wie war's? Du bist ja so guter Dinge. Hat die Botschafterin dir etwa die Subventionen schon zugesagt?", erkundigte er sich schließlich, eigentlich nur, um das nervtötende Pfeifen zu unterbrechen.

   „Nein, natürlich nicht. Das Thema haben wir nur kurz am Rande angeschnitten. Ich habe sie und ihre Tochter eingeladen, sich unseren Laden mal anzusehen und sie hat direkt zugesagt. Wenn sie erstmal alles gesehen hat, und mehr darüber erfährt, was wir alles leisten, wird sie gar nicht mehr anders können."

   „Wenn du meinst", antwortete Marc zweifelnd.

   „Sei nicht immer so pessimistisch. – Die Botschafterin scheint übrigens `ne ganz vernünftige, patente Frau zu sein", setzte John ganz nebenbei hinzu.

   „In dem Fall hätte sie ihrer Tochter definitiv etwas voraus", entgegnete Marc trocken. „Die ist nämlich `ne echte Nervensäge."

   „So? – Na ja… - Stell dir vor, ich sollte ihr beim Backen helfen", erzählte John dann zusammenhanglos weiter.

   „Was?!" Marcs Kopf flog zur Seite. „Was solltest du? Sag das nochmal – oder nein, lieber doch nicht. Lass es! Ich will's gar nicht so genau wissen."

   „Dann eben nicht.“ Sein Vater grinste breit. „Übrigens: Sie hat uns alle nächstes Wochenende zu ihrem Willkommensempfang eingeladen."

   „Oh, Mann.“ Marc seufzte. „Das muss so `ne Art Familientick sein."

   „Wie?"

   „Nichts, schon gut. – Wirst du hingehen? Ich schätze, der General und sein Gefolge werden auch dort sein. So ein Event lässt der sich doch nicht entgehen."

   „Ja, allerdings ist WIR die richtige Formulierung, mein Lieber. Wir werden alle dort hingehen. Die komplette Belegschaft. Schon allein um den General zu ärgern. – Wir werden da sein. Das wird ein Spaß. Ich freu´ mich jetzt schon auf McAllisters dummes Gesicht."

   „Spaß? Oh ja, davon bin ich überzeugt“, murmelte Marc verstimmt.

   „Du wirst es erleben.“ John Gilbert bog schwungvoll auf den kleinen Parkplatz des Einkaufszentrums ein, das man vor einiger Zeit in der Nähe der Militärbasis aus dem Boden gestampft hatte. „Denk an die Liste", sagte er zu Marc, während er ausstieg. „Sonst vergessen wir wieder die Hälfte. Charlie reißt uns den Kopf ab.“

   Marc, der ebenfalls bereits neben dem Wagen stand, öffnete noch einmal die Tür, verschwand mit dem Oberkörper im Wageninneren und kramte im Handschuhfach nach dem Einkaufszettel. Sein Vater blieb abwartend stehen. Plötzlich bemerkte er, dass jemand vom anderen Ende des Parkplatzes aus zu ihnen herüberwinkte. Soweit er sich erinnerte kannte er das dunkelhaarige, hübsche Mädchen nicht, das neben einem älteren Herrn stand, der dabei war, Einkäufe in den Kofferraum einer dunklen Limousine zu verladen. Aber ihr Äußeres erinnerte ihn an Jemand. Es musste sich um Gilian Banks Tochter handeln. Außerdem, wer sonst fuhr in dieser Gegend eine Limousine? Bei dem älteren Herrn handelte es sich somit vermutlich um Gregory, den Angestellten der Botschafterin.

   Aber warum sollte Gilians Tochter ihm winken? Er hatte sie schließlich noch nie gesehen. Als Marc mit der Einkaufsliste in der Hand und den Worten `Wir können´ neben ihm auftauchte, wurde ihm mit einem Mal klar, wem das Winken galt.

   „Du, ich glaube fast, die junge Dame da drüben meint dich", sagte er süffisant zu seinem Sohn, der daraufhin einen schnellen Blick in die andere Richtung warf.

   „Wohl kaum", antwortete der kurz, schob mit dem Knie die Wagentür zu und stiefelte mit langen Schritten auf den Eingang des Zentrums zu. John Gilbert zuckte ratlos mit den Schultern und setzte sich ebenfalls in Bewegung.

**********

   Suzanne wäre nicht sie selbst, wenn sie so schnell aufgegeben hätte. Das letzte Gespräch mit Marc lag ihr noch immer schwer im Magen und so war sie froh, dass sich ihr hier überraschend die Chance bot, ihn einmal außerhalb der Schule zu erwischen. Insbesondere, wo er ihr auf dem Schulgelände mittlerweile ziemlich erfolgreich aus dem Weg zu gehen versuchte.

   Eilends bat sie Gregory, kurz auf sie zu warten, trabte hinter Vater und Sohn her, bis sie die beiden eingeholt hatte und stellte sich ihnen kurzerhand in den Weg. Es entging ihr dabei nicht, dass Marc genervt die Augen gen Himmel verdrehte, doch sie tat bewusst so, als würde sie das gar nicht bemerken.

   „Hey, Marc, schön, dass wir uns treffen.“ Sie lächelte freundlich. „Hast du `nen Moment? Ich würde gerne kurz mit dir reden."

   „Sorry, ist gerade ungünstig", murmelte Marc kurz angebunden. „Wir sind eh schon spät dran – tut mir leid."

   „Ein paar Minuten hätten wir schon noch", mischte John Gilbert sich ein, wofür er einen wütenden Blick seines Sohnes erntete, den er allerdings geflissentlich ignorierte. „Du musst Suzanne Banks sein“, wandte er sich stattdessen dem Mädchen zu und reichte ihr die Hand. „Ich darf doch du sagen, oder?“

   „Klar!“ Suzanne erwiderte den Händedruck und schenkte ihr Lächeln nun John Gilbert. „Ich bitte darum. Alles andere käme mir komisch vor. Und Sie sind bestimmt Marcs Vater.“

   „Ja. John Gilbert. Es freut mich…“

   „Oh, kommt Leute, bitte. Lasst uns das Ganze hier abkürzen“, unterbrach Marc das Geplänkel der beiden. „Das ist ja kaum auszuhalten.“ Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Klassenkameradin. „Okay, also? Was willst du, Suzanne?"

   „Ich … ich wollte mich bei dir entschuldigen – du weißt schon. Mir sind da einfach die Nerven durchgegangen. Das war nicht in Ordnung, und es tut mir ehrlich leid.

   „Schon okay. – War´s das?"

   „Nimmst du die Entschuldigung an?", bohrte sie weiter.

   „Ich sagte doch schon, dass es okay ist.“

   „Ja, das sagtest du. Das sagt aber nichts darüber aus, ob du meine Entschuldigung auch akzeptierst.“

   Marc fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Himmel noch mal, ja. Wenn das die Voraussetzung ist, um das hier zu beenden, dann ja."

   „Gut, das freut mich. Dann kommst du also auch zu meiner Fete", hakte sie umgehend ein.

   „Ja, wir werden kommen. Deine Mutter hat uns eingeladen und mein Vater hat bereits zugesagt."

   „Ich rede nicht von dem Botschaftsempfang. Das ist die Angelegenheit meiner Mutter. Meine Fete findet einen Tag vorher statt." Sie machte eine kurze Pause und musterte ihn beharrlich, bevor sie leise hinzufügte: „Ich denke, dass weißt du sehr genau.“

   Marc schwieg beharrlich und starrte zu Boden.

   „Komm, gib dir einen Ruck. Bitte. Tom kommt auch. Und viele deiner Freunde."

   „Ich versteh´ nicht ganz.“ John Gilbert blickte verwirrt von einem zum anderen. „Wieso sollte Marc denn nicht kommen wollen? Marc?"

   Der verfluchte seinen Vater zum wiederholten Male stumm. „Gut, okay. Du kannst mit mir rechnen", antwortete er schließlich gepresst.

   „Sehr gut", freute sich Suzanne, während sie über die Schulter linste. „Sorry, aber ich muss zurück zu Gregory – der wartet nicht gerne.“ Wieder beehrte sie John mit ihrem strahlenden Lächeln. „Auf Wiedersehen, Mr. Gilbert."

   Suzanne schien es plötzlich sehr eilig zu sein. Sie drehte sich um und joggte zurück zur Limousie. John blickte ihr hinterher: „Ein nettes Mädchen", stellte er dann lakonisch fest. „Sie ähnelt ihrer Mutter."

   „Ernsthaft? Dann ist die Botschafterin also doch `ne Nervensäge?"

   „Na, komm. Ich finde, das kann ich weder von der einen noch von der anderen behaupten."

   „Dad, Suzanne ist falsch! Siehst du das denn nicht? Die bringt einen dazu, Dinge zu tun, die man eigentlich gar nicht tun will. Sie ist eine kleine, miese, integrante Schlange!" Komisch, so richtig wohl fühlte Marc sich bei diesen Worten nicht. Und prompt bekam er die Quittung.

   „Ich höre deine Worte, aber sorry, deiner Stimme fehlt die Überzeugungskraft", stichelte sein Vater mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Ich frage mich, warum das so ist?“

   Marc kam sich durchschaut vor und war nun endgültig sauer. „Verdammt noch mal. Können wir jetzt vielleicht endlich gehen?"

 

16. Kapitel

 

   An diesem Abend spielte Marc zum ersten Mal. Vom Hörensagen wusste er, dass es am Rande der Stadt eine Bar gab, deren Hinterzimmer von den Soldaten der Basis zum Glücksspiel genutzt wurde. Strenggenommen natürlich verboten, schien es indes Niemanden zu kümmern. Dort wollte er einsteigen und hatte aus diesem Grund in den letzten Tagen heimlich, still und leise und ebenfalls nicht ganz legal den größten Teil seines Collegegeldes flüssig gemacht. Nachdem die Besorgungen verstaut, die Tiere versorgt und er frisch geduscht und umgezogen war machte er sich mit dem Motorrad auf den Weg und kehrte vier Stunden später um ca. 30 Dollar reicher zurück.

   Er war ihm bewusst, dass er darüber nicht reden durfte; noch nicht einmal seinem Freund Tom. Auch wenn er nicht gerade als redselig bekannt war, so fiel ihm das doch überraschend schwer. Nach seinen ersten Erfolgen fühlte er sich wie im Rausch. Total euphorisch. Es war alles so verblüffend einfach gewesen. Er hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, doch es hatte keine gegeben. Niemand hatte irgendwelche blöden Fragen gestellt. Noch nicht einmal der Mann hinterm Tresen, bei dem er sich – im Nachhinein betrachtet wenig subtil und ziemlich unvorsichtig – sehr direkt nach dem illegalen Pokerkreis erkundigt hatte.

   Der Mann hatte ihn lediglich kurz kritisch gemustert, dann schweigend einer Angestellten ein Zeichen gegeben und diese hatte ihn daraufhin im Hinterzimmer angemeldet. Die sich dort befindlichen Soldaten, von denen er keinen persönlich kannte, hatten ihn flüchtig begrüßt, über die Gepflogenheiten und Regeln informiert und zum mitspielen ermutigt. Und er? Er hatte erfolgreich seinen Widerwillen gegen die Männer von der Base bekämpft und sich mit den Jungs an einen Tisch gesetzt. Als er nach seiner Rückkehr in den frühen Morgennstunden sein Grundkapital samt Gewinn in einen Umschlag packte und unter seine Matratze stopfte hatte er immer noch ein Lächeln auf dem Gesicht: Wenn man darüber nachdachte, war es doch eigentlich ein guter Witz, dass er jetzt ausgerechnet mit dem Geld der Soldaten die Station retten würde...

**********

   Nach ein paar Tagen war nicht mehr zu leugnen, dasss Marc Blut geleckt hatte. Nach seinem Einstand in der Pokerrunde hatte er gleich für den nächsten Abend sein Kommen wieder angekündigt und darauffolgend fuhr er fast jeden Abend nach getaner Arbeit auf der Station noch einmal los. Noch hatte Niemand Verdacht geschöpft, dass es ihn plötzlich so häufig in die Stadt zog, aber ihm war klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er sich den ersten Fragen würde stellen müssen. Er musste sich ein paar gute Vorwände einfallen lassen, und wenn alle Stricke rissen, dann würde er zumindest Tom einweihen müssen. Dies wollte er allerdings nach Möglichkeit so lange wie möglich vermeiden. Schließlich wollte er seinen Freund nicht in Schwierigkeiten bringen. Aber ihm war klar, dass es unbedingt jemanden brauchte, der ihn bei eventuell auftauchenden Rückfragen deckte, und da kam eigentlich nur Tom in Frage. Zu ihm hatte er von allen seinen Freunden das meiste Vertrauen. Tom würde zwar vermutlich nicht gutheißen, was er tat, aber – und das war das Wichtigste – er konnte schweigen und würde ihn decken. Daran hegte er Null Zweifel.

   Dummerweise machte sich recht schnell ein weiterer Nachteil seiner nächtlichen Ausflüge bemerkbar. Sein ständiges Schlafdefizit sorgte dafür, dass Marc tagsüber in der Schule immer kurz davor war, einzuschlafen. Mr. Roscoe hatte ihn schon einmal nach der Stunde beiseite genommen und sich erkundigt, ob ihm nicht gut sei. Er hatte sich mit "Viel zu tun zur Zeit" herausgeredet. Ob der Lehrer ihm geglaubt hatte, wusste er nicht. Es war ihm auch ziemlich egal, Hauptsache, er ließ ihn in Ruhe.

   Zu diesem Zeitpunkt hatte er durch eine Pechsträhne am Abend zuvor nicht nur all seine Gewinne wieder verloren, sondern sich zusätzlich noch etwa 100 Dollar Verlust eingehandelt. Statt das als Schuss vor den Bug zu sehen und aufzuhören, bekräftigte ihn diese Tatsache jedoch nur in seinem Vorhaben, die erlittenen Verluste möglichst schnell zurück zu gewinnen. Plus noch einiges mehr. Irgendwann in den nächsten Wochen würde er seinem Vater beichten müssen, dass er seine Unterschrift gefälscht hatte, um an sein Collegegeld heranzukommen. Immerhin bestand die Gefahr, dass der Bänker, ein alter Bekannter seines Vaters, seinen Dad bei dessen nächsten persönlichen Besuch in der Filiale auf die Auflösung des Depots ansprach. Das galt es auf jeden Fall zu vermeiden. Gott sei Dank fuhr sein Dad nicht allzu häufig selber in die Bank. Aber dieses Geständnis konnte er selbstverständlich nur in Angriff nehmen, wenn er parallel seinem Vater gleichzeitig schon einmal eine stattliche Summe gewonnenes Geld für die Station präsentieren konnte. Es mussten also unbedingt Erfolge her, um seinen Alten entsprechend milde zu stimmen. Denn das der nicht begeistert auf Marcs Eröffnung reagieren würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche.

**********

   Leider blieben die erhofften Erfolge aus und Marc verrannte sich mehr und mehr. Er lebte nur noch für seine abendlichen Pokerrunden und hatte dadurch bedingt für Nichts und Niemanden mehr Zeit. Als Tom ihn Freitag nach der Schule abfing reagierte er ungehalten und nervös. Er wollte schnellstmöglich nach Hause, um seine Arbeiten auf der Station zu erledigen, damit er möglichst zeitig zu seiner abendlichen Pokerrunde aufbrechen konnte. Allerdings zeigte ihm Toms energisches Winken überdeutlich, dass sein Freund mit ihm reden wollte und er traute sich schlicht nicht, das zu ignorieren. Schließlich konnte es immer noch sein, dass er später die Unterstützung seines Freundes benötigte. So stoppte er den Wagen, ließ allerdings den Motor laufen, um Tom direkt klar zu machen, dass dies ein kurzes Gespräch werden würde.

   „Was ist los?“ Er lehnte sich aus dem Fenster und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Metall der Autotür herum. „Du, sorry, ich hab´ eigentlich überhaupt keine Zeit.“

   „Schon klar, hast du ja in letzter Zeit nie“, erwiderte Tom sichtlich verärgert. „In den Pausen schläfst du und nach Schulschluss machst du sofort die Biege.“

   „Ich weiß“, gab sich Marc zerknirscht. „Aber auf der Station ist im Moment echt die Hölle los. Wir haben etliche Neuzugänge.“ Eine Aussage, die wenigstens zum Teil stimmte.

   „Schon gut, vergiss es“, meinte Tom versöhnlich. „Ich wollte eigentlich nur wissen, wann du mich heute Abend abholen kommst? Wenn bei euch so viel zu tun ist, richte ich mich da ganz nach dir.“

   Marc, der keinen blassen Schimmer hatte, worauf Tom hinauswollte, schaute seinen Freund verständnislos an. „Abholen?“

   „Die Party", half Tom ihm auf die Sprünge. „Heute Abend bei Suzanne. Jetzt erzähl´ mir bitte nicht, dass du das vergessen hast.“

   „Ach ja, die Party", sagte Marc und wunderte sich gleichzeitig, dass die Woche schon vorbei war. Wo zum Teufel war die Zeit geblieben? „Nein, natürlich hab´ ich das nicht vergessen“, schickte er schnell hinterher. „Aber das mit dem Abholen wird leider nicht funktionieren. Wie gesagt, auf der Station gibt´s `ne Menge zu tun, und ich kann nicht sagen, wann ich fertig werde. Geh´ mit den Anderen vor, ich komme später nach. Ich dachte eigentlich, das hätte ich dir schon gesagt“, schloss er und wich Toms großen braunen Augen, die so viel mehr registrierten, als seine Umgebung vermutete, geschickt aus. Er log seinen Freund nicht gerne an, aber hier hielt er eine weitere kleine Notlüge für angebracht, um seinen Worten mehr Überzeugungskraft zu verleihen.

   „Nein, hast du nicht“, versetzte Tom prompt und verzog ärgerlich das Gesicht. „Kann nicht ausnahmsweise mal Jemand anderes für dich einspringen? Der Termin steht immerhin schon lange fest und du hast die ganzen letzten Tage schon wie blöde geschuftet.“

   „Es geht nicht, Tom. Wirklich nicht.“ Marc wurde immer ungeduldiger. „Was willst du? Ich sagte doch schon, dass ich nachkomme. Ach ja, würdest du das bitte auch Suzanne ausrichten?“

   „Wie jetzt?“ Tom riss entgeistert die Augen auf. „Willst du damit sagen, dass du mit ihr auch noch nicht gesprochen hast?“

   Marc zuckte mit den Achseln. „Was soll ich sagen? Es hat sich einfach nicht ergeben. Was ist? Übernimmst du das nun für mich, oder nicht?“

   „Ja, ja, schon gut. Ich mach´s ja.“ Tom trat beseite und gab Marc mit der Hand ein Startzeichen. „Wir treffen uns dann vor Ort. Bis heute Abend. Komm bitte nicht so spät.“

   „Ja, ja, bis heute Abend", antwortete Marc geistesabwesend, legte den Gang ein und gab Gas. Seine Gedanken kreisten bereits wieder beim ums Pokern. Er musste sich unbedingt eine Strategie zurechtlegen, um die immer höher werdenden Verluste auszugleichen. Das Problem an der Sache war, dass er überhaupt keinen Plan hatte, wie er das anstellen sollte.

   Die resignierten und enttäuschten Blicke seines Freundes, der seinen Abgang mit hängenden Schultern verfolgte, bekam er gar nicht mehr mit.

**********

   Auf der Station gab es tatsächlich deutlich mehr zu tun als Marc vermutet hatte. Zwei der freiwilligen Helfer hatten aufgrund überraschender Krankheitsfälle in der Familie ihr Kommen für diesen Tag kurzfristig komplett abgesagt und so dauerten Marcs Verpflichtungen deutlich länger als geplant. Nach einem hastigen Abendessen und einer ausgiebigen Dusche war er schließlich endlich auf dem Weg zu seinem Motorrad, als ausgerechnet sein Vater ihm noch einmal über den Weg lief.

   „Hey, Marc.“

   „Hey.“ Ohne ein weiteres Wort wollte Marc an seinem Vater vorbei, doch da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

   „So wart´ doch mal.“

   „Was ist denn?“ Himmel noch mal, konnten sie ihn nicht einfach mal alle in Ruhe lassen. Ungehalten blieb Marc stehen und drehte sich um.

   „Hast du alles erledigt? Wie geht´s dem kleinen Affen?" Sein Vater stand am Fuß der Terrasse und wirkte erschöpft.

   Am Tag zuvor hatten Nomaden einen jungen Bonobo zur Station gebracht. Sie hatten den Kleinen völlig dehydriert und entkräftet im Busch liegend gefunden. Offenbar hatte seine Familie ihn aufgegeben und sich selbst zum Sterben überlassen. Verletzt war der Affe zwar nicht, doch er litt unter hohem Fieber und starkem Durchfall, was die so dringend benötigte Flüssigkeitszufuhr zusätzlich erschwerte. Da sie noch nicht genau wussten, was dem Kleinen fehlte, hielten sie ihn isoliert und hatten zunächst einmal einen dauerhaften Tropf angelegt.

   „Ich glaube, etwas besser“, gab Marc Auskunft. „Er ist zwar immer noch apathisch, aber wenigstens wird sein Stuhl langsam fester. Ich hab´ ihn frisch gewickelt und die Box noch mal gründlich gesäubert und sterilisiert. Morgen bekommen wir von Charlie die Ergebnisse der Stuhlproben. Danach sehen wir klarer und können ihn hoffentlich auch effektiver behandeln. Mit ein bisschen Glück zeigt bis dahin auch die Flüssigkeit, die er über den Tropf bekommt, Wirkung.“

   „Hoffentlich“, antwortete sein Vater. „Hast du versucht, ihm die Flasche zu geben? Wenn er nicht bald anfängt, Nahrung aufzunehmen ist im Endeffekt alles umsonst. Dann stirbt uns der Kleine unter den Händen weg.“

   Marc nickte. „Ja, hab´ ich.“ Er wusste aus Erfahrung, dass sein Vater den Tod eines Tieres, das man in seine Obhut brachte, immer sehr persönlich nahm. Jedes Tier, das auf seiner Station starb, war für ihn wie eine persönliche Niederlage, doch manchmal konnten sie es einfach nicht verhindern. Schon alleine, weil mancher tierische Patient viel zu spät gefunden und bei ihnen abgegeben wurde. „Aber er hat sie komplett verweigert. Da war nichts zu machen.“ Er zuckte mit den Achseln. „Im Notfall müssen wir ihn eben ein paar Tage künstlich ernähren. Zumindest bis er wieder ein wenig zu Kräften gekommen ist.“

   „Ja, vielleicht hast du recht. Wir sollten es zumindest versuchen. Ich werde das gleich noch erledigen.“ Sein Vater strich sich mit einer müden Handbewegung über den Kopf und das verschwitzte Haar nach hinten. „Ich brauch´ zwar dringend eine Dusche, aber die kann auch noch ein paar Minuten warten. Was ist mit dir? Willst du noch mal weg?“

   „Ja, allerdings. Heute ist doch die Party bei Suzanne", reagierte Marc blitzschnell und tröstete sich damit, dass dies schließlich keine Lüge war. Außerdem hatte er ja fest vor, später noch dort vorbeizuschauen. „Ich würde dir ja gerne noch helfen, aber…“

   „Nee, lass mal“, reagierte sein Vater verständnisvoll. „Ich hatte das völlig verdrängt. Kein Wunder, dass du es eilig hast.“

   „Ja, ich … ich bin eh schon spät dran. Die Anderen sind bestimmt schon alle da.“

   „Na, dann lass dich von mir nicht weiter aufhalten. Mach, dass du wegkommst. Und solltest du zufällig der Botschafterin begegnen, dann grüß sie bitte von mir.“

   Marc riss die Augen auf. „Dad! Ehrlich, ich kann mir kaum vorstellen, dass die Botschafterin sich unter die Jugend mischt, aber selbst wenn…“

   „…wirst du es nicht tun. Schon klar.“ John lachte leise. „War auch nicht ernst gemeint. Sag also bloß nix. Ich wünsch´ dir viel Spaß.“

   „Ja, danke.“ Kopfschüttelnd griff Marc nach dem Helm, setzte sich auf seine Maschine, und rauschte gleich darauf davon.

**********

   Leider verlief der weitere Abend gänzlich anders als geplant. Kurz nachdem Marc in die Pokerrunde eingestiegen war, begann die schlimmste Pechsträhne, seitdem er mit dem Spielen begonnen hatte. Er konnte es kaum fassen. Bei jedem Blatt, das neu ausgeteilt wurde, redete er sich ein, es würde endlich die Wende bringen. Und nach jeder neuen verlorenen Runde hatten sich seine bangen Hoffnungen einmal mehr als Trugschluss herausgestellt. Seine Lage wurde zusehends verzweifelter.

   Er begann zu schwitzen, seine Hände zitterten und er fuhr sich mehrfach fahrig durch die Haare, bis diese schließlich in alle Himmelsrichtungen abstanden. Offensichtlich bot er ein Bild des Jammers, denn schließlich versuchten sogar seine Mitspieler, ihn zu trösten. Eine irgendwie groteske Situation, denn schließlich bedeutete Marcs Pechsträhne doch für sie ein Füllhorn an Gewinnen.

   Es gab einen kurzen, einen klaren Moment, in dem Marc einsah, dass er so nicht weitermachen konnte. Er musste einen Cut machen, zumindest für diesen Abend, doch als er Anstalten machte, aufzuhören, bedeuteten seine Mitspieler ihm, dass dies ein Fehler sei. Jeder von ihnen hätte das schon mehr als einmal durchgemacht. Wenn er jetzt aufhörte, dann hätte das Spiel die Kontrolle über ihn und das dürfe er auf gar keinen Fall zulassen. Sie sagten, ein richtiger, ein vernünftiger Spieler ließe nicht das Spiel entscheiden, wann er aufhört, sondern die Entscheidung über den richtigen Zeitpunkt müsse alleine beim Spieler liegen.

   In Marcs Ohren klang das absolut logisch und so spielte er weiter…

   …und verlor weiter konsequent ein Spiel nach dem anderen.

 

17. Kapitel

 

 

   Suzanne stand ein wenig abseits und beobachtete kritisch das Treiben um sie herum. Ihre Fete, das Event, von dem sie sich so viel versprochen hatte, war seit nunmehr zwei Stunden im Gang, doch es lief leider längst nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie verfiel in dumpfes Brüten und je länger sie zuschaute, desto unzufriedener wurde sie. Ihre zu Beginn noch so euphorische Stimmung sackte zusehends tiefer in den Keller.

 

   Zwar waren tatsächlich sowohl die Kids von der Basis, wie auch die Einheimischen gekommen, doch so sehr Suzanne sich auch anstrengte: Beide Gruppen blieben für sich.

 

   Die einen standen in der einen Ecke des Gartens - die anderen in der anderen. Suzanne pendelte in ihrer Funktion als Gastgeberin permanent von links nach rechts, um ihre Pflichten zu erfüllen. Sie mühte sich ab, tat alles nur erdenklich Mögliche, um irgendwie ein Miteinander in die Wege zu leiten, doch alles, was sie probierte, verpuffte bereits im Ansatz. Schließlich hatte sie für den Moment aufgegeben. Sie brauchte dringend eine Pause. Daher hatte sie sich von den Anderen abgesondert und verfolgte nun deprimiert was sich um sie herum abspielte. Sie war so in ihre Beobachtungen vertieft, dass sie gar nicht registrierte, wie ihre Mutter hinter sie trat und leise bemerkte:

 

   „So, wie es aussieht, kommt da morgen eine Menge Arbeit auf mich zu.“

 

   „Davon kannst du ausgehen“, murmelte Suzanne ebenso leise, ohne sich ihrer Mutter zuzuwenden. „Grausam, nicht wahr?“

 

   „Na ja, Niemand hat gesagt, dass wir es hier einfach haben werden“, antwortete ihre Mutter, während sie ihre Blicke erneut über das Geschehen schweifen ließ. „Es scheint aber, dass noch nicht ganz Hopfen und Malz verloren ist“, sagte sie plötzlich mit einem Lächeln und nickte in Richtung Buffet. „Sieht aus, als wolle er dir helfen.“

 

   Suzanne folgte dem Wink ihrer Mutter und lächelte ein wenig traurig. „Das ist Tom“, erklärte sie. „Der Sohn des Bürgermeisters. Er hat mir das Fahrrad verkauft.“

 

   „Ich weiß“, nickte ihre Mutter. „Ich habe ihn kürzlich kennengelernt, als ich den Antrittsbesuch bei seinem Vater gemacht habe.“

 

   Die beiden Frauen beobachteten schweigend wie Tom langsam zum Buffet schlenderte, sich dort direkt neben Kimberly stellte und seine Klassenkameradin freundlich mit einem schlichten „Hey“, begrüßte.

 

   Kimberly, die unentschlossen vor dem Essen stand, blickte überrascht auf. „Hey“, antwortete sie nicht unfreundlich.

 

   „Na los, mach weiter“, feuerte Suzanne Tom so leise an, dass die beiden am Buffet sie nicht hören konnten, obwohl sie sich durchaus in Hörweite befanden. Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen, und es sah so aus, als wollte sie am liebsten losstürmen und Tom Schützenhilfe leisten.

 

   „Lass ihn, er macht das schon“, flüsterte Gilian und legte ihrer Tochter beruhigend eine Hand auf die Schulter.

 

   „Ja, ja, keine Angst, ich lass ihn ja“, murmelte Suzanne.

 

   Doch just in diesem Moment erklang aus der anderen Ecke des Gartens Bens Stimme. „Kim! Kommst du mal bitte?"

 

   „Oh, nein“, stöhnte Suzanne auf. „Nicht jetzt. – Das ist Ben, General McAllisters Sohn“, erklärte sie ihrer Mutter schnell, ohne die Szene am Buffet aus den Augen zu lassen. „Er hält sich für den großen Anführer und meistens tun die Anderen, was er sagt.“

 

   „Verstehe“, nickte ihre Mutter. „Er hat anscheinend viel von seinem Vater. Ich geh´ mal davon aus, dass der Zuruf nicht zufällig kam?“

 

   „Ganz bestimmt nicht“, stimmte Suzanne bitter zu.

 

   „Kim?“, klang Bens Stimme erneut zu ihnen herüber. „Wir warten.“

 

   „Meinst du nicht, dass Kimberly…“

 

   „Psst“, machte Suzanne. „Ich will hören, was sie sagt.“

 

   „Gleich“, rief Kimberly in diesem Moment Ben über die Schulter zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit tatsächlich wieder auf Tom konzentrierte. „Ich weiß einfach nicht, was ich nehmen soll. Magst du mir nicht was empfehlen?“, bat sie. „Ich kenne mich mit euren Gerichten noch nicht so aus.“

 

   „Natürlich“, grinste Tom breit und zeigte auf eine Platte, die etwas links von ihnen stand. „Diese Pastete, die solltest du unbedingt…“

 

   „Kim?“ In Bens Stimme schwang jetzt unverhohlen Schärfe und Ärger mit.

 

   Kimberly blickte ein wenig hilflos von ihrem immer noch leeren Teller auf Tom, und dann erneut über die Schulter hinweg rüber zu Ben, der ungeduldig gestikulierte. „Wo bleibst du denn?"

 

   „Nicht. Tu´s nicht“, flüsterte Suzanne beschwörend, doch ihre Worte erreichten leider ihr Ziel nicht, wie sie gleich darauf feststellen musste. Kimberlys Körpersprache verriet ihr, was gleich passieren würde. „Oh, nein. Verdammt.“

 

**********

 

   Nachdem Kimberly festgestellt hatte, dass sie inzwischen von allen aus der Clique auffordernd und von einigen sogar fast feindselig angestarrt wurde, stellte sie zögernd ihren Teller wieder ab und zuckte bedauernd mit den Achseln.

 

   „Es tut mir leid." Sie brachte es nicht übers Herz, Tom ohne ein weiteres Wort einfach stehenzulassen und lächelte ein wenig schüchtern. „Ich verspreche, ich werde die Pastete später probieren. Danke für den Tipp." Sie wartete eine eventuelle Antwort gar nicht erst ab, sondern drehte Tom hastig den Rücken zu, und beeilte sich zu ihren Leuten zu kommen.

 

   „Sag mal, spinnst du? Was hat das zu bedeuten?“, wurde sie rüde von Ben empfangen.

 

   „Ich weiß nicht, was du meinst?“, wich Kimberly vorsichtig aus, indem sie den direkten Blickkontakt mit Ben mied.

 

   „Das weißt du sehr gut“, schnauzte Ben sauer. „Was hattest du mit dem Typ zu schaffen?“

 

   „Nichts. Ich habe Hunger und wollte mir lediglich etwas zu Essen holen“, antwortete Kimberly kurz. „Beruhige dich, jetzt bin ich ja da.“

 

   „Wurde auch verdammt noch mal Zeit. Erzähl, was wollte der Nigger von dir?"

 

   „Du meine Güte, Ben. Er stand einfach nur dort. Zwei hungrige Menschen, die sich zufällig an einem Buffet begegnen. Was ist bloß los mit dir? Warum machst du so ein Drama daraus?"

 

   „Schon gut, schon gut." Ben grinste schmallippig und fuhr großspurig fort: „Nur, damit du Bescheid weißt, dieser Kaffer, der stand nicht einfach nur so dort. Du warst zuerst am Buffet und er hätte gar nicht rüberkommen sollen. Nein, der wollte dich anbaggern. Wir haben es genau beobachten können, nicht wahr?“ Die anderen aus der Clique nickten bestätigend und Ben tätschelte Kimberly gönnerhaft den Arm. „Weißt du Kim, manchmal bist du wirklich zu naiv. Aber du hast recht, machen wir kein Drama draus. Jeder macht schließlich Fehler. Wir dachten lediglich, du könntest unsere Hilfe gebrauchen. Versteh´ doch, wir wollten dich bloß aus seinen Fängen befreien", fügte er dann theatralisch hinzu.

 

   „Was? Ben, mach dich bitte nicht lächerlich." Kimberly war jetzt ernsthaft verärgert. „Ich habe Tom um Rat wegen der Gerichte gefragt und er hat mir die Pastete empfohlen. Punkt. Ende der Geschichte. Ich könnte mir übrigens durchaus vorstellen, dass er bloß höflich sein und Suzanne helfen wollte. Wir sind nämlich auf dem besten Weg, ihr die Party zu verderben. Nur mal so am Rande, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest."

 

   Das war eine mehr rhetorische Frage. Kimberly wusste sehr gut, dass Ben sehr bewusst war, was sie hier gerade anrichteten. Mehr noch, sie war fest davon überzeugt, dass es ihm sogar Spaß machte und dass hinter all seinen Handlungen eine bösartige Absicht stand. Sie beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie er jetzt Suzanne, die inzwischen neben Tom am Buffet stand, einen fast hasserfüllten Blick aus zusammengekniffenen Lidern heraus, zuwarf.

 

   „Tja, die gute Suzie“, warf er dann zynisch in die Runde. „Sie meint es ja sicher gut. Aber ich schätze, wir werden ihr doch etwas auf die Sprünge helfen müssen, damit sie endlich bemerkt, was wirklich gut für sie ist. Diplomatie hin oder her. Das Mädchen gibt sich definitiv mit den falschen Leuten ab."

 

   „Du übertreibst", rutschte es Kimberly unbedacht heraus. „Wie immer.“

 

   „Na, na, na, denk´ gefälligst nach bevor du den Mund aufmachst."

 

   Bens warnender Blick und sein Tonfall ließen Kimberly bereits im Ansatz verstummen. Eigentlich hatte sie noch mehr sagen wollen, doch die Vergangenheit hatte sie gelehrt: Es war nicht gut, sich gegen Ben und seine Freunde zu stellen. Sein Vater war sehr einflussreich und er vergötterte seinen rücksichtslosen Sohn. Sie wollte keine Schwierigkeiten und vor allen Dingen wollte sie nicht allein auf weiter Flur stehen. Also war es besser, sie hielt sich aus Allem raus. Auch, wenn sie Bens radikale Ansichten längst nicht immer teilte. Aber das musste sie ja nicht unbedingt jedem auf die Nase binden.

 

   „Braves Mädchen." Ben ließ seine Hand in die seitliche Beintasche seiner Cargo-Hose gleiten und hielt Kimberly gleich darauf verstohlen einen Joint hin. „Hier, für dich. Nimm.“

 

   „Ich hab´ leider kein Geld bei mir.“ Kimberly warf einen schnellen, verlangenden Blick auf den Joint in Bens Hand. „Wo kriegst du das Zeug eigentlich immer her?"

 

   „Das muss dich nicht interessieren. Sagen wir, ich hab´ meine Quellen. Nun nimm schon. Ist `ne Spende. Ausnahmsweise."

 

   Kimberly hatte keine Ahnung, wie Ben es anstellte, aber irgendwie schaffte er es immer wieder, Gras aufzutreiben. Vor einer Weile hatte er den Stoff noch grosszügig innerhalb der Clique verteilt. In letzter Zeit verlangte er aber immer häufiger, dass seine Freunde dafür bezahlten. Da die Spenden also sehr selten geworden waren, und Kimberly außerdem keine Spielverderberin sein wollte, griff sie rasch zu und kramte parallel mit der anderen Hand ein Feuerzeug aus ihrer Jeans. Kaum hatte sie es ans Tageslicht befördert, spürte sie wie Bens Faust sich unvermittelt fast wie ein Schraubstock um ihre Hand legte.

 

   „Nicht hier!", zischte er wütend. „Bist du komplett verrückt geworden? Wir treffen uns später noch mit ein paar Leuten beim Einkaufszentrum. Nachdem dieser…" Er machte eine ausschweifende Handbewegung. „…Krampf hier vorbei ist. Wenn du willst, komm vorbei. Wenn nicht…“ Er zuckte mit den Schultern. „…rauch´s halt alleine. Ist mir egal. Auf jeden Fall nicht hier. Klar?“

 

   Achselzuckend verstaute Kimberly schweigend Joint und Feuerzeug in ihrer Tasche. Ob sie tatsächlich nach der Fete noch mit den Anderen zum Einkaufszentrum ging, würde sie später entscheiden, aber was sie hatte, hatte sie. Die Vorstellung, den Stoff später ganz alleine zu rauchen war zwar irgendwie blöd, aber andererseits ging Ben ihr mit seinen extremen Ansichten in letzter Zeit zunehmend auf die Nerven. Da erschien ihr eine Pause von Ben und dem Rest der Clique durchaus verlockend.

 

   „Suzie", flötete Ben gerade in Suzannes Richtung und winkte gleichzeitig. „Kommst du bitte mal?"

 

   Suzanne, die sich immer noch angeregt mit Tom am Buffet unterhielt, drehte sich nur kurz zu ihnen um: „Gleich. Moment noch."

 

   Kimberly bewunderte Suzanne dafür, wie die danach ohne zu zögern ihre Unterhaltung mit Tom fortsetzte. Sie wünschte, sie könnte genauso selbstbewusst agieren, ohne sich ständig Sorgen darum zu machen, wie ihre Umwelt auf diese oder jene Entscheidung von ihr reagierte. Ihr Blick streifte Ben und sie zuckte unwillkürlich erschrocken zusammen. Das gutaussehende Gesicht des Anführers der Clique hatte sich urplötzlich zu einer hässlichen Fratze verzogen.

 

   „Verfluchte Zicke“, zischte er böse. „Dir werd´ ich schon noch zeigen wo´s lang geht.“

 

   Bens Verhalten verhieß nichts Gutes. Im Gegenteil, sein Verhalten war beunruhigend, sogar äußerst beunruhigend. Kimberly beschloss, künftig Augen und Ohren offenzuhalten. Es konnte nichts schaden.

 

18. Kapitel

 

   „Es ist eine absolute Pleite", klagte Suzanne Tom ihr Leid. „Sieh´ dir diesen Mist an. Ehrlich, ich könnte kotzen.“

   Der grinste tröstend. „Ach, komm. So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Wir amüsieren uns doch."

   „Ja, toll! Ich seh´s. Aber jeder für sich! Du weißt, dass ich das anders geplant hatte. Ganz anders.“

   „Ja, natürlich. Aber ich alleine kann es nicht ändern. Das hast du doch gerade wieder gesehen", antwortete er in Anspielung auf die kurze Episode mit Kimberly.

   „Allerdings. – Mann, Tom, ich bin so was von enttäuscht. Ich hatte mir wirklich viel von diesem Abend versprochen."

   „Ich weiß. Wenn du mich fragst, hast du dir schlicht zu viel zu schnell vorgenommen.“ Tom legte aufmunternd eine Hand auf Suzannes Unterarm und drückte ihn leicht. „Suzanne, sieh´ es doch ein. Was sich hier in all den Jahren festgefahren hat lässt sich unmöglich innerhalb von ein paar Wochen ändern. Deine guten Vorsätze in allen Ehren, aber du musst uns etwas mehr Zeit lassen", bat er. „Uns allen.“

   „Ja, vermutlich hast du recht. – Sag mal, Wo steckt eigentlich dein sauberer Freund?", erkundigte sich Suzanne nun, wobei ihre Tonlage unvermittelt von deprimiert auf verärgert umschwang. Den ganzen Abend über hatte sie darauf gewartet, dass Marc auftauchte, doch inzwischen hatte sie die Hoffnung begraben, dass er dies noch tat. Es ärgerte sie, dass er nicht da war, um sie zu unterstützen. Aber die Erkenntnis, dass er dazu imstande war, sie, selbst wenn er nicht anwesend war, derartig in Rage zu bringen, machte sie noch wütender. Hinzu kam, dass sie sich von ihm verraten fühlte – immerhin hatte er sein Kommen fest zugesagt. „Erst spuckt er große Töne und wenn es dann darauf ankommt kneift er."

   „Er hat keine großen Töne gespuckt", stellte Tom prompt nüchtern fest. „Marc hat lediglich versucht dir klarzumachen, dass er das Ganze für keine gute Idee hält. Trotzdem wollte er kommen. Er hat es mir selbst gesagt. Es muss ihm irgendetwas Wichtiges dazwischengekommen sein. Normalerweise kann man sich auf sein Wort verlassen. Ehrlich, ich hab´ keine Ahnung, wo er bleibt.“

   „Natürlich", antwortete Suzanne und ließ, aufgrund ihres Tonfalls, keinen Zweifel daran, dass Toms Worte sie nicht überzeugt hatten. Sie war mehr denn je fest davon überzeugt, dass Marc seine Zusage nur gegeben hatte um in Ruhe gelassen zu werden, und dass er nicht eine Sekunde lang tatsächlich vorgehabt hatte, zu ihrer Party zu kommen. 

   Der junge Afrikaner zuckte mit den Achseln. „Glaub´ mir, ich wüsste selber gerne wo er steckt. Warten wir es ab, vielleicht kommt er ja noch.“

   Suzanne hob eine Hand. „Nein, bitte. Lass gut sein. Du brauchst ihn nicht zu verteidigen. Der Typ kann mir von jetzt an gestohlen bleiben. Ich brauche seine Hilfe nicht.“ Sie straffte den Rücken. „Nein, ich werd´s auch ohne ihn schaffen“, sagte sie entschlossener denn je, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

**********

   Marc stand inzwischen ziemlich ernüchtert vor der kleinen Bar in deren Hinterzimmer er mittlerweile Stammgast war. Er strich sich die Haare zurück, hieß den Luftzug auf seiner Haut willkommen und atmete ein paarmal tief durch. Der Abend war wirklich alles andere als gut für ihn gelaufen. Fatal wäre die deutlich treffendere Bezeichnung und selbst das wäre noch geprahlt. Im Nachhinein betrachtet hätte er schon vor Stunden aussteigen müssen. Doch wie sagt man so schön: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Er war wie in einem Tunnel gewesen, dessen Licht am Ende er einfach nicht hatte sehen wollen.

   Immer weiter, immer noch ein Spiel.

   Ein allerletztes Spiel.

   Er war sich so verdammt sicher gewesen, dass die Wende nah war. Dass sie kommen musste. Doch sie war nicht gekommen. Wie schon in den letzten Tagen hatte die Glücksgöttin sich als eine miese Verräterin erwiesen, die ihn schmählich im Stich gelassen hatte. Je länger der Abend gedauert hatte, desto mehr hatte er sich sogar noch an Einsätzen beteiligt, die er sich im Grunde schon gar nicht mehr leisten konnte.

   Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm plötzlich bewusst, in was für Probleme er sich durch sein unüberlegtes Handeln hineinmanövriert hatte. Der größte Teil seines College-Geldes war Geschichte. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wie er das seinem Vater plausibel machen sollte. Der würde toben wenn er davon erfuhr, soviel war klar. Was das für weitreichendere Folgen für ihn selbst haben konnte, darüber wollte Marc lieber gar nicht erst nachdenken.

   Das Problem war nur, dass er seine Probleme sicher nicht mehr ewig würde verheimlichen können. Ergo gab es nur eine einzige Möglichkeit, die Sache wieder gerade zu biegen: Er musste so schnell wie möglich versuchen, das Geld zurück zu gewinnen. So eine Pechsträhne konnte schließlich nicht ewig dauern. Die Soldaten hatten ihn eben, als er sich verabschiedet hatte, für die nächste Woche zu einem richtig grossen Spiel eingeladen. Ein sollte ein Abend ohne Limits. werden Das war seine grosse Chance, sich alles und womöglich noch mehr zurückzuholen. Womöglich war es sogar seine letzte Chance, bevor er aufflog. Er musste einfach mehr mit Köpfchen spielen. Viel cooler. Natürlich würde er haushalten und das ihm verbliebene restliche Kapital vernünftig einsetzen müssen. Mehr mit Bedacht, und nur wenn er wirklich eine realistische Chance für sein Blatt sah. Wenn er sich strikt an diesen Plan hielt und sich nicht wieder dazu verleiten ließ, auf Teufel komm raus alles zu riskieren, dann konnte eigentlich gar nichts schiefgehen.

   Marc atmete einmal tief durch, warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte im selben Augenblick tief. Das Leuchtdisplay zeigte ihm an, dass es bereits kurz nach Mitternacht war. Na toll: Wieder einmal hatte er völlig die Zeit vergessen. In der Botschaft brauchte er jetzt auch nicht mehr aufzuschlagen. Na ja, so richtige Lust auf diese merkwürdige Fete hatte er sowieso nicht gehabt. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Er kannte Suzanne zwar nicht gut, aber so wie er sie einschätzte war sie jetzt wahrscheinlich ziemlich sauer auf ihn – schließlich hatte er sein Erscheinen fest zugesagt.

   Aber bitte. Sollte sie doch! Das kratzte ihn nicht. Immerhin hatte er nichts weiter mit ihr zu schaffen. Er hatte derzeit weiß Gott genügend eigenen Stress. Mehr Probleme brauchte er mit Sicherheit nicht. Seines Erachtens war der Völkerverständigung völlig genüge getan, wenn er morgen mit seinem Vater zu diesem dämlichen Empfang in die Botschaft ging.

   Trotzdem … irgendwie war er neugierig. Er schwang sich auf sein Motorrad und anstatt auf direktem Weg nach Hause zu fahren, lenkte er seine Kiste in Richtung Stadt und machte noch einen Abstecher zur Botschaft raus. Da er nicht gesehen werden wollte, stellte er das Motorrad vor der letzten Ecke ab, und ging das restliche Stück Weg zu Fuß. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite duckte er sich hinter einen geparkten Lieferwagen und versuchte von dort aus, zu erkennen, was in der Botschaft vor sich ging. Komisch, nichts deutete auf eine ausgelassene Party von Jugendlichen hin. Alles war ruhig. Sollte diese denkwürdige Feier etwa schon vorbei sein?

   Gerade als Marc sich aufrichten und auf den Rückweg machen wollte, wurde im gegenüberliegenden Gebäude die Außenbeleuchtung eingeschaltet. Das nächtliche Dunkel wurde unversehends in ein helles, gleißendes Licht getaucht, da hierbei nicht nur die Lampe am Haus anging, sondern gleichzeitig der komplette Weg bis zum Gartentor ausgeleuchtet wurde. Der heimliche Beobachter blinzelte und murmelte ein leises „Wow“ und ging rasch wieder in Deckung. Angestrengt beobachtete er was sich drüben tat.

   Die Haustür öffnete sich und Suzanne kam, gefolgt von Ben und seiner Clique, heraus. Na super, dachte er, ausgerechnet die. Aber die allgemeine Stimmungslage schien nicht besonders gut zu sein. Marc gelang es einen Blick auf Suzannes Gesichtsausdruck zu werfen, während sie ihre Freunde zum Gartentor begleitete. Sehr begeistert wirkte sie nicht, wie Marc mit einer gewissen Befriedigung feststellte.

   „Okay", sagte sie gerade. „Kommt gut nach Hause. Wir sehen uns ja dann morgen schon wieder."

   Durch die nächtliche Stille konnte Marc in seinem Versteck jedes Wort deutlich verstehen. Suzannes Stimme klang irgendwie deprimiert und ihre Körpersprache sprach Bände. Fast konnte sie einem leid tun. Er beobachtete, wie Benjamin das Mädchen kurz an sich drückte:

   „Hey, Suzie, mach dir keine Gedanken. Du hast es wenigstens versucht. Ist doch nicht deine Schuld, dass es nicht funktioniert hat.“

   Der stumme Beobachter ballte unbewusst eine Faust. Ben war ein Meister im Verdrehen der Tatsachen. Es klang tatsächlich so, als würde er bedauern, dass die Fete offensichtlich kein Erfolg gewesen war und Suzanne fiel auch noch darauf herein. Marc drehte sich der Magen um, als er Ben so falsch daherreden hörte. Eines musste man dem Typen tatsächlich lassen: Sein Klassenkamerad war ein guter Schauspieler, etwas dass ihm selbst völlig abging. Interessant fand er, dass Ben offensuchtlich eine neue Taktik verfolgte.

   „Ich denke immer noch, dass es klappen könnte“, hörte er nun wieder Suzanne. Dieses Mal kam sie etwas verzerrt bei ihm an, da ihr Kopf immer noch an Bens Schulter ruhte.

   „Du bist eine richtige Weltverbesserin", antwortete Ben und schob Suzanne sanft zurück. Dann fasste er sie mit beiden Händen an den Schultern und blickte ihr ernst ins Gesicht. „Aber, sieh´ mal, hier ist soviel den Bach runtergegangen…“ Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich fürchte wirklich, es ist zu spät die Risse zu kitten."

   Im Lichtkegel war Suzannes erstaunter Gesichtsausdruck deutlich zu erkennen.

    „Nun guck doch nicht so. Du hast es doch heute Abend selber miterlebt: Die Eingeborenen betrachten uns als Eindringlinge und würden alles tun, um uns wieder loszuwerden. Ich wünschte, es wäre anders, aber so ist es nun mal.“

   `Nicht ungeschickt', dachte Marc. `Der Arsch arbeitet methodisch.´

   Auf der anderen Straßenseite löste Suzanne sich jetzt von Ben und trat einen Schritt zurück. „Aber das ist doch nicht wahr", widersprach sie heftig. „Das ist doch Müll was du da sagst.“

   Marc konnte sich gut vorstellen, wie unsagbar wütend Ben Suzannes Worte machen mussten. Er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach und er hatte schon des Öfteren bewiesen, wie sehr er das hasste. Leider gelang es ihm dieses Mal, sich vor den anderen zu beherrschen. Er hob lediglich eine Hand und tätschelte Suzanne wohlwollend wie einem kleinen Kind die Wange.

   „Eines Tages wirst du schon noch dahinter kommen, dass ich Recht habe", sagte er gönnerhaft.

   „Verdammt, Suzanne, wieso lässt du dir das gefallen?", murmelte Marc fassungslos vor sich hin, während er gleichzeitig angestrengt weiterlauschte, um nichts zu verpassen.

   „Ich könnte dir Storys erzählen...", fing Ben gerade wieder an.

   „Ja? Was für Storys?", wollte Suzanne daraufhin wissen. „Ich finde deine ständigen Andeutungen Scheiße. Sprich halt aus, was du meinst.“

   „Nein, Suzie, ich werde nichts mehr zu dem Thema sagen. Ich halte es für besser, wenn du selber herausfindest was hier so abgeht."

   Suzanne blickte Benjamin zweifelnd an.

   „Der Typ sollte Politiker werden“, grummelte Marc. „Ich fass´ es nicht.“

   „Ehrlich", sagte Ben nun. „Deine Mutter tut mir jetzt schon leid. Aber mein Vater wird ihr natürlich unter die Arme greifen und helfen, wo er nur kann."

   „Klar, ganz bestimmt.“ Marc konnte kaum noch an sich halten. Am liebsten würde er quer über die Straße spurten und dem Typen die Fresse polieren. „Das Arschloch macht mich krank“, zischte er stattdessen voller Abscheu.

   „Wir werden sehen", sagte Suzanne nun abschließend, aber ihre Stimme klang nicht mehr ganz so selbstsicher.

   „Genau", stimmte Ben zu, beugte sich vor und küßte sie flüchtig auf die Wange. „Wir müssen los.“

   „Ja. Bis morgen dann und gute Nacht."

   Ben und seine treue Gefolgschaft trollten sich in Richtung Wagen. Suzanne blickte der Gruppe nachdenklich hinterher – auch dann noch als die zwei Vans mit ihren Freunden längst um die Ecke gebogen waren. Schließlich hieb sie frustriert mit der flachen Hand gegen die Gitterstäbe.

   Einen kurzen Moment geriet Marc in Versuchung, aus seinem Versteck herauszukommen, um mit Suzanne zu reden. Doch dann blieb er lieber im Hintergrund. Was hätte es schon gebracht, außer vermutlich einem neuen Streit. Mit ziemlicher Sicherheit war sie eh schon sauer auf ihn und in der Gemütsverfassung, in der sie sich augenscheinlich gerade befand, war es mehr als fraglich, ob sie für seine Argumentationen überhaupt zugänglich gewesen wäre.

   Nachdem Suzanne zurück zum Haus gegangen und im Inneren verschwunden war, kam Marc aus seinem Versteck hervor und machte sich auf den Weg zu seinem Motorrad. Ja, beglückwünschte er sich noch einmal zu seinem Entschluss. Es war definitiv besser für ihn, sich aus allem herauszuhalten. Er hatte genug eigene Probleme.

 

19.  Kapitel

 

   Zu Marcs Erstaunen war sein Großvater noch wach, als er nach Hause kam. Charlie saß auf den Terassenstufen zum Haus und starrte in die Dunkelheit hinaus – neben sich eine Flasche Whisky stehend. Wie so oft in letzter Zeit, dachte Marc deprimiert. Aber durfte er sich hierüber überhaupt ein Urteil erlauben? Sicherlich nicht. Jeder versucht seine Probleme halt auf seine Weise zu lösen, dachte er, begrüßte Charlie durch ein kurzes Nicken und ließ sich schweigend neben ihm nieder. Für eine Zeitlang hing jeder seinen Gedanken nach.

   Obwohl Marc seinen Großvater, wie alle anderen auch, beim Vornamen nannte, hatte er großen Respekt vor ihm und hing mit viel größerer Liebe an ihm, als es rein äußerlich den Anschein hatte. Für ihn war Charlie weit mehr als nur sein Großvater. Ein Leben ohne den bärbeißigen, alten Mann mit den wirren grauen Haaren war für ihn kaum vorstellbar. Seitdem er denken konnte war Charlie eine Konstante in seinem Leben gewesen. Zuverlässig und immer da, wie ein Fels in der Brandung.

   Charlie war der Mentor seines Vaters gewesen, schon lange bevor er, Marc, geboren wurde. Zu Beginn nur als eine Art väterlicher Freund, denn John Gilbert hatte ein Familienleben im üblichen Sinne nie kennengelernt. Er und sein Bruder kamen aus zerrütteten Famiienverhältnissen und waren in Pflegefamilien aufgewachsen. Marcs Großvater war damals Dozent an der Universität gewesen, an der John durch eiserne Disziplin und viel Lernen ein Stipendium für Medizin ergattert hatte. Charlie hatte schon früh das Potential des jungen Studenten erkannt und ihn gefördert, wo er konnte. Während des Studiums verliebte sich John in Joyce, Charlies einziger Tochter, und schon nach kurzer Zeit hatten die Beiden geheiratet.

   Nach Beendigung des Studiums fand John nicht gleich eine Anstellung und so war er, zunächst mehr aus Verlegenheit, dem Militär beigetreten. John hatte sich viel von einer Karriere beim Militär versprochen, doch schon nach kurzer Zeit kam es zu Differenzen mit seinen Vorgesetzten, woran seine Beziehung zu Joyce nicht ganz unschuldig gewesen war. Als die Situation schließlich untragbar wurde, hatte John die Konsequenzen gezogen und das Corps wieder verlassen. Zu diesem Zeitpunkt war die ursprünglich eher von Dankbarkeit geprägte Beziehung zu Charlie längst einer tiefen Verbundenheit und Freundschaft gewichen.

   Nach Johns Austritt aus dem Militär hielt die jungen Eheleute nichts mehr in Amerika. Sie überzeugten Charlie seinen sicheren Dozentenjob zu kündigen und gemeinsam mit ihnen auszuwandern. Sie zogen nach Afrika und verwirklichten dort ihren Traum von einem besseren und vor allen Dingen zufriedeneren Leben. Von Charlies Ersparnissen kauften sie Land und bauten aus dem Nichts ihre Station auf. Zu Beginn war es nicht einfach gewesen, doch nach anfänglichen Schwierigkeite lief alles gut. Sie behandelten Menschen sowie auch Tiere und forschten parallel in ihrem angeschlossenen Labor nach neuen Heilmitteln und entwickelten Gegenmittel und Seren. Bereits nach kurzer Zeit hatte sich die Station einen Namen gemacht, und die Patienten strömten von überall her. Das einzige Problem war, dass es mit der Bezahlung oftmals haperte, so dass sie sich schon damals oft am Rande der Pleite bewegten. Ein Fakt, den sie aber bislang noch immer durch ihren unbändige Enthusiasmus und die vielen, freiwilligen, unentgeltlichen Helfer hatten abwenden können. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass es über die Jahre hinweg immer enger geworden war.

   Als Marc vor 18 Jahren geboren wurde, schien noch alles perfekt – bis zu dem Tag als Joyce Gilbert völlig überraschend durch einem Schlangenbiss starb. Ausgerechnet das Gegenmittel, das ihr das Leben hätte retten können, war nicht rechtzeitig verfügbar gewesen. Marc hatte im Laufe der Jahre viele Gespräche mit Toms Mutter geführt und dabei viel über die Vergangenheit erfahren, über die seine beiden engsten Bezugspersonen sehr lange Zeit nicht hatten sprechen wollen. Von Toms Mutter wusste Marc auch, wie sehr der Tod seiner Mutter seinen Vater und Großvater mitgenommen und wie viel sich seitden verändert hatte.

   Sein Vater und Großvater hatten lange nicht verwinden können, dass sie im Laufe der Jahre alle möglichen Dinge in dem medizinischen Labor entwickelt und trotzdem ausgerechnet der wichtigsten Frau in ihrem Leben nicht hatten helfen können. Doch das Leben war weitergegangen und die Station hatte ihren Tribut gefordert. John hatte das irgendwann akzeptiert und einfach weitergemacht. Er hatte geackert und gemacht und getan, was er konnte, um seinen und Joyces Traum, die Station, am Leben zu erhalten. Auch Charlie hatte sich scheinbar wieder berappelt und führte schließlich, Monate nach dem tragischen Unglücksfall, das Labor ohne seine Tochter weiter. Er schien wie besessen davon, immer wieder neue Mittel zu entwickeln, um den Menschen und Tieren in der Region besser helfen zu können. Allerdings hatte es bereits damals erste Probleme mit seinem Alkoholkonsum gegeben.

   Vor ein paar Jahren hatten sie dann wegen der fehlenden finanziellen Mittel das Labor schließen und die Forschungsarbeiten einstellen müssen. Zunächst vorübergehend, doch schließlich für immer. Seitdem half Charlie immer da aus, wo gerade Not am Mann war. Er hatte es kategorisch abgelehnt zurück in seine alte Heimat zu gehen, obwohl er in Amerika immer noch einen blendenden Ruf als Wissenschaftler genoss. Es hatte im Laufe der Jahre immer wieder Angebote gegeben, die es ihm ermöglicht hätten, wieder als Dozent an einer Universität oder auch in der medzinischen Forschung zu arbeiten, doch er hatte rigoros alle Avancen in den Wind geschlagen. Eigentlich unvorstellbar, dachte Marc, als er seinem Großvater einen schnellen Seitenblick zuwarf. In Amerika wäre es Charlie mit Sicherheit gelungen, sich wieder auf gute und solide Füße zu stellen. Er jedoch hatte die immer größer werdende Unsicherheit der Station vorgezogen und war geblieben.

   Als es in der letzten Zeit jedoch immer schlechter um die Zukunft der Station bestellt war, traten Charlies Alkoholprobleme wieder stärker in den Vordergrund. Oft hatte er schon zu Mittag eine Fahne, doch es war als gäbe es eine stillschweigende Vereinbarung aller derer, die auf der Station arbeiteten. John und alle anderen wussten zwar Bescheid, doch solange Charlie sich im Griff hatte und keine Fehler machte, wurde nichts unternommen, und niemand sprach ihn darauf an.

   Marc spürte einen Stups und drehte den Kopf zur Seite. Sein Großvateer bot ihm schweigend die Flasche an, doch er lehnte mit einer müden Handbewegung ab.

   „Hilft trinken eigentlich was?", rutschte es ihm unbedacht heraus.

   „Hm…“ Charlie blickte ihn von der Seite her schief an. „Ich weiß nicht. Gegenfrage, hilft dir die Qualmerei?"

   „Wie jetzt? Was meinst du?" Marc blickte seinen Grossvater überrascht an. „Ich rauche nicht."

   Charlie zog die buschigen Augenbrauen in die Höhe. „Ach, nein?“

   „Nein. Was bringt dich auf die Idee?"

   „Na ja, du stinkst neuerdings jedes Mal wie ein überquellender, abgestandener Aschenbecher, wenn du nach Hause kommst. Dein Vater fragt sich übrigens auch schon, wo du andauernd rumhängst."

   Marc erschrak. Verdammt! Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. „Mein Güte, ich war auf einer Party", antwortete er jedoch leichthin. „Da sind immer einige, die rauchen.“

   „Jeden Abend `ne Party, was?“

   „Blödsinn! Selbst wenn: Glaubst du nicht ich bin alt genug, selber zu entscheiden, ob ich rauchen will oder nicht?"

   „Wenn du es so siehst … kommt immer drauf an, was du rauchst.“

   „Mit Drogen hab´ ich nichts am Hut, falls du das denken solltest“, knurrte Marc unwillig darüber, dass sein Großvater das überhaupt in Erwägung zog.

   „Dann ist es ja gut“, antwortete Charlie ruhig. „In dem Fall bist du natürlich alt genug, selber zu entscheiden, was du tust. Aber findest du nicht, dass du mir dann ebenfalls zugestehen solltest, dass ich auch alt genug bin, um zu entscheiden, was und wieviel ich trinke." Sein Großvater stand auf und ging leicht torkelnd mit schweren Schritten zum Hauseingang. In der Tür stehend drehte er sich noch einmal zu seinem Enkel um: „Es geht hier nicht um mich, Junge", sagte er sehr ernst. „Deinem Vater bricht es das Herz wenn wir die Station verlieren – bau du jetzt nicht auch noch Scheiße. Das wäre das Letzte, was er jetzt brauchen kann. Hörst du, das hat er nicht verdient.“

   Marc fühlte sich durchschaut. Sein schlechtes Gewissen brachte ihn dazu, unter die Gürtellinie zu schießen. „Ach ja, meinst du? Pack dich mal an die eigene Nase. Vielleicht solltest du ja mit der verdammten Sauferei aufhören? Ich dachte immer, du wärst Dads bester Freund. Wieso lässt du ihn dann derartig hängen?“

   Durch Charlies Körper ging ein Ruck und er schüttelte traurig den Kopf: „Du weißt ja nicht mehr was du redest, Junge?"

   „Findest du? Ja? Dad reißt sich hier den Arsch auf und was tust du? Nichts! Verdammt noch mal: Du tust weniger als Nichts. Du vegetierst doch einfach nur noch vor dich hin. Das ist erbärmlich.“ Marc hatte kaum ausgesprochen, da ging ihm auf, was er da gerade von sich gegeben hatte. Wer war er, dass er seinem Großvater solche Vorhaltungen machen konnte? „Es tut mir leid“, schickte er kleinlaut hinterher. „Ich hab´s nicht so gemeint.“

   Sein Großvater ließ den verbalen Angriff regungslos über sich ergehen. Es entstand eine peinliche Pause, bevor er schließlich tonlos sagte: „Oh, doch. Das hast du. Und vielleicht hast du ja sogar recht. Vielleicht bin ich erbärmlich. Aber eins kannst du mir glauben: Die Station liegt mir am Herzen. Ihr liegt mir am Herzen. Dein Vater und du. Ich zeig´s vielleicht nicht immer, aber es ist so.“

   „Und warum tust du dann nichts um die Situation zu ändern?“, konterte Marc scharf.

   „Tust du denn etwas?“, lautete die Gegenfrage. „Ich meine, außer auf … Partys zu gehen?“

   „Ich … ich versuch´s wenigstens“, antwortete Marc leise und hatte sofort wieder die Verluste der vergangenen Tage vor Augen.

   „Möchtest du vielleicht mit mir darüber reden?“, forschte Charlie.

   „Nein“, reagierte Marc eine Spur zu schnell, wie er selber bemerkte. „Noch nicht“, legte er nach. „Ist einfach noch nicht spruchreif.“

   „Okay.“ Charlie kam zurück, legte seinem Enkel eine Hand auf die Schulter und drückte sanft zu. „Ich muss da noch was loswerden, ob du es nun hören willst, oder nicht.“

   Marc wollte etwas erwidern, doch sein Großvater bemerkte es und unterbrach ihn schon im Ansatz: „Nein, bitte. Hör mir einfach nur kurz zu. Ich will nicht, dass du denkst, es ginge bei Allem nur um die Station. Es gibt da nämlich definitiv etwas, das deinem Dad noch wichtiger ist. Du! Du bist für ihn das Wichtigste auf der Welt. Ich hoffe, du bist dir dessen bewusst und trittst seine Gefühle nicht mit Füßen.“

   „War es das?“, fragte Marc gepresst und starrte zu Boden.

   „Ja. Ja, das war´s.“ Noch einmal spürte Marc den sanften Druck von Charlies Hand auf seiner Schulter. „Gute Nacht, Junge.“

   Charlie verschwand im Haus und Marc verbrachte noch eine sehr nachdenkliche Stunde auf den Stufen, bevor er seinem Grossvater schließlich ins Haus folgte.

 

20.  Kapitel

 

   John klopfte an die Zimmertür seines Sohnes. „Marc? Bist du da?“

   „Ja, komm rein", klang es dumpf durch die Tür.

   John betrat das Zimmer und fand Marc noch im Bett liegend vor. „Sag, dass das nicht wahr ist“, entfuhr es ihm rechtschaffen entsetzt. „Hast du etwa geschlafen?"

   Marc streckte sich ausgiebig und gähnte: „Ja. Gestern ist es spät geworden. Hey, meine Arbeit hab´ ich gemacht – ich hab´ mich halt nur danach noch mal hingehauen."

   „Alles gut“, ruderte John zurück. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte war ein schlecht gelaunter Sohn. „War es denn wenigstens nett? Gestern, meine ich.“

   „Ja, klar", antwortete Marc, konnte seinem Vater dabei aber nicht in die Augen sehen. Rasch wechselte er das Thema, bevor womöglich noch mehr Fragen gestellt wurden. „Was liegt an?"

   „Na ja…“ John blickte vielsagend auf seine Armbanduhr. „Der Empfang in der Botschaft? Erzähl mir bloß nicht, dass du das vergessen hast. Wir wollen in einer Stunde los. Willst du dich nicht langsam fertig machen?"

   „Was? Jetzt schon. Dad, dafür brauche ich zehn Minuten – maximal.“

   Sein Vater zog die Augenbrauen hoch. „Kann ich darauf zählen, dass du dir was Vernünftiges anziehst.“

   Marc verzog das Gesicht. „Mir hat keiner was von einer Kleiderordnung gesagt. Sollte es eine geben, bleibe ich wohl besser hier."

   „Ich weiß nicht, ob es eine gibt, aber es handelt sich immerhin um einen Botschaftsempfang. Du weißt, dass ich dir da sonst nicht reinrede, aber heute finde ich, du..."

   „Okay, okay.“ Sein schlechtes Gewissen ließ Marc überraschend schnell einlenken. „Du hast gewonnen. Ich werde mal meinen Fundus durchstöbern und schauen, was er hergibt.“

   „Ernsthaft?", fragte John, offensichtlich verblüfft darüber, dass es so leicht gewesen war, seinen Sohn zu überzeugen.

   Marc grinste kurz. „Ja, aber ich ziehe definitiv keinen Anzug an. Ich käme mir lächerlich vor."

   „Gut, einverstanden. Aber auch nichts zerfetztes, okay?"

   „Versprochen. Gib mir `ne halbe Stunde, dann bin ich unten."

   „In Ordnung. – Und Marc?"

   „Was denn noch?“

   „Bitte sei dort ausnahmsweise mal höflich.“

   „Bin ich doch immer.“ Marc musste insgeheim lächeln. Sein Vater benahm sich wie ein Teenager vor seinem ersten Rendevouz. Er stichelte: „Ehrlich, man könnte fast glauben, es geht dir nicht um die Station, sondern um die Frau Botschafterin." Als er jedoch daraufhin den Gesichtsausdruck seines Vaters bemerkte gefror ihm das Lächeln im Gesicht: „Oh nein, bitte sag, dass das nicht wahr ist. Ich habe recht, nicht wahr? Es geht dir um die Frau. Du willst Eindruck schinden."

   Sein Vater setzte sich zu ihm auf die Bettkante. „Nicht ganz. Natürlich geht es mir auch um die Station. Sie ist schließlich unser aller Existenz."

   „Aber...?"

   John holte tief Luft. „Aber Gilian ist tatsächlich eine tolle Frau. Ich gebe zu, dass sie hat großen Eindruck auf mich gemacht hat. So, wie es mir schon lange nicht mehr passiert ist. Was ist so schlimm daran? Stört es dich?“

   `Auch das noch', dachte Marc. Laut sagte er: „Nein, ich finde es nur ein wenig unpassend – unter den gegebenen Umständen. Ihr nennt euch schon beim Vornamen?", forschte er nach.

   Sein Vater lächelte ein wenig traurig. „Nein, mach dir keine Gedanken. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es aussichtslos ist. Aber trotzdem darf ich mich doch darauf freuen, sie wiederzusehen.“ Er blickte seinen Sohn fragend an. „Oder etwa nicht?"

   „Natürlich", antwortete Marc. Die Offenheit seines Vaters überraschte ihn. „Dad, du bist mir keinerlei Rechenschaft schuldig."

   Sein Vater nickte: „Ich weiß.“ Er verabreichte seinem Sohn eine leichte Kopfnuss und stand auf. „`Ne halbe Stunde. Ich nehm´ dich beim Wort. Bis gleich.“

   Nachdem sein Vater das Zimmer verlassen hatte, ließ Marc sich rücklings zurück auf die Matratze fallen und rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Zurzeit ging aber auch wirklich alles schief. Es war wie verhext. Er gönnte seinem ja Vater eine neue Beziehung von ganzem Herzen, aber dass der sich ausgerechnet in die Mutter der Nervensäge verknallen musste, war nun echt nicht nötig. Zugegeben: In dieser Gegend war die Auswahl nicht gerade groß, aber trotzdem...

**********

   Knapp eine Stunde später machte sich die Belegschaft der Station tatsächlich geschlossen mit mehreren Fahrzeugen auf den Weg in die Stadt. Kaum zu glauben, aber John Gilbert war es tatsächlich gelungen einen kleinen Blumenstrauß aufzutreiben. Es war allerdings nicht zu übersehen, dass die Hitze dem Naturprodukt schon arg zugesetzt hatte.

   Marc hatte versucht, ihm das Teil auszureden, aber er war kläglich gescheitert. Er fand das nur peinlich und hoffte inständig, dass sein Vater sich in der Botschaft mit diesem Unkraut nicht bis auf die Knochen blamieren würde. Er konnte seinen alten Herrn nämlich – trotz aller Nickligkeiten – wirklich gut leiden.

   Immerhin – wenigstens hatte sein Outfit Gnade vor den kritischen Augen seines Vaters gefunden. Marc hatte in seinem Amerika-Koffer, wie er ihn heimlich nannte, gestöbert und sich für eine schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt und ein helles Leinenjakett entschieden. Dazu trug er dunkle Sneakers. Ursprünglich hatte er sein langes Haar im Nacken durch einen Zopf bändigen wollen, sich das aber im letzten Moment noch anders überlegt. Er trug es offen und spürte, wie die langen Enden sich jetzt am ungewohnten, etwas steifen Kragen des Jacketts stießen und ihn im Nacken kitzelten.

   „Kannst du nicht wenigstens heute den Ohrring weglassen?", hatte  sein Vater ihn gebeten, aber da hatte er bei Marc auf Granit gebissen.

   „Niemals", hatte er knapp geantwortet. „Kommt nicht in Frage. Der bleibt genau da, wo er ist."

**********

   John klopfte erst, als sich alle seine Leute vor dem Haupteingang der Botschaft eingefunden hatten. Beinahe unmittelbar darauf öffnete ein älterer Mann in einem eleganten Cut und weißen Handschuhen die Tür.

   „Guten Abend. Sie müssen Gregory sein", begrüßte John den Mann freundlich und streckte seine Rechte aus, die jedoch geflissentlich übersehen wurde.

   Stattadessen nickte Gregory andeutungsweise, trat zwei Schritte beiseite und gab den Eingang frei. „Bitte, treten Sie ein.“

   „Okay, na dann.“ John zuckte mit den Schultern, deutete eine Verbeugung an und stellte dann sein Gefolge und sich vor. „John Gilbert und Famlie.“

   Gregory nickte, ohne eine Miene zu verziehen. „Folgen Sie mir."

   Er ging voraus zum Gesellschaftsraum, aus dem schon angeregtes Plaudern zu vernehmen war. Die Flügeltüren, die in den Garten führten, waren weit geöffnet und Marc fiel sofort auf, dass auch bei dieser Veranstaltung die Parteien offensichtlich getrennt voneinander feierten. Draußen tummelten sich die Afrikaner mit ihren Familien in einem bunten Durcheinander, während drinnen die Militärangehörigen in Ausgehuniformen mit ihren durchgestylten Gattinnen und nicht minder aufgebrezeltem Nachwuchs steif herumstanden und sich in höflichem Small-Talk übten. Jedes Mal, wenn aus dem Garten fröhliches Gelächter nach innen drang, warf man sich vielsagende und eindeutig vorwurfsvolle Blicke zu. Na, dachte Marc, das kann ja heiter werden.

   Nachdem die Gruppe um John Gilbert - weiß und farbig gemischt – den Raum betrat, wurde es augenblicklich still. Alle Anwesenden blickten ihnen entgegen und die Atmosphäre in dem geräumigen Zimmer wurde deutlich frostiger. Marc registrierte aus dem Augenwinkel, wie sein Vater plötzlich hektisch versuchte, den Blumenstrauß in seiner Hand zu tarnen. Sie befanden sich mitten im Raum, so dass sich leider keine Gelegenheit für John ergab, das Gestrüpp unauffällig loszuwerden. Ein trauriges Lächeln schlich über Marcs Gesicht. Vermmutlich verstand sein Vater erst jetzt so richtig, was er ihm vorhin hatte klarmachen wollen. Sicherlich eine schmerzhafte Erkenntnis. Er musste sich vorkommen, wie ein kleiner, dummer Hinterwäldler.

   „Lasst uns raus zu den Anderen gehen", sagte John zu seinen Leuten und ging voraus. Die nickten und folgten ihrem Boss in den Garten.

   „Hey, Marc. Nett, dich zu sehen. Ich wusste ja gar nicht, dass du einen Sonntagsstaat besitzt“, höhnte Ben, als die Gruppe am Stehtisch von General McAllister und seiner Familie vorbeikamen.

   Marc machte unwillkürlich eine Faust, presste die Lippen zusammen, senkte den Kopf und studierte den edlen Parkettfußboden. Er hatte den warnenden Blick über die Schulter seines Vaters sehr wohl bemerkt. Der wäre allerdings nicht nötig gewesen. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass es besser war, die gehässige Bemerkung seines Klassenkameraden zu ignorieren, wenn er keinen Streit provozieren wollte. Und das empfahl sich in diesem Umfeld definitiv nicht.

   Die Mitglieder des Gilbert-Trupps hatten den Garten noch nicht ganz erreicht, als sich die hohen Saaltüren wieder öffneten und Gregory erschien. Er klatschte zweimal laut in die Hände, woraufhin sich alle Anwesenden ihm zuwandten.

   „Alle Achtung, Autorität hat er", flüsterte John seinem Sohn leise zu.

   „Ja“, gab Marc ebenso leise zurück. „Hör zu, Dad, ich finde, wir sollten verschwinden, so lange noch Zeit dazu ist. Wir passen nicht hierhin."

   Er spürte, dass sein Vater ihm insgeheim recht gab, doch es war bereits zu spät für einen unauffälligen Rückzug.

   „Ihre Excellenz, Botschafterin Banks und Tochter", verkündete Gregory laut und vernehmlich, bevor er die Flügeltüren ganz öffnete und Platz für seine Chefin und deren Tochter machte. Höflicher Applaus wurde laut.

**********

   „Oh, mein Gott", entfuhr es John leise. So sehr hatte er das Wiedersehen herbeigesehnt und jetzt hätte er Gilian fast nicht wiedererkannt. Das königsblaue, knielange Taftkleid mit dem enganliegenden Oberteil stand ihr hervorragend. Die dazu passenden Pumps und die dezente Schmuckauswahl unterstrichen die Eleganz des eher schlichten Kleides und Gilians Weiblichkeit. Perfekt geschminkt und mit offenen, weich fallenden Haaren sah sie einfach umwerfend aus.

   Leider hatte sie auf den ersten Blick nichts mehr gemeinsam mit der fröhlichen, unkomplizierten Frau, die er vor einigen Tagen in der Küche dieses Hauses kennengelernt hatte. Ist wohl auch besser so, dachte er nach dem zweiten Hinsehen. Es war zwar schmerzhaft, aber besser, er wurde jetzt aus seinen dummen Träumereien geweckt, als später – wenn es womöglich gar schon zu spät war. Er blickte sich unauffällig um und das Gefühl der Hilflosigkeit wuchs. Er musste endlich diesen lächerlichen Blumenstrauß loswerden, bevor er sich hier gleich komplett zum Idioten machte. Gilian und ihre Tochter kamen händeschüttelnd und Höflichkeitsfloskeln austauschend Meter für Meter unaufhaltsam näher. Verdammt noch mal, was hatte ihn da bloß geritten?

   In seiner Verzweiflung drückte John den Strauß kurzerhand Marc in die Hand. Der schien Gott sei Dank ebenso überrumpelt von dem Auftritt seiner Klassenkameradin, wie er von Gilians, sonst hätte das wohl kaum funktioniert. Doch Marc beobachtete seinerseits wie gebannt, wie Gilians Tochter, die wie eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter aussah, näher kam. John gestattete sich, kurz aufzuatmen, doch er hatte sich zu früh gefreut.

   „Hey, sag mal, spinnst du? Was soll ich damit?!", zischte Marc aufgebracht, als er realisierte, was sein Vater ihm da aufgebürdet hatte. „Das war deine Idee. Behalt das Unkraut gefälligst! Ich will es nicht!"

   „Marc: Ich bitte dich!" Flehentlich blickte er seinen Sohn an.

   „Nein. Alles, aber nicht das. Tut mir leid. Kommt nicht in Frage!" Damit drückte Marc seinem Vater den mittlerweile ziemlich zerfledderten Strauß genau in dem Moment zurück in die Hände, als Gregory sie mit:

   „Mr. John Gilbert und Familie!", vorstellte.

   Gilian und Suzanne waren während ihres kurzen Disputs herangekommen und standen nun direkt vor ihnen. Die Botschafterin lächelte und streckte John die Hand entgegen. Der zuckte zusammen und ließ vor Schreck prompt die Blumen zu Boden fallen.

   Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still wurde es in dem grossen Raum. Erst nach einigen schier endlosen Sekunden wurde unterdrücktes Kichern laut.

   „Oh, nein. Scheiße", flüsterte Marc und fuhr sich durchs Haar.

   Stocksteif wie ein Roboter setzte John sich in Bewegung. Er trat einen Schritt vor und reichte der Botschafterin nun endlich ebenfalls die Hand. Er öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus. Die Botschafterin ergriff seine Hand und drückte sie kurz. Der direkte Körperkontakt und die spürbare Wärme ihrer Handfläche brachten John vollends aus der Fassung und er riss seine Hand förmlich zurück.

   „Mr. Gilbert, ich freue mich wirklich sehr, dass Sie und Ihre Familie meiner Einladung gefolgt sind", sagte Gilian mit einem Lächeln und tat so, als hätte sie seine überspitzte Reaktion gar nicht bemerkt. Offenbar versuchte sie, ihm aus der Verlegenheit zu helfen, doch er brachte immer noch kein Wort heraus. „Ich bin mir bewusst, dass Sie den weitesten Weg auf sich nehmen mussten. Umso mehr freue ich mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.“

   „Ja. Nein, ich … wir…“ John biss sich auf die Lippen und verstummte.

   „Himmel, das darf doch alles nicht wahr sein", zischte Marc unvermittelt und drückte seinen Vater entschlossen zur Seite. Er ergriff die Hand der verdutzten Botschafterin und drückte sie fest. „Vielen Dank für die Einladung. Wir freuen uns auch sehr, dass wir hier sein dürfen. Oh, ich bin übrigens Marc Gilbert. – Entschuldigen Sie kurz, ich..."

   Mit einer gewissen Fassungslosigkeit beobachtete John, wie sich sein Sohn nun hastig bückte, nach dem kümmerlichen Blumenstrauß griff und ihn der nicht minder verblüfften Suzanne in die Hand drückte. „Hier, für dich."

**********

    „Was?“ Völlig überrumpelt starrte Suzanne auf die traurigen Reste der Blumen in ihren Händen. „Für mich?"

   „Ja, sozusagen als kleine Wiedergutmachung für unseren verpatzten Start.“ Marc sprach mit Absicht so laut, dass alle Anwesenden mithören konnten und blickte Suzanne dabei beschwörend in die blauen Augen. Er konnte nur hoffen, dass sie mitspielte. Ansonsten würde alles nur noch peinlicher werden.

   Es entstand eine Pause, die sich unnatürlich lang auszudehnen schien. Suzannes Gesichtsausdruck bereitete Marc ernsthafte Sorgen. Zuerst war sie eindeutig überrascht gewesen, klar. Die Überraschung war dann jedoch einem merkwürdigen Ausdruck von Triumpf gewichen, als ihr offensichtlich klar wurde, dass sie in dieser eigenartigen Farce die weitere Regie innehatte. Bei Gott, sie würde doch wohl nicht… „Bitte“, formte Marc lautlos mit den Lippen und betete, dass er Suzanne nicht falsch eingeschätzt hatte. Gleich darauf beobachtete er zu seiner Erleichterung, wie Suzannes Züge wieder weicher wurden. Sie senkte ihre Nase kurz in den Strauß, hob den Kopf wieder und blickte ihm dann gerade in die Augen.

   „Danke", antwortete sie ebenso laut und deutlich wie Marc, wobei sie an den Blumen herumzupfte, als wollte sie retten, was nicht mehr zu retten war. Sie schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. „Das ist wirklich nett von dir. Ich bin sicher, mit der Zeit werden wir noch Freunde."

   Marc fiel ein Stein vom Herzen und er lächelte dankbar zurück. „Natürlich.“ Der peinliche Auftritt war vorüber. Die Botschafterin und Suzanne setzten ihre Vorstellungsrunde fort. Marc blies die Wangen auf und knuffte seinen Vater leicht den Ellbogen in die Seite: „Durchatmen, es ist vorbei!"

   Im Zuge seiner Erleichterung entgingen ihm Bens hasserfüllte Blicke völlig.

 

21.  Kapitel

 

 

 

   Nach dem Essen wurde die Stimmung etwas gelöster, doch es kristallisierte sich immer deutlicher heraus, dass es sich um eine Zweiklassen-Gesellschaft handelte, die hier feierte. Eine, in der ausschließlich die Gastgeberin darum bemüht war, eine Art von Gemeinschaft aufzubauen.

 

   Marc hatte sich mit Tom in eine Ecke weiter hinten im Garten zurückgezogen. Beide balancierten einen Teller in den Händen und genossen es, sich dort ohne Rücksicht auf irgendwelche Konventionen mit vollem Mund unterhalten zu können. Tom bemerkte als Erster, dass Suzanne auf sie zusteuerte und flüsterte:

 

   „Sie sieht toll aus, findest du nicht? So erwachsen." Er nickte um Marc auf Suzanne aufmerksam zu machen, und es war ihm deutlich anzuhören, wie sehr ihn Suzannes Erscheinung beeindruckte. Ihr Kleid hatte die gleiche Farbe, wie das ihrer Mutter, war jedoch ein wenig verspielter. Sie trug im Gegensatz zu ihrer Mutter die Haare hochgesteckt in einem Wust von gewollter Unordnung. Einzelne Strähnen umspielten geschickt angeordnet ihr Gesicht und ließen die Frisur so weit weniger streng wirken, als es eine Hochsteckfrisur normalerweise tat. Die silberne Halskette mit einem Medaillon war ein Blickfang an ihrem schlanken Hals und passte perfekt zu den langen Ohranhängern aus Silber.

 

   Obwohl Marc die Meinung seines Freundes durchaus teilte, hielt er sich mit Beifallsbekundungen zurück: „Ein bisschen zu erwachsen für meinen Geschmack“, murmelte er distanziert. „Die beiden passen nicht hierher, wenn du mich fragst."

 

   „Mein Vater sagt, die Geister hätten uns diese Frau geschickt. Er glaubt, dass jetzt endlich alles besser wird“, antwortete Tom nachdenklich.

 

   „Och nö, komm schon.“ Marc blickte seinen Freund belustigt an. „Fängst du schon wieder mit diesem Geisterquatsch an?"

 

   „Du, da ist was dran", verteidigte Tom seinen Standpunkt. „Denk, was du willst, aber es gibt Geister, die unser Schicksal bestimmen, basta!"

 

   Mittlerweile war Suzanne herangekommen und hatte Toms letzte Bemerkung mitangehört. „Geister? Worüber redet ihr?", erkundigte sie sich interessiert. „Was für Geister?“

 

   „Hilfe, da siehst du, was du angerichtet hast. Jetzt haben wir den Salat.“ Marc verdrehte die Augen und wandte sich dann direkt an Suzanne. „Vergiss es. Hör nicht auf ihn!"

 

   „Aber ich weiß ja noch nicht einmal, womit ich nicht anfangen soll", lächelte Suzanne.

 

   „Seit mindestens zehn Jahren versuche ich diesem `Eingeborenen' hier…" Marc sprach das Wort mit besonderer Betonung aus, lächelte jedoch dabei und seine Stimme klang ungewohnt sanft. „…klarzumachen, dass es keine Geister gibt. Weder gute, noch böse“

 

   „Ach ja? Wenn du so überzeugt davon bist, kannst du das sicher auch beweisen, oder?“, wollte Suzanne prompt wissen und Marc stöhnte in gespielter Verzweiflung auf, was sie erneut leise auflachen ließ. „Aus deiner Reaktion schließe ich, dass du es nicht kannst“, setzte sie befriedigt hinzu.

 

   „Nein, natürlich kann er das nicht.“ Tom stimmte amüsiert in Suzannes Lachen ein: „Das ist es ja, was ihn so ärgert. – Du siehst toll aus", setzte er dann anerkennend hinzu.

 

   „Danke, das ist nett von dir. Aber ehrlich gesagt fühle ich mich nicht besonders wohl. Das Kleid kneift an allen Ecken und Enden. Ich stehe eigentlich eher auf bequeme Klamotten und diese Schuhe bringen mich zusätzlich um. Meine Füße tun so was von weh. Außerdem hasse ich solche gesellschaftlichen Zwänge. Aber heute wollte sie es so haben", sagte sie mit einer Kopfbewegung in Richtung ihrer Mutter, die sich gerade angeregt mit Toms Vater unterhielt. „Sie sagt zwar Nein, aber ich glaube, sie wollte den General beeindrucken", fügte sie dann augenzwinkernd hinzu.

 

   „Das dürfte ihr gelungen sein", bemerkte Tom felsenfest überzeugt. „Ich wette, sie hat jeden Mann hier beeindruckt." Er registrierte, dass sein Vater ihm zuwinkte. „Oh weh, die Stimme des Blutes ruft", sagte er verabschiedend und trollte sich mit einem kurzen Winken.

 

   Marc widmete sich schweigend den Resten auf seinem Teller, während er registrierte, dass Suzanne neben ihm stehen blieb und dem bunten Treiben im Garten zusah.

 

   „Du siehst heute so anders aus", sagte sie schließlich zögernd, als er seinerseits keinerlei Anstalten machte, das unterbrochene Gespräch wieder aufleben zu lassen. „So…“ Sie musterte ihn noch einmal eingehend von oben bis unten. „...ach, ich weiß auch nicht. Anders halt"

 

   „Amerikanisch?", half er nach und lächelte andeutungsweise, wobei sich wieder das reizvolle Grübchen auf seiner Wange zeigte. „Zivilisiert? Sind das die Attribute, nach denen du suchst?“

 

   „Ja, vielleicht.“ Sie lächelte zurück. „Auf jeden Fall hätte ich dich auf den ersten Blick fast nicht erkannt.“

 

   „Dito", antwortete Marc und lächelte wieder. Dabei wunderte er sich selber über seine friedfertige Stimmung. Er fühlte sich wohl und das grenzte angesichts seiner aktuellen Gesellschaft fast an ein Wunder. Selbst das kurze Schweigen eben zwischen ihnen hatte keinen unangenehmen oder peinlichen Beigeschmack gehabt. Schon merkwürdig, wenn man bedachte, dass ihm dieses Mädchen bislang eigentlich immer nur auf die Nerven gegangen war.

 

   „Es steht dir übrigens gut wenn du zur Abwechslung mal lächelst."

 

   „Wie bitte?" Er stellte seinen Teller auf der Mauer eines Hochbeetes ab und konzentrierte seine Aufmerksamkeit nun voll und ganz auf Suzanne.

 

   „Na ja, wir kennen uns jetzt immerhin schon mehrere Wochen und ich habe dich bislang noch nie richtig lächeln sehen. Heute zum ersten Mal. Und das gleich mehrfach."

 

   „Wer weiß, vielleicht hab' ich ja sonst einfach nicht viel zu lächeln“, antwortete Marc und wischte sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab. „Hör mal: Ich … ich schätze, ich muss mich noch bei dir bedanken. Für vorhin … du weißt schon."

 

   „Oh, keine Ursache. Ich hab´s ernst gemeint: Es war wirklich `ne nette Geste von dir, mir Blumen zur Versöhnung zu schenken", neckte sie ihn.

 

   „Suzanne, bitte. Lass den Blödsinn. Ich meine es auch ernst. Wir wissen doch beide, was da eben gelaufen ist.“ Marc strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Weißt du, mein Alter ist eigentlich ein netter Kerl. Wenn du eben nicht mitgespielt hättest, hätte er sich vor Allen komplett zum Narren gemacht. Das wollte ich unbedingt vermeiden.“

 

   Suzanne nickte. „Du hattest Mitleid mit deinem Vater“, brachte sie die Sache dann auf den Punkt.

 

   „Ja, wenn du es so nennen willst. Vermutlich hast du recht. – Auf jeden Fall fand ich es großartig, dass du da eben mitgespielt hast. Zuerst dachte ich schon, dass…“ Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf, als wolle er eine unangenehme Erinnerung verdrängen. „Ich bin dir echt dankbar“, fuhr er fort. „Dafür hast du was gut bei mir."

 

   „Ernsthaft?"

 

   „Ernsthaft.“ Er blickte nach vorn, spürte aber sehr wohl ihre prüfenden Blicke auf sich ruhen. „Du kannst das ja nicht wissen, aber wenn ich so was sage, meine ich es im Regelfall auch ernst."

 

   „Okay. Dann will ich das jetzt direkt einlösen. Sag' mir bitte ehrlich, warum du gestern gekniffen hast", verlangte sie von ihm.

 

   Er lachte kurz auf, aber es klang nicht wirklich froh. „Ich hab' mich schon gefragt, wann das kommt. – Okay, wie du willst. Du wirst es mir vermutlich nicht glauben, aber ich hab´ nicht gekniffen."

 

   „Wie würdest du das denn sonst nennen?“, fragte sie mit einem leicht gereizten Unterton. „Marc, du hattest es mir versprochen. Ich weiß ja, dass du meine Idee scheiße findest und keinen Sinn darin siehst, sie zu unterstützen, aber du hattest es versprochen.“

 

   „Ja, ich weiß. Und du hast jedes Recht sauer auf mich zu sein…“ Er stockte und bereute schon wieder, Suzanne quasi einen Freibrief gegeben hatte, ihn zu löchern. Wie er sie einschätze, würde sie nicht lockerlassen und er hatte ganz gewiss nicht vor, ihr zu erzählen, wie er den gestrigen Abend verbracht hatte.

 

   „Aber…?

 

   „Ehrlich, ich wollte kommen, aber dann ist mir was dazwischengekommen.“

 

   „Und das wäre?“

 

   „Ich … wir hatten `nen Notfall auf der Station", log er und wich den forschenden Blicken Suzannes aus.

 

   „Hm, bis gerade eben hast du noch aufrichtig geklungen…“, konterte sie prompt und klang enttäuscht.

 

   Er zuckte mit den Schultern. „Es liegt bei dir, ob du mir glaubst, oder nicht.“

 

   „So, meinst du? Na ja, ist ja jetzt eh schon egal. Du hast übrigens nichts versäumt. Es war ähnlich grauenvoll wie heute."

 

   „Daran hätte dann vermutlich auch meine Anwesenheit nichts geändert", stellte er trocken fest.

 

   „Ich bin mir da nicht so sicher: Du hast viel mehr Einfluss hier, als du glaubst. Du weigerst dich nur, ihn vernünftig einzusetzen.“

 

   „Was soll das?“, fragte er scharf. „Legst du es jetzt darauf an, die friedliche Stimmung zu versauen?“

 

   „Nein, sorry, du hast recht. Wer bin ich, dass ich dir nach ein paar Wochen sagen kann, was du zu tun und zu lassen hast. Ich dachte nur…“ Sie unterbrach sich und blickte nachdenlich auf die Menschenmenge im Garten.

 

   Marc wusste, es wäre besser für ihn, wenn er jetzt den Mund hielte und nicht nachfragte, doch sein Sprachzentrum war wieder einmal schneller als der gute Ratschlag seines Gehirns. „Was dachtest du?“

 

   „Nichts“, antwortete sie abwesend. „Schon gut.“ Plötzlich lachte sie leise auf und zeigte nach vorn: „Jetzt sieh dir deinen Dad an. Er hat sich endlich ein Herz gefasst und redet mit meiner Mutter."

 

   „Oh je", war Marcs einziger Kommentar.

 

   „Wieso `oh je'", wollte Suzanne wissen. „Ich finde, die beiden geben ein hübsches Paar ab. Sieh´ doch nur. Ich würde zu gerne Mäuschen spielen und hören, was die zwei zu bereden haben. Du etwa nicht?"

 

   „Garantiert nicht.“ Marcs Gesicht verschloss sich von einem Moment auf den anderen wieder und wurde zu einer undurchdringlichen Maske. „Ich finde, die beiden sollten den Scheiß besser lassen", setzte er finster hinzu, wandte sich brüsk ab und ließ Suzanne einfach stehen.

 

   Während er sich auf die Suche nach Tom machte, spürte er förmlich Suzannes fassungslose Blicke in seinem Rücken.

22.Kapitel                                                                   

 

   Endlich. Ben hatte nur darauf gewartet, dass Marc sich verzog. Er beeilte sich, die Distanz zu Suzanne eilends zu überbrücken, ohne dass den anderen auffiel, dass er es nur darauf angelegt hatte, mit ihr allein zu sein. Kaum hatte er sie erreicht, legte er plump vertraulich den Arm um ihre Schultern: „Hey, Suzie. Wo hast du gesteckt?“, säuselte er, als hätte er sie gerade erst entdeckt. „Hab´ ich dir eigentlich schon gesagt, wie toll du heute Abend aussiehst?“

 

   „Nein, hast du nicht", antwortete Suzanne abwesend. „Danke.“

 

   „Toll ist im Grunde untertrieben. Fantastisch trifft es besser.“

 

   „Oh, Ben. Bitte.“ Endlich konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn. „Übertreibs nicht.“

 

   „Okay, schon gut. Aber eins muss ich unbedingt loswerden: Ich finde, der heutige Abend ist äußerst gelungen, meinst du nicht auch? Alle sind so kooperativ."

 

   Suzanne blickte ihn baff erstaunt an. „Ach ja? Findest du?"

 

   Ups, er musste aufpassen, dass er den Bogen nicht überspannte. „Allerdings. Deine Mutter ist die geborene Diplomatin. Sieh' doch nur, wie sie diesen Einfaltspinsel umgarnt." Ein Fehler. Ben bemerkte es, kaum dass er ausgesprochen hatte, doch er konnte den Satz nicht mehr zurücknehmen. Gleich darauf bekam er die Bestätigung.

 

   „Ich finde überhaupt nicht, dass Mr. Gilbert ein Einfaltspinsel ist", gab Suzanne sichtlich verärgert zurück und wand sich steif aus seiner Umarmung heraus.

 

   Sofort schaltete Ben wieder um, obwohl insgeheim die Alarmglocken bei ihm schrillten. Er hatte geglaubt, Suzanne hegte bei allen Sympathien für die Afrikaner doch immer noch einen ausgeprägten Groll gegen Marc und seine obskure Sippschaft. Und als der sie eben einfach so hatte stehenlassen, hatte er sich in diesem Glauben noch bestärkt gefühlt. Immerhin hatte er Marcs Gesichtsausdruck bei seinem Abgang gesehen. Der hatte doch Bände gesprochen, oder etwa nicht? Wie dem auch sei: Er musste sich schleunigst etwas einfallen lassen um Marc Gilbert aus dem Weg zu räumen, bevor der ihm womöglich gefährlich werden konnte. Er hatte Pläne und keine Lust, sich die ausgerechnet von Marc durchkreuzen zu lassen.

 

   „Da hast du aber was völlig in den falschen Hals gekriegt", gab er für den Moment klein bei. „Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass ich deine Mutter bewundere. Ich finde es faszinierend, wie man zu allen so gleichmäßig freundlich sein kann. Ich meine, man begegnet doch immer wieder Menschen, die man nicht ausstehen kann, oder? Deine Mutter kann toll mit Menschen umgehen. Ehrlich, ich finde, sie hat das voll drauf. Ich glaube, sie ist die Richtige, um hier endlich etwas zu bewegen. So kann es doch nicht weitergehen, findest du nicht? Wenn´s nach mir ginge, wäre ja schon längst was passiert, aber na ja…“ Er zuckte mit den Schultern. „Erwachsene reagieren immer so schwerfällig. Aber deine Mutter ist da anders, Suzie. Das spür ich. Die wird den Laden hier rocken."

 

   Suzanne sah ihn zweifelnd an. „Hm, bei dir weiß ich manchmal echt nicht, woran ich bin."

 

   „Oh, Suzie, das weißt du immer noch nicht?" Ben beugte sich vor und küßte sie ganz selbstverständlich flüchtig auf die Wange. „Das müssen wir unbedingt ändern. Und stell dir vor, ich weiß auch schon, wie.“

 

   „Ah ja, und wie?“

 

   „Geh' nächstes Wochenende mit mir ins Kino.“ Ben grinste siegessicher. „Och, komm schon. Guck nicht so. Sag lieber ja.“

 

   „Kino? Wo gibt´s denn hier ein Kino?", wunderte sich Suzanne.

 

   „Na ja, kein richtiges Kino natürlich", lachte Ben. „Dummerchen. Schließlich sind wir hier am Ende der Welt. Nein, hin und wieder gibt´s abends `ne Vorstellung im Einkaufszentrum. Ein paar Jungs von der Basis haben das alles in die Hände genommen mit der Organisation und so weiter. Solange das hintere Lager am Ende wieder genauso aussieht wie vorher, ist alles gut. Also? Was sagst du? Ja, oder ja?"

 

   „Ich weiß nicht", antwortete Suzanne zweifelnd. Die Vorstellung mit ihm ins Kino zu gehen schien sie nicht gerade zu erheitern.

 

   „Komm schon, lass mich nicht betteln", drängte Ben weiter und griff nach Suzannes Händen. „Das wird cool. Mal nur wir beide. Ohne die ganze Clique. Ich hol´ dich natürlich nicht nur ab, ich bring´ dich nach der Vorstellung auch wieder nach Hause."

 

   „Okay", gab Suzanne widerstrebend nach. „Wann?“

 

   „Freitagabend. Ich bin so gegen halb acht bei dir? Um acht geht´s los. So bleib uns genügend Zeit, um rüber zu fahren."

 

   „Gut, in Ordnung. – Sorry, aber jetzt muss ich mich auch mal wieder um die anderen Gäste kümmern. Sonst steht die Superdiplomatin gleich bei mir auf der Matte."

 

   Benjamin gab Suzannes Hände wieder frei. „Kein Problem. Ich werde der Diplomatie doch nicht im Wege stehen", entgegnete er grossspurig und ließ sich nicht anmerken, wie verärgert er schon wieder war.

 

**********

 

   Einige Stunden später saß Suzanne vor ihrer Frisierkommode und schminkte sich ab, als es leise an ihre Zimmertür klopfte. Gleich darauf wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet und Gilian steckte ihren Kopf ins Zimmer. „Hey, darf ich reinkommen?"

 

   „Ja, klar. Bist ja eh schon fast drin“, antwortete Suzanne abwesend. Seitdem die Party beendet und sie etwas zur Ruhe gekommen war, dachte sie unablässig darüber nach, ob sie ihre Zusage für einen Kinobesuch mit Ben nicht etwas voreilig gegeben hatte. Wollte sie tatsächlich einen ganzen Abend mit jemand verbringen, der in ihr nicht mehr als ein Dummerchen sah? Dummerchen! Suzanne konnte es immer noch kaum fassen, dass Ben sie tatsächlich so genannt hatte. Und mit was für einer Selbstverständlichkeit er ihr diese Unverschämtheit unter die Nase gerieben hatte – unfassbar.

 

   „Suzanne, was ist los mit dir? Fehlt dir was?“, erkundigte sich ihre Mutter besorgt.

 

   „Nein, nein, alles in Ordnung. Ich war nur in Gedanken.“ Suzanne schüttelte die Zweifel ab und konzentrierte sich auf ihre Mutter. „Und? Wie geht´s dir? Wie fühlst du dich? Jetzt, wo es vorbei ist?“

 

   „Ach, ich weiß auch nicht.“ Ihre Mutter setzte sich auf Suzanne's Bett. Sie wirkte nachdenklich, wie Suzanne mit einem Blick in den Spiegel feststellte. „Was hast du für ein Gefühl?"

 

   „Wenn du mich fragst war das `ne ähnliche Pleite wie gestern Abend. Aber..." Sie zwinkerte ihrer Mutter im Spiegel zu. „John Gilbert ist wirklich nett. Ein wenig schüchtern vielleicht, findest du nicht auch?"

 

   „Suzanne...", tadelte ihre Mutter ohne große Überzeugungskraft. „Es geht hier doch nicht…“

 

   „Mam, er steht auf dich! Das sieht doch ein Blinder!“ Suzanne kniff die Augen zusammen und schaute genauer in den Spiegel. Täuschte sie sich oder wurde ihre sonst so coole Mutter tatsächlich gerade verlegen. Das war ja ein Ding! Das sah ja fast danach aus, als hätte Marcs Vater ebenfalls großen Eindruck hinterlassen.

 

   „Du täuschst dich. Mr. Gilbert ist lediglich freundlich. Was ja angesichts der Tatsache, dass er Subventionen loseisen möchte, nicht grundsätzlich falsch ist. – Aber wenn wir schon mal dabei sind … was ist denn mit seinem Sohn? Das war doch sein Sohn, mit dem du dich im Garten so lange unterhalten hast, oder? Ich konnte ihn auf die Entfernung nicht genau erkennen. Der, der dir beim Empfang die Blumen geschenkt hat. Übrigens, kann es sein, dass ich ihn gestern nicht hier gesehen habe?"

 

   Suzanne nickte und ging über die Anspielung mit den Blumen großzügig hinweg. „Jep. Der Feigling hat gekniffen. Er behauptet zwar nein, aber ich denke, dass es genauso ist. Genau darum ging es übrigens auch in dem Gespräch: Ich hatte mir Schützenhilfe von ihm versprochen und er hat mich im Stich gelassen. Ich habe ihn mit meiner Meinung konfrontiert und er hat alles abgestritten. Das ist alles. Ende des Gesprächs“, schloss sie nicht ganz wahrheitsgemäß.

 

   „Aber das mit den Blumen bei der Vorstellung war schon süß“, griff ihre Mutter neckend die Szene vom Empfang wieder auf.

 

   „Süß? Na ja.“ Suzanne griff nach ihrer Bürste und malträtierte ihr Haar in der Hoffnung, dass diese Aktion womöglich gleichzeitig die äußerst unwillkommene Erinnerung an die Begrüßung der Gäste aus ihrem Kopf vertrieb. Ursprünglich hatte sie ja die Situation voll auskosten wollen. Sie hatte Marc vor allen anderen dumm dastehen lassen wollen. Doch dann war ihr unglücklicherweise plötzlich unter seinen flehenden Blicken ganz anders geworden. Ihre Knie hatten zu zittern begonnen und ihr Herzschlag hatte sich zu ihrem Entsetzen vollkommen unangebracht verselbstständigt und deutlich verschnellert. Sie hatte etwas tun müssen, damit nicht jeder im Saal bemerkte, was mit ihr los war, und so hatte sie ohne lange zu überlegen, Marc den unausgesprochenen Gefallen getan. Sie registrierte den amüsierten Blick ihrer Mutter und konterte: „Du weißt aber schon, dass diese Blumen ursprünglich nicht für mich gedacht waren, oder? Du hast einen Verehrer, Mam, ob es dir passt, oder nicht.“

 

   „Suzanne!"

 

   „Ist doch wahr.“ Plötzlich fiel ihr etwas ein, was ihr zuvor schon im Saal aufgefallen war. „Ich hatte den Eindruck, ihr kanntet euch schon. Woher eigentlich? Soweit ich weiß verlässt Mr. Gilbert die Station sehr selten.“

 

   Ihre Mutter hob lachend beide Hände. „Kein Wort mehr ohne meinen Anwalt. Du bist ja schlimmer als ein Detektiv.“

 

   „Na gut, ich gebe Ruhe. Aber nur für den Moment.“ Suzanne legte die Bürste auf der Kommode ab, setzte sich im Schneidersitz neben ihre Mutter aufs Bett und lehnte den Kopf an deren Schulter. „Ich schätze, wir werden es hier nicht leicht haben, was?"

 

   „Da hast du sicher recht, aber das war mir bewusst als ich mich um den Job beworben habe. Allerdings hatte ich es mir doch ein wenig anders vorgestellt. Ich ahnte nicht, dass die Fronten so verhärtet sind.“ Gilian seufzte und legte den Arm um ihre Tochter. „General McAllister hält mich für einen Spielball, den er seinen Vorstellungen entsprechend nach Belieben einsetzen kann."

 

   „Oh“, sagte Suzanne anerkennend. „Das hast du also bemerkt?"

 

   „Suzanne, ich bin nicht dumm. Natürlich habe ich das bemerkt – aber im Moment bin ich ihm gegenüber eindeutig noch im Vorteil."

 

   „Ach ja?"

 

   „Ja, denn er weiß nicht, dass ich ihn durchschaut habe.“ Gilian drückte ihrer Tochter einen Kuss auf den Scheitel. „Suzanne, mach dir keine Sorgen. Wir werden das Kind schon schaukeln.“

 

   „Jep, ich bin sicher, du kriegst das hin.“

 

   „Wir…“, betonte Gilian. „Wir kriegen das hin. Sag mal, was hältst du davon, wenn wir uns nächstes Wochenende mal auf der Station von John Gilbert umsehen. Freitag vielleicht?"

 

   „Freitag ist schlecht. Da kann ich nicht. Vormittags ist Schule und abends bin ich mit Benjamin verabredet."

 

   „Benjamin? Der Sohn von General McAllister?"

 

   Suzanne nickte und spürte automatisch wieder Unbehagen in sich aufsteigen, wenn sie an diese Verabredung dachte. Wieder fragte sie sich, warum sie so schnell zugesagt hatte? Normalerweise neigte sie nicht zu solch überstürzten Zusagen.

 

   „Gefällt er dir?", forschte ihre Mutter.

 

   „Ben?“ Suzanne zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht. Wieso? Hast du was dagegen, wenn ich mit ihm alleine ausgehe?"

 

   „Nein. Natürlich nicht. Und selbst wenn, würde es denn etwas nützen?"

 

   Suzanne grinste kurz. „Vermutlich nicht." Obwohl, kurzfristig schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass ein Verbot ihrer Mutter ihr eigentlich sehr gelegen käme. Sich daran zu halten wäre das einfachste von der Welt und gleichzeitig wäre sie Ben gegenüber fein raus.

 

   Ihre Mutter lächelte nachsichtig. „War nur `ne Frage. Sei nachsichtig mit mir. Ich übe mich noch darin, eine gute Mutter zu werden."

 

   „Blödsinn. Das warst du immer. Nur anders halt.“ Suzanne löste sich von der Schulter ihrer Mutter und lächelte zurück: „Ich finde, du machst dich ganz gut."

 

   „Vielen Dank. Ist manchmal gar nicht so einfach. Es ist ein ständiger Balanceakt zwischen Neugier, Interesse und der Frage, wann ich erzieherisch tätig werden sollte. Ich hätte das nie vermutet, aber es ist tatsächlich ein Unterschied, dich ständig um mich zu haben.“ Gilians Blick fiel zufällig auf den Reisewecker auf Suzannes Nachttisch. „Oh, wow. Kein Wunder, das ich so müde bin.“ Sie stand auf. „Gute Nacht, Kleines. Schlaf gut."

 

   Suzanne freute sich über die Verwendung des uralten Kosenamens, auch wenn sie es nicht zugab. „Gute Nacht, Mam. Du auch.“

 

   Bevor ihre Mutter den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal um. „Suzanne?"

 

   „Ja?"

 

   „Hab´ ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich sehr froh darüber bin, dass du deinen Dickkopf durchgesetzt hast? Auch, wenn ich zugegebenermaßen manchmal noch ein wenig unsicher bin, was unser Zusammenleben angeht.“

 

   Ein strahlendes Lächeln erschien auf Suzanne's Gesicht. „Nein, hast du nicht. Aber ich freu´ mich sehr, dass du es jetzt tust. Und falls es dich tröstet, mir geht´s genauso.“

 

   „Wenn wir es jetzt noch schaffen, das Chaos hier in den Griff zu bekommen, wird unser Leben hier perfekt. Ich kann doch auf deine Hilfe zählen, oder?"

 

   „Ehrensache.“ Suzanne hob den Daumen. „Ich werd´ tun, was ich kann."

 

   „Davon bin ich überzeugt. Halt einfach in der Schule Augen und Ohren auf. Ich bin sicher, der General verfolgt einen Plan. Und ehrlich gesagt, wüsste ich zu gerne im Vorfeld, wie der aussieht. Vielleicht kann uns deine Freundschaft mit Benjamin da ja hilfreich sein.

 

   „Ich pass auf", versprach Suzanne, obwohl ihr das Wort Freundschaft im Zusammenhang mit Ben beinahe augenblicklich Magenschmerzen verursachte.

 

   „Danke. – Komm´ her.“ Gilian kam noch einmal zurück, bückte sich und schloss Suzanne in eine herzliche Umarmung.

 

23.  Kapitel

 

   Nach dem Wochenende voller anstrengender Feiern lief erst einmal alles wieder seinen gewohnten Gang. Das galt gleichermaßen auf der Station, wie in der Schule und in der Stadt. Wie zu erwarten gewesen war, hatte sich in den Beziehungen zwischen den Amerikanern und den Afrikanern nichts Gravierendes geändert.

   Benjamin grübelte immer noch darüber nach, wie er Marc am Besten eins auswischen konnte. Suzanne stand nach wie vor zwischen den Stühlen und John Gilbert ließ sich nach seiner Blamage beim Botschaftsempfang vorläufig gar nicht mehr in der Stadt sehen und deligierte lieber die dort zu erledigenden Arbeiten an seinen Sohn und Charlie. Gilian Banks wartete daher vergeblich darauf, dass John sich zwischendurch noch einmal in der Botschaft sehen ließ, oder sich bei ihr meldete.

   Trotz des Dämpfers, den Suzanne bei ihrer Party bekommen hatte, verfolgte sie in der Schule nach wie vor konsequent ihren Plan. Sie versuchte zwischen den beiden Gruppen zu vermitteln, aber ihre Bemühungen verliefen unverändert erfolglos. Doch sie ließ sich nicht beirren und so verbrachte sie ihre Pausen mal mit Tom, Marc und den anderen Afrikanern, und mal mit Benjamin und den amerikanischen Kids. Auch wenn die Afrikaner ihr gegenüber immer noch ein wenig misstrauisch waren, schien es inzwischen wenigstens so, als hätten sie Suzanne akzeptiert. Außer Marc vielleicht, denn ihre Begegnungen nach ihrer Unterhaltung auf dem Botschaftsempfangs gipfelten eher darin, dass sie sich gegenseitig weitestgehend ignorierten.

   Tom jedoch hatte sie gewonnen. Er war der Einzige, der voll und ganz auf ihrer Seite stand und zumindest versuchte, sie zu unterstützen. Die zunächst vorsichtige Freundschaft, die sich zwischen ihnen angebahnt hatte, festigte sich zusehends. Er war Suzanne sogar dabei behilflich, das alte Fahrrad zu entrosten und wieder fahrtauglich herzurichten. Eines Nachmittags, als sie gerade im Garten der Botschaft daran arbeiteten, führte Gregory Kimberly in den Garten.

   „Hier steckst du also", begrüßte Kimberly Suzanne, während sie sich erstaunt umblickte „Sag mal, was treibst du hier? Ich hab´ in der Schule auf dich gewartet. Wollten wir uns nicht dort zum lernen treffen?“

   „Oje, das habe ich total vergessen", bedauerte Suzanne. „Sorry, aber ich war so versessen darauf, diese alte Karre hier endlich fertig zu kriegen, dass ich unsere Verabredung total verschwitzt habe. Tut mir leid."

   „Schon gut, ich hatte eh keine große Lust zum lernen. – Machst du das ganz alleine? Ich wusste gar nicht, dass du so was kannst. Woher weißt du, wie das geht?", staunte Kimberly.

   „Nee, Gott bewahre, alleine könnte ich das nicht. Handwerklich bin ich, ehrlich gesagt, `ne ziemliche Null. Ich bin hier mehr oder weniger nur der Handlanger. Ah, da kommt meine Unterstützung ja gerade." Suzanne drehte sich um und wies auf Tom, der gerade mit einer Dose Lack and Pinseln bewaffnet auf der Kellertreppe auftauchte. Dabei beobachtete sie Kimberlys Reaktion aus den Augenwinkeln sehr genau.

   Kimberly wirkte nicht sonderlich überrascht. „Oh, hey, hallo Tom", begrüßte sie ihn nicht unfreundlich und setzte lächelnd hinzu: „Das hätte ich mir ja eigentlich denken können.“

   „Hallo Kimberly", nickte Tom und warf Suzanne einen zögerlichen Blick zu, während er die Dose Lack auf einem alten mit Zeitungspapier ausgelegten Tisch abstellte. „Ich mach´ mich dann wohl besser mal vom Acker. Wir können ja morgen weitermachen, wenn du Zeit hast."

   „Aber..." Suzanne blickte von Tom zu Kimberly und warf ihrer Freundin einen beschwörenden Blick zu. Der wäre aber in diesem Fall gar nicht erforderlich gewesen, wie sie gleich darauf zu ihrer Erleichterung feststellte.

   „Das ist nicht nötig", reagierte Kimberly schnell. „Ich meine, wegen mir, brauchst du nicht zu gehen.“

   „Tja dann", meinte Tom und zeigte grinsend seine weißen Zähne. „Wir könnten durchaus noch Hilfe gebrauchen. Was meinst du?"

   „Gerne, was kann ich tun?" Kimberly kam ohne zu Zögern näher und schob sich gleichzeitig die Ärmel ihrer Bluse hoch.

   „Hier." Tom reichte die Lackdose und einen Holzspachtel an sie weiter. „Du kannst erstmal den Lack fertig anrühren. Wie es funktioniert steht auf der Dose, okay? Oder willst du lieber anschleifen?“

   „Nee, lass mal. Anrühren ist okay. Das krieg ich hin"

 

   Nach zwei Stunden intensiver Arbeit sah das alte Fahrrad tatsächlich aus wie neu. Stolz traten die drei Jungedlichen ein paar Schritte zurück und betrachteten ihr Werk.

   „Also, die Farbe ist definitiv nicht meine", unkte Tom. „Viel zu grell."

   „Dir braucht sie ja auch nicht zu gefallen.“ Suzanne strahlte über das ganze Gesicht. „Es ist mein Rad. Du hast es mir verkauft. Du erinnerst dich?"

   „Als ob es gestern gewesen wäre“, grinste Tom. „Ist trotzdem `ne Mädchenfarbe. Ich würde es mir noch nicht mal mehr ausleihen. Es wär´ mir voll peinlich, damit gesehen zu werden.“

   „Ich bin ein Mädchen“, betonte Suzanne lachend. „Und wer sagt überhaupt, dass ich es dir leihen würde?“

   „Hört auf, ihr beiden“, mischte sich Kimberly überraschend ein. „Es sieht so toll aus. Perfekt. Ich hätte nie gedacht, dass wir das so hinkriegen."

   „Warum nicht?" Tom wischte sich mit einem Lappen die Reste des pinken Lacks von den Fingern. „Du stellst dich gar nicht mal so ungeschickt an“, sagte er dann anerkennend zu Kimberly. „Für ein Mädchen, meine ich.“

   „Er meint, besonders für ein weißes Mädchen", fügte Suzanne scherzhaft hinzu. „Nicht wahr?“

   „Ganz genau!", stimmte Tom ihr grinsend zu.

   Kimbelys Augen blitzten vor Freude über das Kompliment. „Findest du? Meine Leute sagen immer, ich hätte zwei linke Hände."

   „Nicht doch. Du hast doch noch nicht mal die Dose mit der Farbe umgeworfen", neckte Tom. „Ehrlich, ich bin tief beeindruckt.“

   „Ey, jetzt hör sich das mal einer an: Ich dachte immer ihr Eingeborenen hättet Manieren. Fangt ihr jetzt auch schon mit diesen blöden Macho-Sprüchen an?"

   „Oh, ich nix verstehen. Ich nur sein dummer Bimbo – du mir erklären, was sein Macho?" Tom riss seine grossen, dunklen Augen übertrieben weit auf und starrte Suzanne fragend an. „Ja? Bitte?“

   „Ach du!" Lachend stupste Kimberly Tom spontan leicht vor die Brust. „Blödmann.“ Als sie ihren Arm zurückzog fiel ihr Blick auf das Zifferblatt ihrer Armbanduhr. „Was? So spät schon? Scheiße, ich muss gehen.“

   In Kimberlys Stimme schwang echtes Bedauern mit, wie Suzanne mit einer gewissen Befriedigung registrierte. Sie schlug in die ausgestreckte schmutzige Hand ihrer Freundin ein. „Schade.“

   „Ja, aber mein Bruder holt mich gleich an der Schule ab und ich hab´ keine Lust auf langwierige Erklärungen.“ Kimberly hielt ohne groß darüber nachzudenken auch Tom ihre Hand hin. „Tom?“

   Der schlug ohne zu zögern ein. „Ich finde, wir waren ein gutes Team. Von mir aus können wir das bei Gelegenheit mal wiederholen.“

   „Sehr gerne, aber jetzt muss ich wirklich los. Sonst gibt´s Ärger."

   Kimberly winkte noch einmal verabschiedend und verschwand. Suzanne fühlte sich total euphorisch und gab Tom einen freundschaftlichen Rippenstoß. „Das war super! Ich hab´s doch gesagt, wir müssen nur geduldig sein. Jetzt haben wir auf jeden Fall wieder eine mehr auf unserer Seite."

   „Freu dich nicht zu früh", warnte Tom. „Ich will ja nicht unken, aber wenn Ben zu ihr sagt: Spring, dann wird sie, wie immer, nur fragen: Wie hoch?"

   Suzanne verzog unwillig ihr Gesicht. „Du hast es echt drauf, einem die Stimmung zu versauenn. Du glaubst also, Kimberly kippt wieder um?“

   „Leider.“ Tom nickte nachdrücklich. „Davon bin ich hundertprozentig überzeugt!"

   „Warten wir´s ab. Vielleicht war das ja doch der Durchbruch auf den wir gewartet haben“, antwortete Suzanne hoffnungsvoll. „Oder zumindest ein Anfang.“

 

24. Kapitel

 

   Marcs Veränderung wurde immer offensichtlicher. Er zog sich mehr und mehr von seinen Freunden zurück und verbrachte die Pausen immer häufiger grübelnd alleine. Insbesondere die Pausen, in denen Suzanne sich zu den Afrikanern gesellte. Es mochte für sie so aussehen, als ginge er einer Aussprache wegen seines Fehlens auf ihrer Party aus dem Weg, aber dem war nicht so. Es war ihm auch schlicht egal, was Suzanne oder die anderen in sein Verhalten reininterpretierten, solange sie ihn nur in Ruhe ließen.

   Der einzige, der ihm ein bisschen leid tat, weil er offensichtlich die Welt nicht mehr verstand, war Tom. Doch noch nicht einmal für seinen besten Freund nahm er sich Zeit und hielt sich auch mit Erklärungen hinsichtlich seines Verhaltens sehr zurück. Seine Gedanken kreisten ausschließlich nur noch ums spielen. Um das nächste Spiel. Und danach um das dann folgende. Er musste ganz einfach gewinnen. Bald schon. Sehr bald. Die Zeit rann ihm unter den Fingern weg und er geriet immer mehr unter Druck.

   Bei jeder neuen Runde, jedem neuen Blatt, versuchte er mit aller Macht und Gewalt wenigstens einen Teil seines Geldes zurückzugewinnen und geriet dabei unweigerlich immer tiefer in die Miesen. Schon längst war er nicht mehr in der Lage seine Schulden an die Mitspieler in Bar auszuzahlen. Vor einigen Tagen hatte man ihm jedoch angeboten, Schuldscheine auszustellen, und er hatte das Angebot dankend angenommen. Da war er noch der festen Überzeugung gewesen, dass seine Situation sich bereits bald grundlegend wieder ändern würde.

   Ein Trugschluss, wie sich inzwischen herausgestellt hatte. Wenigstens vor sich selber musste er zugeben, dass er komplett den Überblick verloren hatte. Das Schlimmste an seiner Lage aber war, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er da wieder rauskommen sollte. Wer würde ihm zuerst auf die Pelle rücken? Sein Vater, weil er sich vielleicht doch mal wieder in die Stadt wagte und dabei eventuell seinem Bänker über den Weg lief? Oder die Jungs aus der Pokerrunde, weil sie womöglich auf die wahnwitzige Idee kamen, dass er seine Schulden begleichen sollte? Wie er es auch drehte und wendete. Seine Lage war mehr als verzweifelt.

   Gestern hatte er es zu allem Überfluss dann noch endgültig geschafft, Tom derartig zu verärgern, dass der sich wohl künftig nicht mehr bei ihm sehen lassen würde. Erst hatte er einen Abend zuvor eine seit langem schon feststehende Verabredung schlicht vergessen und als Tom ihn in der ersten Pause vor allen anderen deswegen zur Rede gestellt hatte, war er seinem ältesten und besten Freund so pampig über den Mund gefahren, dass nicht nur Tom ihn entsetzt angeblickt hatte. Doch anstatt sich bei Tom zu entschuldigen, hatte er sich in die Defensive gedrängt gesehen und sich lediglich mit einem knappen `wisst ihr was, ihr könnt mich alle mal´, zurückgezogen.

   Seitdem herrschte Funkstille zwischen ihnen, doch Marcs aufkommendes schlechtes Gewissen wurde schnell von dem ihn allseits beherrschenden Gedanken an das nächste Spiel verdrängt. Was jetzt zählte, war zu gewinnen. Er durfte sich von Nichts und Jemand ablenken lassen. Um Tom würde er sich später kümmern. Das würde sich schon wieder hinbiegen lassen. Tom gehörte nicht zu den Menschen, die nachtragend waren.

**********

   Ben war, wie immer auf Umwegen, auf dem Weg in die Bar. Es waren Unannehmlichkeiten, die er gerne in Kauf nahm, denn das, was er dafür bekam, entschädigte ihn für die Strapazen dafür zu sorgen, dass er unentdeckt blieb. Daher ging er auch prompt in Deckung, als sich die Tür der Bar plötzlich und unerwartet öffnete und Marc auf der kleinen Terrasse, die rund um die Bar herumlief, erschien. Er beobachtete überrascht, wie sein Klassenkamerad zweimal tief durchatmete, bevor er schließlich die Stufen hinabstieg und mit schweren, beinahe schleppenden Schritten zu seinem Motorrad ging, das ein Stück weit entfernt unter einem Baum geparkt stand.

   „Das ist ja wirklich höchst interessant", murmelte Ben leise bevor er sich, nachdem Marc endlich außer Sichtweite war, langsam aufrichtete. Er grinste böse und betrat wenige Augenblicke später die Bar, nickte dem Wirt kurz zu und ging dann zielstrebig nach hinten durch in das kleine Hinterzimmer.

   „Hallo", begrüßte er die dort anwesenden Soldaten, mit denen er auf der Basis möglichst jeden Kontakt vermied. Erstens sah sein Vater es nicht so gerne wenn er sich mit den `einfachen Soldaten', wie er es nannte, herumtrieb und zweitens wollte er um jeden Preis dummes Gerede vermeiden, falls diese Typen irgendwann womöglich auffliegen sollten. „Ihr habt was für mich?“, erkundigte er sich überflüssigerweise, denn wenn das nicht so wäre, wäre er nicht hier. Es hab einen geheimen Ort auf der Basis, wo sowohl er, wie auch die Soldaten Nachrichten hinterlassen konnten. Der einzige Weg der Kommunikation zwischen ihnen außerhalb der Bar.

   „Klar, wenn du die Kohle hast", antwortete einer der Soldaten am Tisch, ohne von seinem Blatt aufzublicken.

   „Natürlich", nickte Ben betont cool. „Wo ist die Ware?“

   „In der Ecke - im blauen Rucksack."

   Ben nickte und schlenderte rüber in die Ecke des Raumes. Er griff nach dem Rucksack, öffnete ihn und griff zielsicher nach dem unscheinbaren, dicken Umschlag, der den Stoff enthielt. Flüchtig überprüfte er den Inhalt, bevor er den Umschlag unter sein T-Shirt vorne in die Jeans stopfte. Erst danach ging er zurück zum Tisch und legte seinerseits einen Umschlag auf den Tisch. Betont unschuldig erkundigte er sich: „Ich kann mich doch, wie immer, darauf verlassen, dass ihr mit Niemandem über unsere Geschäfte sprecht?“

   Ein erstaunter Blick, dem auch eine gehörige Portion Misstrauen inne wohnte, traf ihn. „Was soll die Frage? Wir sind doch nicht bescheuert!“

   „Gut. Ich frage nur, weil ich hier gerade vor der Tür fast einem der größten Moralapostel die ich kenne in die Arme gelaufen wäre", antwortete Ben leichthin. „Aber vielleicht war er ja auch nur vorne was trinken. Obwohl … den hätte ich nie und nimmer hier vermutet.“ Die Saat war gesät, er spürte es und gleich darauf bekam er die Gewissheit, dass er recht hatte.

   Sein Cheflieferant kniff die Augen zusammen und fragte knapp. „Von wem redest du?“

   „Ein Klassenkamerad von mir aus der Schule. So `ne Schwuchtel mit langen Haaren und `nem auffallenden Ohrring", erklärte Ben und tippte sich vielsagend ein paar Mal gegen die Stirn. „Er hält sich für einen Afrikaner, nur weil er hier geboren ist. Ihr versteht? Jetzt glaubt er, er müsste die ganze afrikanische Sippschaft retten. Total durchgeknallt, der Idiot.“

   Der fragende Blick des Soldaten wich einem amüsanten Zwinkern. „Ach, der. Ich glaube fast, den kennen wir besser als du. Aber wenn das ein Moralapostel ist..." Er ließ das Ende des Satzes offen.

   „Wieso? Sag bloß, ihr verkauft euer Shit auch an ihn?" Ben hatte Mühe, seine Neugier im Zaum zu halten. Er hatte das bestimmte Gefühl, hier auf etwas gestoßen zu sein, dass ihm noch sehr nützlich sein konnte, aber er wollte sein Interesse nicht zu offenkundig zeigen.

   „Nein, Quatsch. Der hat keine Ahnung von den Drogen. Aber der Typ verspielt hier Haus und Hof. Der ist für uns zurzeit noch einträglicher als du es bist."

   Ben war baff erstaunt, aber er hütete sich, das seinem Gesprächspartner zu zeigen. „Na dann. Ich hatte schon die Befürchtung, der Typ kommt mir bei meinen Kunden in der Schule in die Quere. Ach übrigens: Ihr braucht ihm nichts über mich zu sagen – klar?"

   Der Soldat zuckte mit den Achseln. „Warum sollten wir? Dafür gibt es keine Veranlassung. Solange du dafür sorgst, dass unser karger Sold etwas aufgepeppt wird ist alles in Butter."

   Ben grinste siegessicher. „Kein Problem. Die Spendenzeiten sind vorbei! Von mir bekommt niemand mehr was umsonst. Die haben sich inzwischen so daran gewöhnt, dass sie auch zahlen werden. Keine Sorge."

   „Sehr vernünftig. Denk immer daran, dass unsere Westen schön sauber bleiben müssen. Sonst bekommst du Probleme, die du ganz sicher nicht haben möchtest. Ich hoffe, ich hab´ mich klar ausgedrückt.“

   Ben hasste es, wenn man ihm drohte. Er fühlte sich den Soldaten deutlich überlegen, aber das musste er ihnen ja nicht unbedingt auf die Nase binden. „Sonnenklar“, antwortete er daher kurz und bemühte sich, beeindruckt, oder zumindest einigermaßen eingeschüchtert, auszusehen.

   „Und wehe, du gibst meiner Schwester was von dem Zeug", mischte sich nun der zweite der Soldaten erstmals ein. „Denk dran, die ist tabu.“

   „Natürlich", log Ben dreist. „Versprochen ist versprochen. Also dann: Ich hinterlasse wie gehabt eine Nachricht, wenn ich Nachschub brauche."

   „Sicher: Du weißt ja, wo."

 

   Als Ben wieder draußen stand, gestattete er seinen mühsam unterdrückten Emotionen endlich an Tageslicht zu kommen. Seine Augen glänzten, er ballte eine Siegesfaust und ein boshaftes Lächeln umspielte seine Lippen. Marc Gilbert war ein Spieler! Das war interessant! Wirklich hochinteressant! Und so wie es aussah, hatte der Looser anscheinend eine Menge Schulden angehäuft! Noch besser!

   Warum Marc spielte interessierte ihn nicht, selbst wenn er es sich denken konnte. Viel wichtiger war ihm, dass er endlich etwas gegen diesen Schleimer in der Hand hatte. Bei passender Gelegenheit würde er sein Wissen auszuspielen wissen. Sein Alter würde ihm die Füße küssen! Endlich einmal, denn damit schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe. Er würde diesen lästigen Unruhestifter und Quertreiber in der Gunst um Suzanne los, und gleichzeitig half er seinem Vater in seinem Bestreben die Station in den Ruin zu treiben. Wer gab schon einer Institution Geld, wo Spieler ihr Unwesen trieben? Er musste nur noch auf eine günstige Gelegenheit warten. Aber die würde kommen, das war so sicher, wie das Amen in der Kirche. Und dann würde er die Bombe zum platzen bringen.

   Plötzlich fiel ihm etwas ein und er ging noch einmal zurück in die Bar. Jetzt hätte er über seine überraschende Entdeckung fast das Wichtigste vergessen. Schließlich rückte der Tag, an dem er Suzanne auf den richtigen Weg führen wollte, immer näher. Er erklärte den Sodaten ausführlich, was ihm vorschwebte. Nachdem sie dann noch eine Viertelstunde über den Preis gefeilscht hatten, waren sie sich schließlich einig.

   Wieder draußen rieb Ben sich zufrieden die Hände. Oh ja! Es lief derzeit wirklich alles in seinem Sinne. Wie geschmiert. Im Grunde müsste er sich nur noch bequem zurücklegen, um später die Früchte seiner Saat ernten zu können. Er freute sich schon auf den Spass!

 

25. Kapitel

 

   „Tadaa. Wie seh´ ich aus?"

   „Du meine Güte, du hast dich ja aufgebrezelt", wunderte sich Gilian, als ihre Tochter gut gelaunt die Treppe hinunterkam. Suzanne, die in jüngster Zeit eher den lässigen Look vertreten hatte, trug einen roten Jeans-Minirock zu halbhohen Riemchensandaletten und einem eng anliegenden taillierten Top. Das dunkle Haar fiel ihr frisch gewaschen und geglättet seidig glänzend über die Schultern. Mit einem gewissen Stolz stellte sie fest, wie hübsch ihre Tochter inzwischen geworden war. Mit einer gewissen Sorge betrachtete sie allerdings Suzannes aktuelles Outfit. „Du willst doch nicht etwa in diesem Aufzug das Haus verlassen?“

   „Ma, komm schon. Sei nicht so spießig“, reagierte Suzanne prompt entrüstet. „Ehrlich, ich weiß nicht, was du willst. Hier hat man schließlich selten genug die Gelegenheit, sich mal´n bisschen chicker zu machen. Erstens sind das ganz normale Klamotten, und zweitens, ja, ich habe durchaus vor, so vor die Tür zu gehen. Aber falls dich das beruhigt…“ Sie hob ihren Arm an, über den eine Bluse hing. „Keine Angst, ich werde sie später überwerfen. Ganz die sittsame Tochter.“

   „Suzanne.“ Gilian musterte ihre Tochter überrascht. „Bereust du es etwa schon, mit hierher gekommen zu sein?“

   „Nö. Wie kommst du darauf?“

   „Na ja, das hörte sich eben fast so an, als hättest du dich bis jetzt lediglich angepasst. Ernsthaft, ich dachte, es gefällt dir hier.“

   „Tut es ja auch. Doch, ehrlich, ich find´s schön hier", gab Suzanne zurück. „Ich kann´s nur nicht leiden, wenn du an meinen Klamotten rum meckerst. Ich gehe aus und da will ich halt … na ja, du weißt schon, gut aussehen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ben holt mich gleich ab. Ich hatte dir erzählt, dass er mich eingeladen hat.“

   „Ja, richtig. Tut mir leid, das hatte ich total verdrängt. Und? Was werdet ihr unternehmen?“

   „Nicht besonderes. Kino.“

   „Kino? Hier?"

   Erneut zuckte Suzanne mit den Schultern. „Na ja, ist wohl kein richtiges Kino. Ben meinte, einmal im Monat wird ein Lagerraum vom Einkaufszentrum umgerüstet und dort wird dann halt ein Film gezeigt."

   „Gefällt er dir?", erkundigte Gilian sich betont beiläufig. Sie erinnerte sich durchaus, dass sie das schon einmal gefragt hatte, aber vor einigen Tagen war ihre Tochter einer Antwort ziemlich geschickt ausgewichen, was sie ein wenig beunruhigt hatte. Warum wusste sie auch nicht.

   „Mam, ich weiß ja noch nicht mal, welcher Film gezeigt wird. Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht mal, ob ich überhaupt Lust auf Kino habe", bekam sie dieses Mal zur Antwort.

   Eine Antwort, die Gilian mit einem Lächeln quittierte. „Komm schon, Suzanne. Du warst schon mal besser. Du weißt sehr gut, worauf sich meine Frage bezog. Ich rede von Ben, gefällt er dir?"

   „Oh, Ben?“ Suzanne tat überrascht. „Ich weiß nicht. Er kann sehr nett sein.“ Sie zögerte. „Aber seine Ansichten sind manchmal schon ziemlich extrem“, setzte sie dann leise hinzu.

   „Aber trotzdem gehst du mit ihm aus. Wieso? Nur weil er der Anführer dieser Basis-Clique ist?"

   „Nein, Mam, ich gehe mit ihm aus, weil er der Schlüssel ist. Wenn es mir gelingt, Ben davon zu überzeugen, dass dieser ganze Rassismus hier Schwachsinn ist, schwenken die anderen auch um. Wenn ich ihn auf meine Seite ziehen kann, werden die anderen nachfolgen. Eben weil er der Anführer ist."

   Gilian schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich fürchte, da hast du dir `ne Menge vorgenommen. – Sein Vater ist übrigens ebenso extrem. Ich war heute noch mal bei ihm und so langsam bekomme ich das Gefühl, der General hält mich nicht nur für überflüssig, sondern auch für komplett naiv."

   Suzanne grinste. „Na und, wo ist das Problem? Ist doch nicht schlimm. Solange du es besser weißt, bist du doch klar im Vorteil."

   „Schon, aber es ärgert mich, dass die dort denken, ich wäre hier nur Staffage. Die Vorschläge, die der General mir heute vorgelegt hat sind genauestens durchdacht – mehr noch, sie sind fix und fertig, inklusive der bereits genehmigten Baupläne. Er hatte sogar schon die Anträge für die nötigen Subventionen vorbereitet. Ich hätte nur noch meine Unterschrift druntersetzen müssen. Ich glaube, die Herren waren sehr enttäuscht, dass ich mir Bedenkzeit zum Prüfen der Unterlagen ausgebeten habe." Gilian lächelte dünn bei der Erinnerung an die langen Gesichter der Soldaten.

   „Baupläne? Worum ging es?", erkundigte Suzanne sich interessiert.

   „Oh, sie haben gleich mehrere Projekte in der Planung: Ein Waffenlager mit angeschlossenem Schießstand, eine Abschussrampe und ein eigenes Schulgebäude innerhalb der Basis.“

   „Eine Abschussrampe?“ Suzanne machte große Augen. „Ernsthaft?“

   Ihre Mutter nickte. „Ja. Ziemlich nutzlose Vorhaben in dieser Gegend, wenn du mich fragst. Andererseits würden diese Dinge die Position der Basis hier natürlich manifestieren."

   „Na ja, klingt auf jeden Fall teuer", stellte Suzanne sachlich fest.

   Gilian nickte zustimmend. „Sehr teuer. Das Militär finanziert definitiv nur einen Bruchteil der Kosten. Daher legt der General auch so großen Wert auf die Subventionen. Den vollen Betrag."

   „Aber was wird dann aus Gilberts Station?", erkundigte sich Suzanne neugierig. „Und Toms Vater macht sich glaube ich auch Hoffnungen.“

   „Eben – das ist es ja. Für alle Projekte ist auf gar keinen Fall genügend Geld im Topf. Aber ich kann doch nicht gegen Dinge entscheiden, die ich noch nicht einmal gesehen habe. General McAllister ist das allerdings völlig gleichgültig. Meine Argumente zählen für ihn nicht. Na ja, Fakt ist, dass ich ihm meine Unterschriften zunächst einmal verweigert habe. Der gute Mann war ziemlich verstimmt, dass ich offensichtlich meine Entscheidungen selber treffe.“ Gilian strich sich die Haare hinter die Ohren. „Ich bewege mich auf dünnem Eis. Eigentlich dürfte ich gar nicht mit dir darüber reden. Also bitte…“

   „Keine Angst, ich verpfeif dich schon nicht, warf Suzanne trocken ein. Beiläufig kontrollierte sie ihr Outfit in dem deckenhohen Spiegel seitlich der Garderobe. „By the way, hat Mr. Gilbert sich eigentlich wegen eines Besichtigungstermins bei dir gemeldet?", erkundigte sie sich nebenbei.

   „Nein, aber nach meinem Besuch auf der Basis habe ich ihn heute angefunkt. Ich will die Besichtigung jetzt möglichst schnell hinter mich bringen. Bevor der General hier jeden Tag auf der Matte steht und Druck wegen seiner Pläne macht. Diese Woche klappt es leider nicht mehr. Aber nächsten Samstag will Mr. Gilbert mich abholen. Wie sieht´s aus? Hast du Lust, mich zu begleiten?“

   „Sieh´ an, sieh´ an, er will dich also persönlich abholen? Das ist aber nett. Ich hätte vermutet, für so etwas hat er Personal“, grinste Suzanne anzüglich. „Klar komm´ ich mit. Vorausgesetzt natürlich, ich störe nicht.“

   Gilian schüttelte betont unbeteiligt den Kopf und meinte: „Pass lieber auf, was du sagst. Solche Sprüche könnten schnell nach hinten losgehen. Dummes Gerede ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.“ Sie warf einen Blick aus dem Fenster. „Und jetzt mach, dass du rauskommst. Dein Date ist gerade vorgefahren."

   Suzanne verzog das Gesicht und ging zur Tür. „Ben ist nicht mein Date, klar? Der heutige Abend läuft unter dem Motto angewandte Diplomatie." Sie öffnete die Tür just in dem Moment als Ben anklopfen wollte.

**********

   „Hallo." Ben grinste breit, ließ seine Hand wieder sinken und musterte Suzanne abschätzend von oben bis unten. „Hey, cool, wie ich sehe bist du schon fertig. Kannst es wohl gar nicht erwarten, mal wieder rauzukommen, wie?"

   „Klar bin ich fertig. Immerhin bist du 10 Minuten zu spät.“ Obwohl Suzanne Bens offen zur Schau getragene Selbstsicherheit irgendwie abstieß, drehte sie sich kokett einmal um die eigene Achse. „Oder ist irgendwas an mir nicht in Ordnung?"

   Besitzergreifend legte Ben eine Hand um Suzannes Taille und drückte sie leicht an sich, während er ihr schnell einen freundschaftlichen Begrüßungskuss auf die Wange drückte. „Suzie, du bist mehr als in Ordnung. Du siehst toll aus. Ich bin schwer beeindruckt. Ehrlich."

   Suzanne wand sich geschickt aus Bens Umarmung heraus, bevor er ihr womöglich noch näher kam. „Warum sagst du eigentlich immer Suzie zu mir?“, erkundigte sie sich leicht verstimmt. „Ich mag das nicht. Es klingt, als wäre ich ein kleines Kind. Ich heiße Suzanne."

   Ben rümpfte die Nase. „Suzanne. Suzanne. Das klingt so streng. Irgendwie nach Gouvernante. Suzie klingt viel netter."

   Suzanne konnte sich selbst nicht erklären, was genau sie an Ben störte. Aber da war definitiv etwas. Gewiss: Er sah gut aus, war charmant und erfreute sich grosser Beliebtheit – zumindest bei den Amerikanern. Trotzdem: Er hatte manchmal eine Art an sich, die ihr sehr gegen den Strich ging. Sie versuchte, die unschönen Gedanken abzuschütteln und sich stattdessen auf den Abend zu freuen. Auf den ersten Film seit langer Zeit.  Sie lächelte andeutungsweise. „Komm, lass uns gehen, ich will nicht zu spät kommen."

   „Mach dir keine Sorgen. Wir haben noch jede Menge Zeit."

   „Trotzdem. Ich hasse es, mich durch volle Reihen schlängeln zu müssen.“ Suzanne ging voraus und fragte über die Schulter. „Weißt du eigentlich inzwischen was für ein Film heute Abend gezeigt wird?"

   „Keine Ahnung", antwortete Ben eine Spur zu schnell. Anscheinend hatte er Suzannes Gesichtsausdruck gesehen, der klar aussagte, dass sie ihm das nicht abkaufte, denn er setzte rasch hinzu: „Mach dir keine Gedanken. Bis jetzt waren die Filme immer gut. Lassen wir uns doch einfach überraschen, was die Jungs diesmal aufgetrieben haben."

**********

   Suzanne war entsetzt und bereute bereits zutiefst Bens Einladung angenommen zu haben. Auf der Leinwand, die man provisorisch an der Rückwand des Lagerraumes befestigt hatte, lief ein Actionfilm der allerhärtesten Sorte. Suzanne fand das Machwerk schon nach wenigen Minuten wahnsinnig brutal und schlichtweg überflüssig. Die Liebesszenen waren zudem hart an der Grenze zur Pornographie. Da im Verlauf des Films einige der stets minimalistisch bekleideten Gespielinnen des Hauptdarstellers abgeschlachtet wurden, bekam der `Held´ dummerweise des Öfteren die Gelegenheit, sein Können als Liebhaber zu beweisen.

   Es war Suzanne unbegreiflich, dass Ben sich anscheinend prächtig bei dem Gemetzel auf der Leinwand amüsierte. Außerdem war sie davon ausgegangen, dass an diesem Abend auch noch andere aus der Schule anwesend sein würden, doch das war nicht der Fall. Das zum Kino umfunktionierte Lager des Einkaufszentrums war zwar fast bis auf den letzten Platz besetzt, jedoch ausschließlich mit Soldaten der Basis, die hier ihre freie Zeit verbrachten. Da es in dieser Gegend nicht viele Möglichkeiten zur Zerstreuung gab, nutzten die Soldaten jede sich bietende Möglichkeit sich zu amüsieren.

   Ein Teil der Soldaten war mittlerweile stark angetrunken und dementsprechend war auch die Stimmung im Saal aufgeheizt. Wenigstens die kommen bei dem Scheiß auf ihre Kosten, dachte Suzanne bitter. Das schloss sie aus dem lauten beifallheischenden Johlen der jungen Männer, wenn der Hauptdarsteller einmal mehr im Zweikampf oder im Bett unter angestrengtem Stöhnen bewies, was er für ein toller Kerl war.

   Suzanne blickte sich unauffällig im Halbdunkel um, und fand bestätigt, was sie bereits vermutet hatte. Sie war tatsächlich das einzige weibliche Wesen in dieser illustren Gesellschaft. Schon als sie angekommen waren, hatte sie sich etwas hilflos nach Geschlechtsgenossinen umgesehen. Leider vergeblich. Die Soldaten hatten sie ungeniert gemustert und sie war sich in ihrem Outfit plötzlich nackt vorgekommen. Beinahe hektisch hatte sie ihre mitgenommene Bluse übergeworfen und das angebotene Bier kategorisch abgelehnt. Einigermaßen bestürzt hatte sie dabei zusehen müssen, wie Ben die Offerte dankend annahm. Wenn sie richtig mitgezählt hatte, nuckelte er gerade an der vierten Flasche. Sie war nicht zimperlich, fragte sich aber langsam ernsthaft, ob sie später noch zu ihm ins Auto steigen sollte. Nur … wie sollte sie stattdessen nach Hause kommen? Ein Königreich für ein Handynetz, dachte sie im Stillen. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft, dass sie ihr I-Phone schmerzlich vermisste. Wenn es hier funktionieren würde, dann wäre ein Anruf bei Gregory so sicher wie das Amen in der Kirche.

   Von Minute zu Minute fühlte Suzanne sich unbehaglicher, rutschte immer tiefer in ihren Sitz hinein und ärgerte sich maßlos darüber, dass Ben sie ausgerechnet zu solch einem Spektakel mitgenommen hatte. Hinzu kam, dass er sie, seitdem sie den Lagerraum betreten hatten, kaum mehr beachtet hatte. Die anzüglichen Bemerkungen einiger Soldaten in ihre Richtung ignorierte er schlicht. Langsam aber sicher schlug Suzannes Unbehagen in blanke Wut um, und das gab ihr schließlich den Mut Ben mit dem Ellbogen in die Seite zu knuffen:

   „Nicht jetzt", knurrte der unwillig. „Es wird gerade wieder  spannend.“

   „Ich möchte gehen", flüsterte Suzanne.

   Bens Kopf flog herum. Im Dämmerlicht war sein entgeisterter Gesichtsausdruck deutlich zu erkennen. „Was? Warum? Der Film ist doch noch lange nicht vorbei."

   „Er gefällt mir nicht", flüsterte sie und bemühte sich nicht auf die Leinwand zu blicken, wo der `Held´ gerade einmal mehr mit seiner neuesten Eroberung in den Clinch ging. „Um ehrlich zu sein, ich finde ihn scheiße. Lass uns was anderes unternehmen.“

   „Ich denk´ ja gar nicht dran." Ben konnte es anscheinend nicht fassen. Dann legte er gönnerhaft einen Arm um ihre Schultern. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so eine Mimose bist. Stehst wohl nur auf Heile-Welt und so´n Scheiß.“

   „Nein, aber ich…“ Ein Blick in Bens Gesicht reichte aus um Suzanne klarzumachen, dass jede weitere Argumentation zwecklos war. „Wie auch immer, ich bleibe nicht hier“, schloss sie mit fester Stimme. „Wenn du keinen anderen Vorschlag hast möchte ich nach Hause.“

   „Komm schon, hab' dich nicht so. Was ist so schlimm an dem Film?“ Ben kicherte. „Sag bloß, du bist prüde?“ Anscheinend fühlte er sich durch die Nahkampfleistungen des Helden angespornt, denn er ließ seine andere Hand über Suzannes Oberschenkel wandern und versuchte sie zu küssen.

   Suzanne roch Bens Alkoholfahne und wehrte sich energisch gegen die Umklammerung: „Ben!", japste sie. „Was zum Teufel soll das? Lass mich los! Spinnst du?" Sie registrierte, wie schrill ihre Stimme plötzlich klang.

   „Hey, Ruhe da vorne“, zischte es von hinten.

   „Schnauze“, zischte Ben, ohne sich umzudrehen. Dann wandte er sich wieder Suzanne zu. „Ich? Ich spinne? Du spinnst! Ich bin völlig normal! Du bist diejenige, die hier rumzickt. Komm, hab´ dich nicht so." Wieder startete er, mittlerweile angefeuert durch einige der Soldaten, einen neuen Angriff und ließ seine Hand in Richtung von Suzannes Brust wandern.

   Noch bevor Bens Hand ihr Ziel erreichte, wurde es Suzanne endgültig zu bunt. Ohne sich um die nun lautstark aufkommenden Proteste aus den hinteren Reihen zu kümmern stand sie abrupt auf und verabreichte Ben eine schallende Ohrfeige. Passenderweise genau in dem Moment als die Frau auf der Leinwand beglückt aufjubelte.

   „Verdammte Scheiße! Tickst du noch sauber?!“ Ben hielt sich die Wange und starrte Suzanne wutentbrannt an.

   Die schäumte ebenfalls: „Es reicht! Du bringst mich jetzt sofort nach Hause!“, forderte sie. „Ich warte draußen auf dich.“ Ohne Bens Antwort abzuwarten bahnte sie sich rigoros einen Weg durch die Stuhlreihe und rannte wie von Furien gehetzt nach draußen.

   Auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums stoppte sie, beugte sich nach vorn, legte sie Hände auf die Knie und atmete ein paar Mal tief durch. Dann blickte sie sich unsicher um. Mit einem Mal war sie sich gar nicht mehr so sicher, dass Ben ihr tatsächlich nach draußen folgen würde.  

   Obwohl sie ja darauf gewartet hatte, zuckte sie förmlich zusammen, als nach wenigen Sekunden die Hintertür zum Lager hektisch aufgestoßen wurde und Ben auf der Bildfläche erschien. Als er sie wenige Meter vom Ausgang entfernt entdeckte, stürmte er mit langen Schritten auf sie zu. Seine ansonsten so gutaussehenden Züge waren vor Wut verzerrt und Suzannes Zuversicht, dass er sie trotz des Streits heimbringen würde, schrumpften auf ein Minimum.

   „Bist du verrückt?!", brüllte er los, noch bevor er sie erreicht hatte. „Was ziehst du da drinnen für `ne scheiß Nummer ab? Ist dir klar, dass du mich bis auf die Knochen vor den anderen blamiert hast?“

   „Was glaubst du eigentlich, wie egal mir das ist? Ich bin verrückt, ja? Und du? Was ist mit dir? Du benimmst dich wie ein Arschloch!“

   „Wer konnte denn ahnen, dass du so verdammt prüde bist? Gibt's dich doch sonst nach außen so cool!"

   „Was hat das mit `Cool´ zu tun, verdammt?!"

   „Es ist absolut nicht cool, mich vor den Soldaten zu blamieren!", schrie Ben völlig außer sich. „Du … du … eingebildete, blöde Bitch!“

   Suzanne schluckte, doch sie lenkte ein: „Okay, vielleicht hast du recht. Ich hätte dich da drinnen nicht ohrfeigen sollen. Ich hab´ überreagiert und bin zu weit gegangen. Es tut mir leid.“

   „Vielleicht?! Ich fass´ es nicht." Ben lachte böse auf und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Geh´ mal zum Arzt. Mit deiner Wahrnehmung stimmt was nicht.“

   „Kein Grund, ausfallend zu werden. Ich sagte doch schon, dass es mir leid tut. Was soll ich denn noch tun? Könnten wir jetzt bitte fahren? Mir wird kalt."

   Ben sah sie so ungläubig an, als trüge sie plötzlich einen Rüssel statt einer Nase im Gesicht. Dann tippte er sich vielsagend an die Schläfe. „Mädchen, du hast vielleicht Nerven. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dich nach dieser Aktion heim fahre? Ob du es glaubst oder nicht, du Prinzessin auf der Erbse: Mich interessiert dieser Film. Sieh´ zu, wie du heimkommst. Ich wünsch´ dir noch `nen schönen Abend.“

   Suzanne beobachtete fassungslos, wie Ben sich auf dem Absatz umdrehte und wieder in Richtung Einkaufszentrum bewegte. Zutiefst erbost schnappte sie nach Luft und brüllte hinter ihm her: „Wenn du glaubst, ich finde ohne deine Hilfe nicht nach Hause, hast du dich verdammt noch mal geschnitten. Ich brauch´ dich nicht! Ich komm´ gut alleine klar!“

   Ben drehte sich nicht mal mehr um, sondern hob nur winkend einen Arm, bevor er wieder im Lagerraum und damit aus ihrem Sichtfeld verschwand.

   „Idiot!“ Sowas war ihr auch noch nicht passiert. In dem Bewusstsein, dass nun ein langer Heimweg vor ihr lag setzte Suzane sich zornig in Bewegung.

 

26. Kapitel

 

   Auch wenn Ben Suzannes letzte Bemerkung vermutlich schon gar nicht mehr mitbekommen hatte, gab es Beobachter der Szene, die sich auf dem Parkplatz abgespielt hatte. Zwei Afrikaner, die seitlich hinter den Büschen gewartet und die Geschehnisse genauestens und höchst interessiert verfolgt hatten, blickten sich nun vielsagend an und nahmen in einem angemessenen Abstand, jedoch ohne ihre Deckung zu vernachlässigen und daher unbemerkt von einem dritten Beobachter, die Verfolgung auf.

   Marc war aus einiger Entfernung ebenfalls zum unfreiwilligen Beobachter der Geschehnisse geworden. Nach einer weiteren verlustlastigen Nacht hatte er vor der Heimfahrt noch ein wenig Luft schnappen wollen und war zu Fuß unterwegs gewesen. Auf dem Rückweg zu seinem Motorrad hatte er die Szene auf dem Parkplatz bemerkt und inne gehalten. Intuitiv hatte er zunächst vorgehabt einzuschreiten, doch dann war ihm sehr schnell klar geworden, dass Suzanne sich durchaus alleine gegen den wütenden Ben behaupten konnte. Also hielt er sich zurück und blieb im Hintergrund in Deckung. Schließlich hatte er genug eigene Probleme und so wie er seine Klassenkameradin einschätzte, würde sie bestimmt gerne auf seine Unterstützung verzichten, und den Heimweg sicher auch ohne ihn finden.

   Bens Verhalten Suzanne gegenüber fand er zwar unmöglich, aber letzten Endes hatte es ihn nicht zu interessieren, was zwischen den Beiden vorgefallen war. Es ging ihn nichts an. Teilnahmslos beobachtete er, wie Suzanne sich mit schnellen, energischen Schritten auf den Weg in Richtung Stadt machte. Nachdem er ihre Gestalt nur noch schemenhaft erkennen konnte, zuckte er mit dem Schultern und machte sich auf den Weg zu seinem Motorrad. Er war frustriert, müde und wollte nur noch ins Bett.

**********

   Wütend und grenzenlos enttäuscht über Bens Benehmen stapfte Suzanne die in diesem Bereich staubige und unbefestigte Straße entlang. Im Grunde bestand die Straße aus nicht viel mehr als einer im Laufe der Jahre festgefahreren Lehmschicht. Tausend Gedanken schwirrten durch ihren Kopf aber letzten Endes manifestierte sich der, dass sie sich eingestand, dass Ben zumindest in einem Punkt recht gehabt hatte. Sie war blöd. Geradezu dämlich. Sie hätte einkalkulieren müssen, dass Ben so reagieren würde, wie er es getan hatte.

   Gott, sie war wütend. So entsetzlich wütend. Am allermeisten jedoch auf sich selbst, weil sie es nicht vorausgesehen hatte. Unterschwellig hatte sie doch die ganze Zeit schon gespürt, dass mit Ben etwas nicht in Ordnung war. Von Anfang an hatte sie irgendetwas an ihm gestört. Sein grenzenlos egoistisches Verhalten. Sein total übersteigertes Selbstbewusstsein. Was zum Teufel hatte sie bloß geritten, dass sie sich darauf eingelassen hatte, sich alleine mit ihm zu treffen? Hinterher ist man immer schlauer würde ihre Mutter vermutlich dazu sagen, aber das nützte ihr jetzt herzlich wenig.

   „Blöd, blöd, blöd“, murmelte sie immer wieder leise vor sich hin, während sie sich nur langsam beruhigte. „Du bist selber schuld an deiner Situation, also jammere hier nicht rum.“ Sie bildete sich ein, ein Geräusch gehört zu haben und fuhr herum. Aufmerksam musterte sie die undurchdringliche Dunkelheit hinter sich. Nichts. „Sieh´ lieber zu, dass du heimkommst, bevor du hier noch überschnappst.“

   Es war ein ziemlich langer Weg vom Einkaufszentrum bis zur Stadt – zumindest, wenn man ihn zu Fuss zurücklegen musste. Bislang hatte sie den Weg ja immer in der Limousine zurückgelegt. Oh Mann, wo war Gregory wenn sie ihn mal wirklich brauchte? Ja, es wäre jetzt schon cool, wenn er zufällig hier vorbeikäme und sie bequem in den Wagen steigen könnte. Das erste Mal, seitdem sie in Afrika angekommen war, wünschte sie sich etwas mehr Bequemlichkeit. Aber es war ja auch das erste Mal, das sie um diese Zeit noch alleine unterwegs war und das war gerade … alles andere als aufbauend, wenn sie ehrlich war.

   Suzanne musste lächeln. Wenn ihre Mutter sie jetzt sehen würde … sie würde im Carré springen und sich fürchterlich aufregen. Sie war immer so überbesorgt. Gut, dass sie noch nicht zurück erwartet wurde. Das bedeutete, dass sie sich wenigstens Zeit lassen konnte und sich nicht zu allem Überfluss auch noch beeilen musste. Himmel, was für ein verkorkster Abend. Zudem ein Abend, der vermutlich auch noch ein Nachspiel hatte. Sie wüsste zu gerne, was Ben den anderen aus der Clique über die Verabredung erzählen würde. Wenn es richtig mies für sie lief, waren die gerade neu geknüpften Bande danach bereits wieder zerschnitten und sie stand alleine auf weiter Flur. Super. Wahrlich eine tolle Vorstellung. Gratuliere Suzanne, das hast du richtig gut hinbekommen.

   Sie kam an eine Weggabelung und blieb verunsichert stehen. Nicht, weil sie nicht weiterwusste, sondern weil sie dieses unbestimmte Gefühl, dass sie nicht alleine unterwegs war, einfach nicht abstreifen konnte. Wieder blickte sie sich aufmerksam um und wieder schüttelte sie kurz darauf den Kopf und seufzte. Da war nichts. Zum Teufel, seit wann war sie so ängstlich?

   Suzanne legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Seltsam: Das schien die schwärzeste Nacht zu sein, die sie jemals erlebt hatte – selbst die Sterne hatten sich gegen sie verschworen und hatten sich hinter einer dichten, dunklen Wolkenwand verschanzt. Wo war der Mond? Sollte nicht wenigstens der irgendwo durch die Wolkendecke schimmern? Du wirst paranoid, Mädchen, sagte sie sich selbst. Jep, das ist es. Paranoid. Das erklärt vieles. Bleib locker und hör auf mit dem Scheiß. Da draußen ist nichts. Geh einfach weiter und sieh zu, dass du heim kommst.

   Suzanne setzte sich wieder in Bewegung und erreichte zu ihrer Erleichterung jetzt das letzte Stück der Lehmstraße. Die Stelle, wo die Straße nach der nächsten Weggabelung zunächst deutlich breiter und wenige Schritte weiter dann sehr viel schmaler wurde. Sie wusste, von hier aus waren es noch knapp 2 Kilometer bis nach einer Biegung die ersten Häuser in Sichtweite kommen würden. Die äußere Umgebung hatte sich bereits geändert. Zuvor war rechts und links des Weges nur Steppe gewesen, doch jetzt wurde der Busch immer dichter, bis er fast undurchdringlich schien. Sofern das überhaupt möglich war, schien es noch dunkler geworden zu sein. Es war klaustrophobisch. Suzanne konnte kaum noch die Hand vor Augen erkennen, was plötzlich einen äußerst unwillkommenen Gedanken heraufbeschwor: Was, wenn ihr hier tatsächlich jemand auflauerte? Niemand würde es mitbekommen. Sie wäre der Situation hilflos ausgeliefert. Verdammt, warum war sie nicht beim Zentrum geblieben und hatte darauf bestanden, dass irgendjemand ihre Mutter oder Gregory informierte? Es blieb dabei: Sie war blöd! Saublöd!

   Tapfer versuchte Suzanne die stärker aufkommende Angst zu verdrängen und zwang sich Schritt für Schritt weiterzugehen. Irgendwo seitlich knackte ein trockener Ast. Erschrocken hielt sie inne und lauschte erneut in die undurchdringliche Finsternis hinein. Sehen konnte sie nichts, aber das war doch ganz in ihrer Nähe gewesen – oder etwa nicht?

   „Unsinn", schalt sie sich selbst und sprach absichtlich laut. „Sei kein solcher Kindskopf! Ist doch ganz normal, dass es hier im Busch Geräusche gibt. Das war irgendein nachaktives Tier, nichts weiter."

   In diesem Augenblick flatterte ein Vogel aus dem Gebüsch direkt neben ihr laut zeternd auf und Suzanne hatte Mühe, einen erschrockenen Aufschrei zu unterdrücken. Schließlich musste sie über sich selber lachen. Wahrscheinlich war der kleine Kerl genauso erschrocken wie sie selbst. Entschlossen ging sie weiter, doch ihre Sinne blieben von nun an mehr als aufmerksam.

   Verdammt, sollte sie nicht langsam die letzte Biegung erreicht haben, die sie in die Stadt führte? Wie lange brauchte man für knapp 2 Kilometer, wenn man zügig marschierte? Suzanne kam es so vor, als wäre sie schon wieder eine gefühlte Ewigkeit seit der letzten Weggabelung unterwegs. Weit konnte es auf jeden Fall nicht mehr sein. Bald hatte sie das Schlimmste geschafft. Ganz bestimmt. Sie hoffte, sie betete für einen ersten Lichtschein aus den Häusern am Stadtrand. Ihre Nerven lagen blank und diese verflixte Schwärze um sie herum machte sie zusätzlich fertig.

   Da! Was war das?

   Blitzschnell fuhr Suzanne herum. Wieder glaubte sie, etwas gehört zu haben. Noch nicht in unmittelbarer Nähe, aber auch nicht allzu weit entfernt. Schritte? Angestrengt starrten ihre Augen in die Dunkelheit hinein und konnten doch nichts erkennen. Sie nahm all ihren restlichen Mut zusammen und fragte: „Hallo? Ist da jemand?"

   Die Dunkelheit blieb stumm.

   Kein Knacken, keine Schritte, nicht einmal der Vogel rührte sich noch einmal.

   Zögernd drehte sie sich wieder um und ging weiter – allerdings deutlich schneller als zuvor. Sie traute sich kaum zu atmen, vor lauter Sorge, dass sie womöglich irgendein Geräusch verpasste. Lange brauchte sie allerdings nicht zu warten und dieses Mal war sie sich zu einhundert Prozent sicher. Da waren Schritte. Dicht hinter ihr. Erneut fuhr sie auf dem Absatz herum und glaubte im selben Augenblick ein Stück weiter hinten in der Dunkelheit undeutlich einen Schatten zur Seite huschen zu sehen.

   „Ben?" Suzanne konnte nicht mehr verhindern, dass ihre Stimme zitterte. Na und, dann hatte sie eben Angst. Hauptsache, sie kam hier mit heiler Haut raus. „Ben, bist du das? Bitte komm raus: Das ist jetzt nicht mehr komisch."

   Keine Antwort.

   „Ben, bitte. Du machst mir Angst. Komm bitte raus und bring mich nach Hause."

   Unmittelbar neben Suzanne knackte es laut und vernehmlich im Unterholz. Da war es mit ihrer mühsam bewahrten Fassung vorbei: Wie von Furien gehetzt rannte sie los, stolperte aber schon nach wenigen Metern über eine Wurzel und schlug der Länge nach so hart auf den festen, trockenen Lehm der Straße, dass jede Menge Staub aufstob und ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie ignorierte ihr brennendes Knie, rappelte sich hustend wieder auf die Füße, und … sah sich plötzlich zwei Männern gegenüber, die ihr den Weg versperrten. Sie waren schwarz gekleidet und ihre Gesichter waren unter dunklen Strumpfmasken verborgen. Außer den Augenlöchern war für Suzanne nichts zu erkennen. Ihr Herz pumpte so hart in ihrem Brustkorb, dass sie glaubte, die Männer müssten das hören.

   „Na, wen haben wir denn da?“, meinte der links von ihr stehende, etwas größere der beiden. Seine Stimme klang dumpf hinter der Maske und sein Kopf bewegte sich langsam taxierend von oben nach unten an ihrem Körper entlang. „So spät noch unterwegs?“

   „Wer seid ihr?“ Nervös zerrte Suzanne ihren beim Sturz hochgerutschten Minirock nach unten. Sie war sich absolut bewusst, dass der Typ sie gerade ungeniert musterte. „Was wollt ihr von mir?" Sie hörte selber, wie kläglich sie sich anhörte, doch sie konnte es nicht verhindern.

   „Nur ein bisschen Spass", sagte nun der andere.

   Suzanne war klar: Alleine hatte sie nicht den Hauch einer Chance gegen zwei erwachsene Männer, die vor ihr den Weg versperrten. Sie hatte nur eine Möglichkeit. Sie musste das Überraschungsmoment ausnutzen. Blitzschnell warf sie sich nach vorn und versuchte zwischen den beiden wegzutauchen, doch einer der beiden hatte ihr Vorhaben geahnt und es gelang ihm im letzten Moment, sie am Arm zu packen und festzuhalten, bevor sie es an ihm vorbei geschafft hatte. Ihre Angst, Wut und Enttäuschung brachen sich in einem kurzen Aufschrei Bahn.

   „Aber, aber, wohin so eilig?", fragte der Mann höhnisch.

   Tief Luftholen, ihre Kräfte bündeln und dann dem Typen mit dem Mut der Verzweiflung das Knie zwischen die Beine rammen, war eins. Als ihr Gegner daraufhin abrupt lockerließ, riss Suzanne sich los und gab Fersengeld; die Strumpfmaske, die sie dem Mann beim Gerangel vom Kopf gezogen hatte, fest umklammert in der linken Hand. Leider kam sie nicht allzu weit. Der zweite Mann sprang ihr von hinten in den Rücken und sie fiel erneut hart nach vorn. Sie wehrte sich, so gut sie nur konnte, aber sie erreichte nichts weiter, als dass sie auch ihm die Maske vom Kopf zerren konnte. Letztlich nutzte ihr das aber alles nichts. Nach einem kurzen, heftigen Kampf fand sie sich auf dem Rücken liegend wieder. Ein ihr fremder Afrikaner kniete über ihr; ein Knie auf dem Boden und das andere angewinkelt auf ihrem Bauch um sie zu fixieren. Mit stahlhartem Griff packte er ihre Handgelenke und zwang ihre Arme über den Kopf.

   „Wow, wer hätte das gedacht. Du bist ja eine richtige kleine Wildkatze“, raunte er schweratmend. „Nicht schlecht.“

   „Lass mich los!", verlangte Suzanne und wand sich unter seinem Körper, ohne sich jedoch einen Vorteil herausarbeiten zu können. „Sofort.“

   „Aber, aber. Was hast du gegen ein bisschen Spass einzuwenden? So wie du aussiehst… Ich schätze, du bist auf der Suche. Es ist, weil wir schwarz sind, hm? Du treibst es nicht mit Schwarzen, oder?"

   Suzanne presste die Lippen zusammen und schwieg hartnäckig. Was sollte sie auch angesichts dieser Unterstellung antworten? Egal was, es würde diese Typen nur weiter anstacheln. Sie versuchte, ihren bei dem Angriff von hinten bis zur Taille hochgerutschten Rock aus ihren Gedanken zu verbannen und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, wie sie sich aus ihrer misslichen Lage befreien konnte.

   Völlig unvermittelt verabreichte ihr der Typ, der auf ihr saß, eine Ohrfeige, die ihren Kopf zur Seite fliegen ließ. Tränen schossen in ihre Augen, doch sie biss die Zähne zusammen und gab keinen Laut von sich. Es war eine pure Trotzreaktion, aber sie wollte diese Typen auf keinen Fall ihre Angst spüren lassen. Der Mann über ihr beugte sich jetzt tief nach unten. Sein Gewicht drückte ihren Rücken fester auf den lehmigen Boden und Suzanne bekam akute Atemnot. Sie unterdrückte ein spontanes Ekelgefühl, als sie gleich darauf den warmen Atem ihres Angreifers dicht über ihr Ohr streichen fühlte.

   „Du bist ja tatsächlich eine arrogante Fotze“, raunte er leise. „Aber hey, nichts gegen ein bisschen Gegenwehr. Ich mag das.“ Er drehte den Kopf und sagte zu seinem Kumpel, der immer noch am Boden kniete und vorsichtig seine Weichteile betastete. „Los, komm her. Geh hinter sie und halt sie fest“, befahl er knapp. Ein tiefes und kehliges Lachen folgte: „Ich hoffe, dir ist klar, dass das ein Logenplatz ist.“

   „Aber…“

   Suzanne, die bei den Worten ihres Peinigers entsetzt den Atem angehalten hatte, registrierte dankbar, dass dessen Freund offenbar Skrupel hatte, dem Befehl seines Freundes Folge zu leisten. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance, unbeschadet aus der Situation heraus zu kommen.

   „Mach schon. Ich will der Schlampe nur kurz zeigen, wer hier das Sagen hat. Wenn du willst, kannst du danach auch.“

   „Hey, du willst sie doch nicht ernsthaft…? Bist du verrückt? Sie hat unsere Gesichter gesehen. Sie wird uns verpfeifen.“

   Der Typ über Suzanne richtete sich kurz auf und brüllte. „Glaubst du, das weiß ich nicht? Idiot! Wir müssen so oder so die Kurve kratzen. Da kann ich vorher auch noch die Früchte meiner Arbeit genießen. Selbst schuld, wenn du nicht willst.“ Er beugte sich wieder über sein Opfer und Suzanne spürte, wie er sein steinhartes Geschlechtsteil kurz an ihrem Unterbauch rieb und dabei unmittelbar neben ihrem Ohr tief aufstöhnte. „Oder kannst“, setzte er gehässig hinzu, bevor er Suzannes Kiefer mit Daumen und Zeigefinger hart packte und sie zwang, ihn anzusehen.

   Sie hätte nie vermutet, dass sie imstande dazu war, in so kurzer Zeit einen solchen Hass auf einen anderen Menschen zu entwickeln. Noch dazu auf eine Person, die sie bis vor wenigen Minuten gar nicht gekannt hatte. In diesem Augenblick aber spürte Suzanne den Hass derart in sich auflodern, dass sie ihren eigenen Puls in den Ohren pochen spürte.

   Als der Typ sich jetzt wieder vorbeugte und seine Lippen fest auf ihre presste, wurde ihr kurz schwarz vor Augen und sie musste alle Willenskraft, derer sie noch fähig war, aufbringen, um nicht ohnmächtig zu werden. Ihr wurde schlecht und sie musste würgen, aber das störte den Afrikaner nicht im  Geringsten. Suzanne versuchte mit aller Kraft, ihm ihren Kopf zu entziehen, doch der Typ hielt sie fest, als wäre das gar nichts. Das Schlimmste jedoch war, dass der zweite Mann, der ganz offensichtlich nicht mit der Aktion seines Freundes einverstanden war, nichts unternahm, um ihr zu helfen. Wenigstens hielt er sie nicht fest, registrierte sie. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung.

   „Mach, was du willst, aber da spiele ich nicht mit“, hörte sie ihn jetzt sagen und gleich darauf verrieten ihr sich schnell entfernende Schritte, dass er offensichtlich auf die Füße gekommen war und das Weite suchte.

   Nein, dachte Suzanne verzweifelt. Tu das nicht! Bitte! Hilf mir doch! Sie versuchte, ihre Füße in den Boden zu stemmen um Halt zu bekommen, doch sie rutschte immer wieder ab. Ihre Bemühungen waren nicht viel mehr als ein hilfloses Gestrampel.

   „Feigling“, zischte ihr Peiniger und machte Anstalten, Suzanne erneut zu küssen. Gleich darauf schrie er auf, als sie den Versuch vereitelte, indem sie ihm fest in die Lippen biss. „Verdammtes Miststück!“ Er ließ ihre Arme los, legte beide Hände fest um ihren Hals und drückte zu. „Dir werd´ ich´s zeigen!“

   Suzanne wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung, doch schon nach wenigen Sekunden tanzten helle Blitze vor ihren Augen und ihre Gegenwehr erlahmte. Aus der Ferne glaubte sie leise ein sich näherndes Motorengeräusch zu hören. War hier der Wunsch der Vater des Gedanken? Vermutlich, sagte sie sich deprimiert. Das Rauschen in ihren Ohren hatte so stark zugenommen, dass sie in ihrer Hoffnungslosigkeit schon alles Mögliche dort hinein interpretierte.

 

27. Kapitel

 

 

   Marc konnte später nicht sagen, was genau ihn zur Umkehr bewogen hatte. Er war schon fast zu Hause, als ihn plötzlich irgendetwas dazu zwang umzudrehen. Er konnte es sich selbst nicht erklären, aber da war dieses untrügliche Gefühl von nahendem Unheil. Ein Gefühl, dass er nicht richtig zu fassen bekam, dass sich aber partout nicht abschütteln ließ.

 

   Er bremste, stellte die Füße auf den Boden und horchte einen Moment lang still in sich hinein. Schließlich seufzte er frustriert, wendete seine Maschine und fuhr zurück. Am Parkplatz des Einkaufszentrums vorbei, der jetzt ruhig und verlassen in der Dunkelheit lag, und von dort aus die alte Lehmstraße entlang, die in die Stadt führte. Sein Scheinwerfer durchschnitt die Finsternis und beleuchtete hell den Weg, der vor ihm lag. Er rechnete jeden Augenblick damit, auf eine extrem wütende Suzanne zu treffen, doch zu seinem Erstaunen tauchte das Mädchen vorläufig noch nicht im Scheinwerferkegel auf.

 

   Ganz schön flott unterwegs, die Kleine, dachte er und fragte sich, ob er sich womöglich doch geirrt hatte, was sein Gefühl anging. Vor ihm tauchte jetzt schon das letzte Stück Busch vor der Stadt auf. Er hielt an, stellte ein Bein auf den Boden, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und fragte sich, ob es überhaupt noch Sinn machte, weiter zu fahren. Es war spät und er war hundemüde. Allerdings war dieses vage Gefühl von Gefahr immer noch da; es wollte ihn einfach nicht loslassen. Okay, nur noch bis zur Biegung, dann drehe ich endgültig um, sagte er sich, setzte den Fuß zurück auf die Pedale und gab Gas.

 

   Wenige Sekunden später blieb ihm kaum Zeit zu reagieren. Die Szene, die sich in der Dunkelheit auf der Straße abspielte, tauchte so urplötzlich im Scheinwerferlicht auf, dass Marc prompt ins schleudern geriet.

 

   „Scheiße!“, fluchte er instinktiv, bremste hart und riss gleichzeitig reaktionsschnell den Lenker zur Seite. Nur der Tatsache, dass er ein geübter Fahrer war, der seine Maschine kannte und im Griff hatte, war es zu verdanken, dass er nicht schnurstracks in die Menschen, die sich da vor ihm auf dem festgetretenen Lehmboden wälzten, hineinraste. Es kostete ihn einiges an Kraft und Geschick, einen Unfall zu vermeiden, doch mit Glück und Können gelang es ihm, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Als Marc sicher war, dass er es geschafft hatte, sprang er ab, noch bevor die Maschine ganz zum Stehen gekommen war. Sein heißgeliebtes Motorrad kippte zur Seite und schlidderte noch ein paar Meter weiter über den lehmigen Boden. Dabei wurde mächtig Staub aufgewirbelt, der den Weg in eine Art feinen Nebel tauchte und die Sicht erschwerte. Mit laufendem Motor blieb die Maschine schließlich, gestoppt vom trockenen Unterholz, am Straßenrand liegen, wobei der Scheinwerfer in dieser für ihn unnatürlichen Position die Szene auf der Straße in ein gespentisches Licht tauchte.

 

   All das kümmerte Marc im Augenblick nicht. Ohne großartig nachzudenken stürzte er sich auf den Typen, der über Suzanne kniete. Er packte den Mann am Kragen und riss ihn mit voller Wucht zurück. Dabei ließ er den Gegner nicht los, sondern wirbelte ihn gleichzeitig herum, holte mit der freien Hand weit aus und legte all seine Kraft in den Faustschlag, den er gleich darauf krachend auf dessen Nase platzierte. Es gab ein häßliches, knackendes Geräusch, bevor Blut floss.

 

   Eine Menge Blut.

 

**********

 

   Es dauerte einen Augenblick bis Suzanne realisierte, dass die Schraubstöcke um ihren Hals genauso verschwunden waren wie ihr Angreifer. Ihre Sehschärfe nomalisierte sich und sie konnte wieder freier atmen. Irgendetwas war passiert, sie wusste nur noch nicht was. Egal! Weg! Bloß weg hier, signalisierte ihr Gehirn und sie wollte nichts mehr, als dem instinktiven Befehl ihres Denkzentrums gehorchen. Panisch rappelte sie sich auf und robbte auf Knien, eine Hand am Hals und immer noch heftig nach Luft ringend und hustend, an den Straßenrand, wobei sie sich auf der zweiten Hand abstützte. Sie traute ihren Beinen noch nicht, daher blieb sie dort angekommen einfach auf dem Boden sitzen und beobachtete fassungslos was sich auf dem Weg vor ihren Augen abspielte.

 

   Erst beim zweiten Hinsehen erkannte sie, wer ihr da so unvermittelt, quasi im letzten Moment, zur Hilfe gekommen war. Es war tatsächlich Marc, der sich da gerade, nur wenige Meter von ihr entfernt, auf dem staubigen Boden, in einem wilden Handgemenge mit ihrem Angreifer prügelte. Es sah ganz gut für ihn aus. Er war zwar nicht allzu groß, aber dafür anscheinend stark, geschickt und ausdauernd. Der Afrikaner war größer und auch kräftiger gebaut, aber dadurch bot er auch mehr Angriffsfläche und tat sich eindeutig schwerer, wenn es darum ging, Marcs wütenden Schlägen flink auszuweichen.

 

   Gerade schrie er erneut laut auf, gab sich aber noch lange nicht geschlagen, sondern stürzte sich nun seinerseits entschlossen auf Marc. Suzanne zuckte zusammen als ihr Retter einen derben Schlag ins Gesicht hinnehmen musste, der ihn mehrere Schritte zurücktaumeln ließ. Er schüttelte sich kurz und brauchte offensichtlich einen Moment, um sich zu sammeln und von dem Treffer zu erholen.

 

   Suzannes Blicke wanderten von Marc zurück zu dem Afrikaner. Genau im richtigen Augenblick. Im unwirklichen Scheinwerfernebel des daliegenden Motorrades sah sie etwas silbernnes aufblitzen und wusste sofort, dass ihr keine Zeit für Überlegungen blieb. „Pass auf!“, schrie sie laut. „Er hat ein Messer!“ Sie sprang auf, und hastete rüber zum Motorrad. Sie hatte zwar keine Ahnung wie man so ein Ding fuhr, ging aber davon aus, dass dies nicht allzu schwer sein konnte. Ihr Entschluss stand fest, sie musste ihn nur noch umsetzen. Nur gut, dass der Motor noch lief. Ehe sie es sich versah, hatte sie die schwere Kiste aufgehoben, ein Bein über den Sitz geschwungen und die Maschine in Position gebracht. Das alles war binnen von Sekunden geschehen und sie konnte nur hoffen, dass der Motor nicht im ungünstigsten Moment doch noch absoff. „Marc“, brüllte sie erneut und betete, dass genug Zeit blieb. „Na, los! Komm! Spring auf! Mach schon! Schnell!"

 

   Marc zögerte keine Sekunde und setzte zu einer Hechtrolle an, die ihn seitlich an seinem Gegner vorbei in Suzannes Richtung bringen sollte. Ein guter Plan und fast wäre er auch aufgegangen, doch dem Afrikaner reichte ein reaktionsschneller Schritt zur Seite, um Marc mit dem Messer am Arm zu erwischen. Suzanne zuckte vor Schreck zusammen, als sie ihren Klassenkameraden heiser aufschreien hörte. Der nächste Hieb streifte ihn Gott sei Dank nur noch leicht, denn er hatte sich geistesgegenwärtig zur Seite gerollt und war so der neuerlichen Attacke ausgewichen. Sein Gegner hingegen wurde durch die Tatsache, dass er nicht richtig traf, vom eigenen Schwung von den Füßen gerissen und fiel laut fluchend der Länge nach vornüber in den Staub.

 

   Marc verlor keine Zeit, kam auf die Füße, hetzte taumelnd auf Suzanne zu und sprang hinter sie auf den Sozius. Mit dem unverletzten Arm umklammerte er ihre Taille, blickte kurz über die Schulter und schrie: „Der Gang ist noch drin! Gib Gas! Na los, fahr, verdammt noch mal!"

 

   Suzanne nickte hektisch und drehte den Gaszug bis zum Anschlag, was zur Folge hatte, dass das Motorrad einen Satz nach vorn machte und Marc um ein Haar hintenüber gefallen wäre. Mit seinem gesunden Arm presste er sich so fest an sie, dass es schmerzte, doch sie verlor kein Wort darüber. Der Motor heulte einmal laut auf und dann preschte die Maschine leicht schlingernd die Straße entlang. Himmel noch mal, sie wusste im Grunde gar nicht genau, was sie hier tat. In diesem Augenblick wusste sie nur eins: Sie musste funktionieren, durfte sich jetzt keinen Fehler leisten. Es galt möglichst schnell, möglichst viele Meter zwischen sie beide und ihren Angreifer zu bringen. Das war die Hauptsache! Und dazu musste sie fahren, fahren, fahren und einfach nur dafür sorgen, dass sie nicht stürzten. Sie alleine musste das regeln, denn Marc hatte hinter ihr schwer mit seiner Verletzung zu kämpfen. Das schloss sie daraus, dass er sie immer noch mit nur einem Arm umklammert hielt, während er den anderen schlaff seitlich herunterhängen ließ. Mehr intuitiv spürte sie, wie er seinen Kopf nach vorn beugte.

 

   „Halt an“, hörte sie ihn gleich darauf dicht neben ihrem Ohr brüllen.

 

   Kunststück, dachte Suzanne, die noch nie zuvor auf einem Motorrad gesessen hatte, vielweniger eins gefahren war. „Wie denn?“, schrie sie daher über die Schulter zurück.

 

   Marc erklärte ihr hastig, was sie zu tun hatte und für den ersten Versuch brachte sie die Kiste kurz darauf ganz vernünftig zum Stehen.

 

   Mit einem Stöhnen ließ Marc sich vom Sitz aus zu Boden gleiten, blieb auf dem Rücken liegen und bedeckte mit dem gesunden Arm seine Augen. Suzanne schaltete den Motor aus, stellte balancierend die Zehenspitzen auf den Boden und beobachtete ihn mit gemischten Gefühlen. Er tat ihr leid. Es war ihm anzusehen, dass er Schmerzen hatte und immerhin war er wegen ihr in diesem Zustand. Andererseits war sie ihm unendlich dankbar, dass er ihr zu Hilfe gekommen war. Wer weiß, was sonst passiert wäre, dachte sie und schauderte unwillkürlich. Sie war nicht naiv und es war wahrlich nicht schwer, sich das auszumalen.

 

   Marc bewegte sich und stöhnte wieder schwach. Suzanne beschloss, ihm noch einen Moment Ruhe zu gönnen. Stattdessen blickte sie sich um und versuchte auszumachen, wo sie sich befanden. Überrascht stellte sie fest, dass sie die Stadtgrenze passiert hatten. Wahnsinn, sie hatte vorn gesessen, war gefahren und hatte nichts davon bemerkt. Sie befanden sich sogar schon in der Nähe der Botschaft. Von ihren Angreifern war Gott sei Dank nichts mehr zu sehen, stellte sie fest, nachdem sie zurückgeschaut und mehrere Sekunden intensiv gelauscht hatte. Außer Marcs erneutem leisem Stöhnen, während er versuchte, sich auf die Seite zu drehen, war kein weiteres Geräusch zu hören. Es schien, als wären sie tatsächlich in Sicherheit.

 

   Unsicher blickte sie wieder auf Marc, der den Versuch die Position zu wechseln, inzwischen aufgegeben hatte und wie zuvor auf dem Rücken lag. Wenigstens stöhnte er nicht mehr. Aber im Augenblick wirkte er nicht so, als könnte er wieder auf das Motorrad steigen. Noch weniger würde er es fahren können und sie hatte definitiv fürs Erste genug von derartigen Manövern. Umständlich stieg sie ab und war gerade im Begriff die Maschine seitlich auf den Boden zu legen, als sie durch ein knappes: „Hey!", an diesem Vorhaben gehindert wurde.

 

   Mit seiner gesunden Hand bedeutete Marc ihr, dass sie die Maschine nicht ablegen, sondern aufbocken sollte. Suzanne nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Nach zwei vergeblichen Versuchen hatte sie das schwere Motorrad endlich auf den Ständer gehieft und ging neben Marc auf die Knie.

 

   „Hey, wie geht´s dir?“, fragte sie leise und zeigte auf seinen Arm. „Läßt du mich mal sehen?“

 

   Sie wartete einen Augenblick ab und als sie keine Antwort bekam, griff sie vorsichtig nach Marcs verletzten Arm. Er zuckte deutlich sichtbar zusammen, aber weder wehrte er sich, noch sagte er einen Ton. Trotzdem ließ Suzanne direkt wieder los, denn das Letzte, was sie wollte, war, ihm noch mehr Schmerzen zuzufügen.

 

   „Schon gut. Bleib ruhig liegen. Ich hör auf“, sagte sie schnell und fügte mitfühlend hinzu: „Ist es sehr schlimm?"

 

   Statt einer Antwort zuckte er nur leichtsinnigerweise mit den Achseln, was ihn umgehend erneut zusammenzucken ließ. „Scheiße“, murmelte er leise und verzog das Gesicht.

 

   Suzanne gab sich einen Ruck und stand entschlossen auf: „Wir müssen in die Botschaft – dein Arm muss versorgt werden."

 

   „Nein. Suzanne, warte. Ich…“ Na, wenn das keine prompte Reaktion war. Sie hatte es geschafft und ihn endlich zum Reden gebracht. Suzanne beobachtete ruhig, wie Marc die Wangen aufblies, sich konzentrierte und schließlich vorsichtig aufsetzte. Nachdem er es im zweiten Anlauf geschafft hatte, atmete er, auf seinen gesunden Arm gestützt, einmal tief durch. „Das ist nicht nötig, es geht schon wieder“, verkündete er dann wenig überzeugend. „Viel wichtiger ist…“ Er machte eine Pause, hob den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen. „Wie geht es dir?“

 

   „Mir?“ Suzanne war ehrlich überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Ich bin im Gegensatz zu dir unverletzt. Na ja, bis auf ein paar Kratzer vielleicht. Nicht der Rede wert. Aber dein Arm…“

 

   „Suzanne. Bitte. Ich muss wissen, ob dieser Typ dich … du weißt schon. Hat er dich angefasst?“

 

   Bei der Erinnerung daran, was der Afrikaner zu ihr gesagt hatte und wie er sie begrapscht hatte verzog Suzanne angeekelt ihr Gesicht und konnte nicht verhindern, dass sie unkontrolliert zu zittern begann.

 

   „Oh, Gott“, zischte Marc als er ihre Reaktion registrierte. „Er hat also.“ Er ballte eine Faust und es war offensichtlich, wie sehr ihn seine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit gerade frustrierte. „Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich wünschte, ich wäre früher zur Stelle gewesen. Nur ein paar Minuten. Ehrlich, es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was ich sagen soll…“

 

   „Hey.“ Suzanne unterbrach ihn, indem sie schnell ihre Hand auf seinen gesunden Unterarm legte. „Bleib ruhig. Du bist gerade noch rechtzeitig gekommen. Er hat mich zwar betatscht und versucht, mich zu küssen, aber mehr ist nicht passiert. Ein paar Beleidigungen, ein angekratztes Ego… aber sonst ist alles gut.“

 

   „Sicher?“, hakte er leise nach.

 

   „Natürlich. Anderenfalls wäre ich bestimmt nicht so… na ja, ich schätze, dann wäre ich definitiv anders drauf“, antwortete sie und lächelte ein wenig gequält. „Weißt du, es ist irgendwie komisch, mit dir darüber zu reden. Aber Danke. Ich steh´ tief in deiner Schuld.“

 

   „Quatsch.“ Marc atmete sichtlich auf. „Ich bin froh, dass ich rechtzeitig eingreifen konnte. Ich dachte schon, ich wäre zu spät.“ Er kam ein wenig umständlich auf die Füße und klopfte sich mit einer Hand den Staub von den Sachen, so gut es eben ging. Danach warf er über die Schulter einen Blick auf sein Motorrad. „Ich werd´ dann mal. Es ist spät.“

 

   „Nein“, antwortete Suzanne besstimmt und schüttelte den Kopf. „Wir gehen jetzt zu mir nach Hause. Das ist viel näher. Du kannst mit dem Arm unmöglich Motorrad fahren. Ich werde deinen Arm versorgen und danach sehen wir weiter. Uns fällt schon was ein.“

 

   „Den Arm kann ich auch bei mir zu Hause versorgen", murmelte er undeutlich. „Ich schaff´ das schon.“

 

   „Kommt nicht in Frage. So lass´ ich dich nicht fahren.“ Fest entschlossen ging Suzanne zurück zum Motorrad, bockte es vom Ständer und nickte Marc aufmunternd zu. „Na los, komm schon. Es beißt dich niemand.“

 

   Dankbar registrierte Suzanne, dass Marc nachgab. Entweder hatte er eingesehen, dass sie recht hatte, oder er hatte einfach keine Lust mehr auf weitere Diskussionen. Auf jeden Fall marschierte er jetzt, wieder in brütendes Schweigen gehüllt, neben ihr her. Suzanne, die sein Motorrad neben sich herschob, war das nur recht. So konnte sie wenigstens schon mal in Ruhe darüber nachdenken, wie sie es am besten anstellte, dass bei ihr zu Hause niemand etwas von den Vorkommnissen mitbekam.

 

28. Kapitel

 

   Eine knappe Viertelstunde später erreichten die beiden Jugendlichen die Botschaft und Suzanne atmete erleichtert auf. Das komplette Gebäude lag in friedlicher Dunkelheit vor ihnen. Kein Lichtschein schimmerte durch die Fenster. Nichts.

   „Gott sei Dank, meine Mutter schläft schon. Komm, lass uns hintenrum reingehen.“

   „Was ist mit eurem Butler … Chauffeur … was auch immer er ist“, murmelte Marc, dem das Ganze immer noch nicht gefiel.

   „Gregory.“ Suzanne schmunzelte. „Mach dir keine Sorgen. Der zieht sich immer früh zurück. – Komm, hier lang. Wir gehen hintenrum.“

   Marc folgte Suzanne in die Küche. „Die Badezimmer sind oben", erklärte sie ihm, nachdem er sich gesetzt hatte. „Aber wir sollten das lieber hier unten regeln. Ich möchte vermeiden, dass jemand wach wird. Meine Mutter hat einen leichten Schlaf und Gregory … hm … er zieht sich zwar, wie gesagt, früh zurück, aber bei ihm weiß man nie genau, woran man ist. Es könnte durchaus sein, dass er noch wach ist.“

   „Okay, wie du meinst. Ist dein Spielplatz hier.“ Er warf ihr einen prüfenden Seitenblick zu. „Sehe ich das richtig? Du willst die Sache unter den Teppich kehren?“, fragte er dann direkt.

   „Ja, ich denke schon“, antwortete Suzanne. „Erstens ist ja nichts wirklich Schlimmes passiert und zweitens…“ Sie stockte kurz. „…es waren Afrikaner“, fuhr sie dann fort.

   „Das ist mir durchaus aufgefallen“, antwortete er trocken. „Na und? Was spielt das für eine Rolle? Die Typen gehören angezeigt.“

   „Nein, ich … genau das will ich eigentlich nicht“, gestand Suzanne zögernd. „Eigentlich ist doch auch gar nichts passiert. Dank dir bin ich…“

   „Nichts?“, fuhr Marc auf und hob ruckartig seinen Arm an, was ihn umgehend wieder schmerzhaft zusammenzucken ließ. „Verdammt noch mal, Suzanne, sieh´ mich an. Das ist für dich `Nichts´? Gut zu wissen.“

   „Ja, ich meine, nein, natürlich nicht. Entschuldige, ich…“

   Er unterbrach sie schon im Ansatz. „Nein, ich entschuldige nicht. Mann, Suzanne, die Kerle haben dich hinterrücks überfallen. Du weißt verdammt gut, was passiert wäre, wenn ich nicht aufgekreuzt wäre.“

   „Ja, ich weiß. Ich bin dir auch echt dankbar, das kannst du mir glauben und das mit deinem Arm tut mir unheimlich leid, aber…“ Suzanne blickte ihn offen an. „Findest du nicht, dass die Situation hier schon verfahren genug ist? Die Tatsache, dass es Afrikaner waren, die mich angefriffen haben, würde doch alles nur noch komplizierter machen. General McAllister wäre vermutlich hellauf begeistert, wenn er davon erfährt. Du verstehst? Das wäre Wasser auf seiner Mühle und das möchte ich verhindern.“

   „Hm… ich weiß nicht“, zweifelte Marc. „Was ist, wenn diese Typen noch mal ein Mädchen überfallen? Schon mal daran gedacht? Dann ist womöglich niemand rechtzeitig zur Stelle. Willst du das?“

   „Natürlich nicht. Aber das werden sie nicht“, verkündete Suzanne im Brustton der Überzeugung. „Ich hab´ ihnen die Strumpfmasken vom Gesicht gerissen. Sie müssen Angst haben, dass ich sie wiedererkennen würde. Und das würde ich vermutlich auch“, schloss sie triumpfierend.

   „Ja, das ist der Knackpunkt“, nickte Marc vielsagend. „Vermutlich.“

   „Der Punkt ist doch, dass sie sich nicht sicher sein können. Nein, Marc, ich bin überzeugt davon, dass die Typen so schnell wie möglich das Weite suchen. Die hauen ab und werden sich hier nie wieder blicken lassen. – Warte kurz: Ich geh´ kurz rauf und hol´ das Verbandszeug. Du kannst inzwischen schon mal dein Hemd ausziehen.“

   „Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Mach nicht so ein Spiel“, sagt er rau. „Du übertreibst maßlos wegen diesem kleinen Kratzer.“

   „Ach, jetzt ist es plötzlich wieder ein kleiner Kratzer?“ Suzanne lächelte amüsiert, als Marc daraufhin das Gesicht verzog. „Ich sehe, du weißt selber, dass ich nicht übertreibe. Das, was du nämlich einen kleinen Kratzer nennst, ist immerhin mindestens 10 Zentimeter lang und ordentlich tief. Lass mich machen. Schließlich bin ich schuld an der Verletzung."

   „Blödsinn."

   „Gott, du bist so verdammt starrköpfig. Es ginge bedeutend schneller, wenn du aufgibst. Warte hier, ich bin gleich wieder da.“ In der Tür stehend hielt Suzanne noch einmal inne und drehte sich um: „Übrigens: Solltest du jetzt auf die glorreiche Idee kommen abzuhauen, werde ich dir umgehend Gregory auf den Hals hetzen. Du kannst mir glauben, der ist längst nicht so `ne gute Krankenschwester wie ich. Denk drüber nach."

**********

   Nachdem Suzanne den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, gestattete Marc sich ein Lächeln. Sie hatte ihn durchschaut. Er hatte tatsächlich vorgehabt die Kurve zu kratzen, doch jetzt beschloss er zu bleiben. Suzanne mochte zwar unberechenbar sein, aber – so gut glaubte er sie inzwischen einschätzen zu können – wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann setzte sie alles daran, das durchzuziehen. Bedeutete unterm Strich: Wenn er sich jetzt dünne machte, würde sie den Chauffeur hinter ihm her schicken und darauf hatte er überhaupt keine Lust.

   Mit einer Hand machte er sich daran, sein Hemd aufzuknöpfen, nur um gleich darauf festzustellen, dass das mit Links gar nicht so einfach war.  Verdammt noch mal, er war nun einmal Rechtshänder, doch wenn er den verletzten Arm nur anwinkelte, klaffte die Wunde direkt wieder auseinander und brannte wie Feuer. Rechts konnte er für den Moment vergessen. Außerdem spukten ihm gerade noch so viele andere Gedanken durch den Kopf, dass er Probleme hatte, sich zu konzentrieren.

  Suzanne. Das Mädchen wurde ihm immer suspekter. Er musste zugeben, dass er allmählich zu der Überzeugung gelangte, dass Tom womöglich doch recht hatte und sie die Unterstützung verdiente, um die sie gebeten hatte. Wie sie sich heute Abend in dem Chaos geschlagen hatte, das nötigte ihm Respekt ab. Sie war nicht hysterisch geworden, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätte. Kein Nölen, kein Jammern – ganz im Gegenteil: Ohne ihr beherztes Eingreifen hätte sein heldenhafter Einsatz für ihn glatt zum Boomerang werden können. Eigentlich hatte sie sich ihm gegenüber immer freundlich verhalten. Er hingegen … hatte sich oftmals fast wie ein Arschloch verhalten.

   Auch die Argumente, warum sie ihre Angreifer nicht anzeigen wollte, bewiesen, dass es ihr ernst damit war, hier etwas ändern zu wollen. Obwohl das natürlich völlig daneben war. Seiner Meinung nach mussten diese Typen zur Rechenschaft gezogen werden, bevor sie noch mehr Unheil anrichten konnten. Es schien aber nicht so, als könnte er Suzanne davon überzeugen. Wieder schlich sich ein schnelles Grinsen über seine Züge. Tja, so wie es aussah, teilten Suzanne und er künftig ein Geheimnis miteinander. Wer hätte das noch vor einigen Wochen gedacht?

   Die Küchentür öffnete sich und das Subjekt seiner Gedankenwelt kehrte zurück, bepackt mit einigen Dingen, die sie offensichtlich aus einem Medikamentenschrank zusammengesucht hatte. Am bedrohlichsten wirkte dabei auf Marc eine kleine Glasflasche, die mit einer glasklaren Flüssigkeit gefüllt war.

   „Hey, du bist ja noch da", begrüßte sie ihn fast vergnügt.

   Marc ging gar nicht auf Suzannes Bemerkung ein. „Was ist da drin?", fragte er stattdessen und deutete mit seiner Linken auf die Flasche.

   Zu seinem Ärger wurde im Gegenzug jetzt seine Frage ignoriert. „Du bist ja immer noch nicht fertig", stellte sie stattdessen fest, während sie ihre Mitbringsel sorgfältig auf dem Küchentisch deponierte. „Komm, lass dir von mir helfen."

   Noch ehe Marc Einwände erheben konnte, hatte Suzanne schon blitz-schnell sein Hemd aufgeknöpft und ihn vorsichtig herausgewunden. Kritisch begutachtete sie dann die tiefe Wunde, die sich von seinem hinteren Oberarm über den Ellbogen bis hin zum Unterarm zog. Sie befühlte vorsichtig die Wundränder und ignorierte, wie er dabei zusammenzuckte und die Luft anhielt. Danach begutachtete sie noch gewissenhaft die kleineren Kratzer und Wunden am Unterarm und seiner Hand. Sie runzelte die Stirn und murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin.

   „Und? Nun sag schon. Wie sieht´s aus?", fragte Marc ungeduldig. „Was den Unterarm angeht würde ich sagen, alles halb so wild. Aber ich fürchte, das ist nicht alles, oder?“

   „Nein, leider nicht. Du hast recht, die Kratzer und der Schnitt am Unterarm sind nicht so schlimm. Aber der obere Teil der Wunde am Oberarm macht mir Kopfzerbrechen. Dort ist der Schnitt sehr tief und klafft weit auseinander. Erst unterhalb des Ellbogens wird es besser.“

   „Tja, Kunststück“, knurrte Marc und sog hörbar die Luft ein, als Suzanne weiter an seinem Arm herumtastete. „Das ist die Stelle, wo das Arschloch mir sein Messer mit vollem Schwung in den Arm gerammt hat. Ich war nicht weit genug seitlich. Ein paar Zentimeter weiter links und er hätte ins Leere gestochen.“ Er zuckte heftig zusammen, zog automatisch seinen Arm zurück und sprang vom Stuhl auf. „Hey, pass auf, verdammt. Geht das vielleicht auch ein bisschen vorsichtiger?“

   „Ja doch, ja. Entschuldige“, antwortete Suzanne zerknirscht. „Ich tu´ mein Bestes, aber bin kein Fachmann. Auf den ersten Blick scheint es aber nur `ne tiefe Fleischwunde zu sein.“

   „Na also, was soll dann der Aufstand",  fiel Marc ihr schnell ins Wort und machte Anstalten sich von dem Stuhl zu erheben auf den er sich gerade erst wieder rittlings gesetzt hatte, doch Suzanne drückte ihn auf seiner gesunden Seite sofort wieder mit sanfter Gewalt nach unten. „Hey“, protestierte er, wobei er im gleichen Augenblick wusste, dass sein Protest sinnlos verpuffen würde.

   „Nix da. Vergiss es! Du bleibst sitzen! Fleischwunde, ja, aber es ist definitiv eine sehr tiefe und mit ziemlicher Sicherheit auch sehr dreckige Wunde. Es könnte sein, dass das genäht werden muss.“ Als Marc sie daraufhin von unten herauf schief anblickte, setzte sie eilig hinzu. „Keine Panik, das kann ich nicht. Außerdem könnte es sein, dass da noch mehr verletzt ist, als nur die oberen Hautschichten. Keine Ahnung. Wie gesagt, ich bin kein Fachmann. Aber eins weiß ich mit absoluter Sicherheit: Die Wunden müssen gesäubert und desinfiziert werden. Alle. Auch die Kratzer. Wer weiß, wo dieser Typ mit seinem Messer vorher war? Und selbst wenn die Klinge sauber gewesen sein sollte … der Boden war es mit Sicherheit nicht. Du willst doch sicher nicht, dass sich der Mist entzündet."

   Mit wachsender Besorgnis beobachtete Marc, wie Suzanne, während sie redete, eine sterile Mullkompresse aus der Verpackung zog und mit ruhiger Hand ein wenig von der klaren Flüssigkeit aus der Glasflasche darauf träufelte. Ihr zaghaftes Nicken in seine Richtung sollte vermutlich beruhigend auf ihn wirken, doch tatsächlich bewirkte sie damit das genaue Gegenteil.

   „Oh Mann, man könnte glatt denken, das macht dir Spaß. Hör zu..." Mit seiner gesunden Linken griff er schnell nach Suzannes Handgelenk und hielt es fest, bevor sie seinen verletzten Arm erwischte. „Du hast doch eben selbst gesagt, dass du kein Fachmann bist. Charlie hingegen, das ist der Partner meines Vaters … na ja, eigentlich ist er ja mein Großvater … also im Grunde genommen ist er eigentlich Beides, verstehst du?“ Hergott, was redete er hier eigentlich für einen Stuss zusammen? Er atmete einmal tief durch. „Was ich eigentlich sagen will ist, dass Charlie Arzt ist. Ich verspreche dir hoch und …“

   „Ja, sicher, wahrscheinlich ist dieser Charlie Tierarzt“, konterte Suzanne trocken und forderte. „Loslassen.“

   „Nein! Nein, warte. Charlie ist...“

   „Sag mal, hast du etwa Angst?" Suzanne wich ein Stück zurück und blickte ihm gerade in die Augen.

   „Was?“, fragte er verwirrt und registrierte nebenbei, dass er ihrer Bewegung gefolgt war und nun, leicht vorgebeugt, noch immer Suzannes Handgelenk umklammert hielt.

   „Marc, bitte sei nicht kindisch. Lass mich los. Glaub mir, ich weiß zu schätzen, dass du dich mir gegenüber mal etwas gesprächiger zeigst, aber ... beiß jetzt einfach kurz die Zähne zusammen, okay? Es wird sicher ein bißchen wehtun, aber die Wunden sollten wirklich so schnell wie möglich desinfiziert werden und ich glaube, du weißt das genauso gut wie ich."

   Marc lockerte seinen Griff, aber loslassen wollte er Suzanne noch nicht. „Hast du so was schomal gemacht?", fragte er leise. „Andere verarztet?“

   „Nein", antwortete sie ruhig und blickte ihm wieder direkt in die Augen. „Aber bis vorhin war ich auch noch nie mit einem Motorrad gefahren.“

   Die Bemerkung ließ ihn schmunzeln. Trotzdem gab er fast widerwillig ihr Handgelenk frei. „Okay, aber bitte sei vorsichtig, in Ordnung?“

   „Dann halt jetzt endlich still und lass mich arbeiten.“

   Suzanne tupfte zunächst konzentriert und vorsichtig mit der Kompresse die Wundränder ab. Das alleine war schon schmerzhaft, doch als sie schließlich das Innere der Wunden säuberte, sog Marc hörbar die Luft zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen ein. Es kostete ihn einiges an Beherrschung seinen Arm nicht einfach wegzuziehen, doch er riss sich zusammen und hielt durch, ohne weiter zu protestieren.

   „Es tut mir leid - es tur mir leid", flüsterte sie immer wieder leise, während sie unverdrossen mit ihren Bemühungen fortfuhr.

   „Schon gut.“ Ein flüchtiger Blick in ihr Gesicht ließ ihn stutzen. „Bist du sicher, dass du weitermachen willst? Sorry, aber du bist ganz grün im Gesicht.“

   „Geht schon“, erwiderte sie hastig und stieß gleich darauf einen Seufzer der Erleichterung aus. „Fertig.“

   Sie blickten sich an und mussten beide lachen. Bei Marc war es allerdings eher ein gequältes Grinsen, während Suzanne beinahe fröhlich vor sich hin kicherte.

   „Pssst", unterbrach sie sich gleich darauf erschrocken, legte einen Finger auf die Lippen und deutete mit der anderen Hand vielsagend gegen die Decke. Dann griff sie nach einer Tube Salbe.

   „Hey, ich dachte, du bist fertig“, begehrte Marc auf.

   „Mit dem Säubern schon. Aber die Wunden müssen verbunden werden. Wenn du einfach so dein Hemd wieder drüberziehst hast du das gerade alles umsonst ausgehalten. Willst du das?“

   „Weiber“, grummelte Marc widerstrebend, blieb aber sitzen.

   „Also, ich an deiner Stelle wäre ja etwas freundlicher zu meiner Krankenschwester“, rügte Suzanne gespielt streng. „Zumindest vor Abschluss der Behandlung.“

   „Was wird das? Drohst du mir etwa?“ Während Marc diese Worte aussprach, merkte er überrascht, wie sehr er das beinahe schon freundschaftliche Geplänkel mit Suzanne genoss. Unfassbar.

   Statt einer Antwort hob wies das Mädchen gerade nur vielsagend auf das Fläschchen mit der glasklaren Flüssigkeit. „Nachschlag gefällig?“

   „Okay, okay, du hast gewonnen.“ Er grinste. „Ich bin ja schon still.“

   Während Suzanne großzügig die Salbe erst auf saubere Kompressen auftrug und diese dann unter dem Verband positionierte, stutzte sie plötzlich. „Er hat `tatsächlich´ gesagt“, murmelte sie abwesend vor sich hin.

   „Wie bitte?“, reagierte Marc konsterniert, da er keine Ahnung hatte, worauf sie hinaus wollte.

   „Moment…“ Suzanne befestigte konzentriert die Enden des Verbands. Als sie fertig war und einen Schritt zurücktrat, registrierte er überrascht, wie blass sie plötzlich geworden war. „Der Typ“, fuhr sie leise fort. „Der, der mich angegriffen hat. Er hat gesagt, ich sei tatsächlich eine arrogante Fotze.“

   „Oh, okay.“ Marc nahm zur Kenntnis, dass ihr Kopf offensichtlich die Geschehnisse doch nicht so schnell verdrängt hatte, wie sie es nach außen hin erscheinen lassen wollte. Aber, so sagte er sich, das war schließlich kein Wunder. Trotzdem verstand er nicht, was sie ihm mitteilen wollte. „Mal abgesehen von der Ausdrucksweise“, fing er vorsichtig an. „Ich kapier´ nicht, was du mir damit sagen willst.“

   Suzanne, die mit einem Mal sehr nachdenklich wirkte, half ihm wieder in sein Hemd und beschäftigte sich mit den Knöpfen.

   „Hör zu“, sagte er mitfühlend. „Ich versteh´ ja, dass das nicht spurlos an dir vorübergeht, aber…“

  Tatsächlich“, wiederholte Suzanne, blickte hoch und ließ ihn die Sorge in ihren Augen lesen. „Ich finde, das hört sich an, wie eine Bestätigung.“

   „Ja. Und?“

   „Verstehst du denn nicht? Bis eben war ich der Ansicht, dass das ein zufälliger Angriff war. Dass es genauso gut jemand anderen hätte treffen können. Dass ich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Aber wenn ich jetzt noch mal in Ruhe darüber nachdenke … Dieser Typ wusste etwas über mich, bzw. er glaubte etwas zu wissen und durch meine Reaktionen fühlte er sich in dem bestätigt, was er zu wissen glaubte. Aber ich kenne ihn nicht. Ich hab´ ihn noch nie zuvor gesehen. Weder ihn, noch seinen Kumpel. Und bevor du fragst, ja, ich bin mir da absolut sicher.“

   „Wie jetzt?“ Marc war erschüttert. „Du glaubst, die beiden haben gezielt dich angegriffen? Ist es das, was du mir sagen willst?““

   „Ja. Nein.“ Suzanne fuhr sich nervös durch die Haare. „Ich weiß nicht. Aber irgendwie müssen die doch darauf gekommen sein, oder?“ Ihre Stimme zitterte plötzlich vernehmlich. „Scheiße, Marc. Bitte sag mir, dass ich falsch liege“, flüsterte sie und es klang fast wie ein Hilferuf.

29. Kapitel

 

   „Wow, das ist… Das kann ich nicht.“ Marc verstummte. Er wusste einfach nicht, was er von Suzannes Gedankengängen halten sollte. Einerseits klang alles sehr weit hergeholt. Andererseits … wenn da etwas dran sein sollte... Plötzlich schoss ihm ein sehr unwillkommener Gedanke durch den Kopf. Seine Augen weiteten sich und schnellte auf die Füße: „Suzanne. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich etwas damit zu tun habe?“

   „Nein.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Ehrlich nicht“, bekräftigte sie zu seiner Erleichterung gleich noch einmal. „Ich meine, wir kennen uns doch kaum. Wieso solltest du so was tun?“

   „Genau.“ Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Andererseits … Wieso sollte jemand anderes Suzanne einem solch widerwärtigen Angriff ausgesetzen? Und wer? Sie war schließlich erst kurz vor Ort und soweit er es mitbekommen hatte, bei allen gut gelitten. Einzig das Verhältnis zu ihm war von Anfang an schwierig gewesen. Verflucht, wenn man es nüchtern betrachtete, sah es nicht gut für ihn aus. Seine Verletzung hätte schließlich auch Bestandteil eines miesen Plans sein können. Er konnte nur hoffen, dass sie seinen Unschuldsbeteuerungen wirklich glaubte. „Suzanne, ich…“

   Er stockte, hob den unverletzten Arm ein wenig an, ließ ihn gleich darauf unverrichteter Dinge wieder sinken und schüttelte hilflos den Kopf. Suzanne wirkte plötzlich so verletzlich und unglücklich, dass er sie um ein Haar spontan umarmt hätte. Es musste ein fürchterliches Gefühl sein, wenn man glauben musste, dass jemand es auf einen abgesehen hatte. Intuitiv griff er nach ihrer Hand. „Ich kann es nicht beweisen. Ich wüsste einfach nicht wie, aber ich gebe dir mein Wort. Sollte das wirklich ein geplanter Überfall gewesen sein, dann habe ich nichts damit zu tun.“

   „Tja, wenn es einen Gott geben sollte, dann bin ich ihm echt unheimlich dankbar, dass er dich zufällig dort vorbei geschickt hat“, antwortete Suzanne und deutete ein Lächeln an. „Wo wolltest du überhaupt hin?“

   Marc senkte den Kopf ohne Suzannes Hand loszulassen. Er fühlte sich zunehmend unwohl. Immerhin entsprach es nicht ganz der Wahrheit, dass er zufällig dort vorbei gekommen war. Doch wie sollte er Suzanne das erklären? Entweder sie dachte, er würde sie stalken, oder, noch schlimmer, er lief Gefahr, dass seine abendlichen Aktivitäten aufflogen. Beides galt es unbedingt zu vermeiden. „Ich glaube zwar schon lange nicht mehr an einen Gott, aber ich bin wirklich froh, dass ich rechtzeitig zur Stelle war“, murmelte er ausweichend. „Dass es dir den Umständen entsprechend gut geht und … na ja, dass du mir glaubst.“

   „Ja, ich glaube dir“, sagte sie ebenso leise und erwiderte zögernd seinen Händedruck. „Wieso auch nicht? Irgendwie bekomme ich nur langsam das Gefühl, dass du mir das nicht glaubst.“

   Marc atmete tief durch. Ein anderes Thema musste her. Dringend, bevor er sich um Kopf und Kragen redete. Er hob den Kopf gerade so weit, dass er Suzanne von unten herauf anschauen konnte. „Mach dich nicht verrückt. Es besteht immerhin die Möglichkeit, dass du dich irrst. Versteh´ mich nicht falsch, aber es ging hoch her da draußen. Womöglich hast du ja in dem Tumult etwas falsch verstanden oder aus dem Zusammenhang gerissen und in den falschen Hals bekommen. Könnte doch sein, oder?“

   „Ich versteh´ schon, du beantwortest nicht gerne Fragen, was?“ Suzanne entzog ihm abrupt ihre Hand, drehte sich um und packte fahrig das Verbandszeug zusammen.

   „Suzanne…“

   „Nein, nein, lass gut sein. Vermutlich hast du recht. Ich hab´ da sicher was falsch verstanden.“ Sie stieß versehentlich an die Flasche mit der Desinfektionslösung, die daraufhin umkippte, vom Tisch rollte und klirrend auf dem Fliesenboden zerbrach. Das plötzliche laute Geräusch ließ das Mädchen erschrocken zusammenzucken. „Scheiße!“

   Marc beobachtete, wie sie frustiert in die Knie gehen wollte, um mit bloßen Händen hastig die Scherben aufzusammeln. Er ging dazwischen und hielt sie am Arm zurück, doch seine Hand wurde brüsk abgeschüttelt. „Lass mich.“

   „Hör auf“, bat er ruhig. „Bitte. Du wirst dich verletzen. Wir brauchen eine Kehrschaufel. Nun komm schon, setz dich hin.“ Er gab nicht auf und mit sanfter Gewalt gelang es ihm schließlich Suzanne dazu zu bewegen, sich auf den Stuhl zu setzen. Sie presste allerdings störrisch die Lippen zusammen und fixierte unablässig die Scherben auf dem Boden. „Hm, ich schätze, du wirst das jetzt nicht hören wollen, aber … du hast den Angriff wohl doch nicht so gut überstanden“, stellte er schließlich möglichst diplomatisch fest.

   „Red kein Blech“, wehrte sie kurz ab. „Nenn mir nur einen vernünftigen Grund, warum ich den Müll nicht aufheben soll?“, verlangte sie dann.

   „Weil ich nicht will, dass du dich wegen mir auch noch schneidest“, antwortete er sanft. „Du willst es vielleicht nicht zugeben, aber ich seh´ doch, dass du immer noch total aufgewühlt bist und das ist auch überhaupt kein Wunder, nach dem was vorgefallen ist. Außerdem hast du Angst, dass deine Vermutung stimmt. Auch das ist verständlich. Aber du musst dazu stehen. Es ist nicht gut, wenn du krampfhaft versuchst, das zu unterdrücken. Meinst du, du wirst schlafen können?“

   „Ich muss gar nichts.“ Beinahe schon provokativ erwiderte sie seinen prüfenden Blick. „Mir geht es gut. Red´ mir nichts ein.“

   „Ehrlich?“ Dass Suzanne, bevor sie endgültig den Kopf hob, ein paar Mal kurz geblinzelt hatte, war Marc nicht entgangen und er dachte sich sein Teil.

   „Ja.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Wie gesagt: Ein paar blaue Flecken, ein angekratztes Ego, nichts, was mich wirklich aus der Bahn werfen könnte. Du kennst mich nicht, aber ich bin hart im Nehmen.“

   „Okay, schon gut. Aber…“ Marc überlegte, wie er das Angebot, das er ihr jetzt machen wollte, am besten vorbringen sollte. Ihm war klar, dass er damit nicht gerade offene Türen einrennen würde. „Trotzdem finde ich, dass du mit Jemandem darüber reden solltest“, schlug er schließlich vor. „Ernsthaft, ich könnte mir vorstel…“

   „Nein“, fiel Suzanne ihm schnell ins Wort. „Hör auf damit. Lass es einfach. Und bitte: Versprich mir, dass du das auch nicht tun wirst.“

   „Suzanne…“

   „Versprich es mir“, verlangte sie. „Ich komm´ damit klar. Ehrlich.“

   „Gut, versprochen“, erwiderte er nach einer Pause. „Aber falls du … irgendwann mal feststellen solltest, dass da eventuell doch Redebedarf ist, dann kommst du zu mir, in Ordnung? Friss es nicht in dich rein.“

   „Was bist du? Hobbypsychologe?“

   „Natürlich nicht, aber…“

   „Vergiss es.“ Suzanne hob abwehrend eine Hand. „Danke für das Angebot, aber ich glaube nicht, dass ich darauf zurückkommen werde.“

   „Auch gut“, antwortete Marc knapp und stellte verwundert fest, dass ihm ihre Antwort einen kleinen Stich versetzte. Was sollte das? Da lief etwas falsch, ganz falsch. Wäre es nicht besser für ihn, froh über die Ablehnung zu sein? Sollte er sich nicht vielmehr freuen, dass sie ihn nicht weiter behelligen wollte? Egal womit. Ja, entschied er. Das war definitiv besser. Er hatte ihr in einer Notsituation geholfen und jetzt war es vorbei. Gut so. Zeit für einen weiteren Themawechsel. „Hey, könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?“ Glückwunsch, Gilbert, gratulierte er sich im Stillen. Du hättest kaum subtiler vorgehen können. Idiot!

   „Oh Gott, natürlich. Entschuldige, tut mir leid.“ Suzanne sprang auf. „Wir haben auch Saft. Oder Cola.“

   „Danke, Wasser genügt völlig.“

   Suzanne ging zum Kühlschrank, goss zwei Gläser voll Wasser, stellte sie auf dem Küchentisch ab, setzte wieder und beobachtete einen Moment lang schweigend, wie er nach einen Glas griff und trank. „Jetzt, wo wir das alles geklärt haben, lass uns mal vernünftig reden“, sagte sie schließlich. „Wie kriegen wir dich jetzt nach Hause? Fahren kannst du so auf keinen Fall. Hast du es sehr weit zu Fuß?“

   „Ziemlich.“ Marc grinste schief und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. „Und da Taxen hier nach wie vor Mangelware sind und du … sorry, wir, ja niemanden sonst einweihen wollen, werde ich wohl oder übel auf mein Motorrad steigen müssen. Mach dir keinen Kopf, das geht schon.“

   „Nein, das geht nicht“, widersprach Suzanne vehement. „Es ist viel zu gefährlich. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir unterwegs was passiert – jetzt, wo ich dich gerade so schön zusammengeflickt habe.“

   „Na toll. Mach dir um mich keine Sorgen, meine Kiste kennt den Weg.“

   „Kommt überhaupt nicht in Frage!"

   „Du meine Güte“, seufzte Marc. „Jetzt mach die Sache doch nicht komplizierter als sie ist.“

   Ein seitliches Geräusch ließ die beiden Jugendlichen erschrocken zusammenfahren. Die Küchentür öffnete sich und Gregory trat mit grimmigem Gesichtsausdruck ein.

   „Was ist hier los?“, fragte er und schloss, nachdem er das Verbandszeug auf dem Tisch entdeckte, gleich die zweite Frage an. „Was ist passiert?“

   „Oh, ähm, wir… Wir hatten einen kleinen Unfall", erklärte Suzanne geistesgegenwärtig. „Nichts Dramatisches. Erinnern Sie sich an Marc? Marc Gilbert von der Auffangstation? Er hat sich verletzt – aber es ist nicht so schlimm. Kein Grund, sich Sorgen zu machen."

   „Natürlich erinnere ich mich an Mr. Gilbert“, antwortete Gregory kurz und musterte Marc prüfend, während er den Gürtel seines Bademantels vor dem Bauch zuknotete.

   „Ja, ich ... wir ... wir sind ... mit dem Motorrad gestürzt", schloss sich Marc Suzannes Ausführungen an und hörte selber, wie lahm diese Ausrede klang, obwohl sie ja gar nicht so weit hergeholt war. „Aber bitte, nennen Sie mich Marc.“

   Gregory zog die Augenbrauen hoch und warf Suzanne einen kritischen Seitenblick zu: „In diesem Aufzug wollten Sie Motorrad fahren, Miss Suzanne? Sagten Sie nicht, Sie würden mit dem Auto nach Hause gebracht?“

   „Sagte ich das?“ Marc beobachtete durchaus amüsiert, wie Suzannes Blicke zwei-, dreimal hektisch zwischen ihm und dem Butler hin und herflogen. „Ach ja, richtig, ich erinnere mich. Nun ja, wir mussten unsere Pläne kurzfristig ändern.“

   Gott, das kling ja noch lahmer als meine Erklärung, dachte Marc, als sich Gregorys Aufmerksamkeit plötzlich wieder auf ihn lenkte.

   „Zeigen Sie mal her“, forderte er ihn auf und streckte eine Hand aus.

   „Nein, schon in Ordnung", wehrte Marc schnell ab. „Das sind nur ein paar Kratzer. Suzanne hat sich schon darum gekümmert und die Wunden gesäubert. Es geht mir gut."

   „Und was ist damit“ Der Butler wies auf Suzannes Knie.

   „Das ist nichts“, wehrte die rasch ab. „Nur ein paar Abschürfungen. Ich wasch´ das nachher aus, packe etwas Salbe drauf und gut ist.“

   „Hm“, brummte Gregory und blickte offensichtlich misstrauisch von einem zum anderen. „So, so, ihr musstet eure Pläne also ändern“, stellte er dann trocken fest. „Einfach so?“

   „Ja“, betonte Suzanne. „Einfach so. Marc hat mich heimgebracht. – Und Gregory…“ Plötzlich ging eine Veränderung in ihr vor. Sie richtete sich gerade auf und aus ihrer Stimme klang wieder die alte Selbstsicherheit. „Meine Mutter muss deswegen nicht beunruhigt werden. Klar?“

   „Also, ich weiß nicht, Miss Suzanne…“

   „Aber ich“, bekräftigte Suzanne noch einmal. „Ansonsten könnte es sein, dass mir ganz plötzlich einfällt, wo ich hier im Haus zuletzt zufällig eine ganze Batterie von Schnapsflaschen gefunden habe.“ Sie machte eine vielsagende Pause. „Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt?"

   Kerzengerade aufgerichtet saß sie auf ihrem Stuhl und fixierte den um ein vielfaches älteren Mann streng. Marc beobachtete den Dialog stumm und wunderte sich einmal mehr über die vielen verschiedenen Facetten dieses Mädchens. „Gregory?“, hakte sie jetzt noch einmal nach, da der altgediente Butler nicht sofort geantwortet hatte.

   „Sonnenklar, Miss Suzanne“, reagierte er jetzt, äußerlich anscheinend völlig ungerührt. „Aber da es den jungen Mann bei dem …“ Gregory machte eine bedeutsame Pause und musterte die Jugendlichen eindringlich. „…Sturz augenscheinlich etwas schlimmer erwischt hat als Sie … sollte ich ihn dann nicht lieber mit dem Wagen nach Hause bringen?“

   „Das ist eine prima Idee“, freute sich Suzanne. „Ähm… Wenn das noch geht?“, schickte sie dann zögernd hinterher.

   Gregory nickte: „Ja, keine Sorge. Das geht.“                     

   „Gut. Ziehen Sie sich rasch was über. Wir warten hier auf Sie.“

   Nachdem Gregory die Küche verlassen hatte, schaute Suzanne Marc zufrieden an: „Na bitte, so löst sich manches Problem von ganz alleine.“

   Marc konnte nicht anders, er musste schmunzeln: „Du hast es drauf, mit dem Personal umzugehen, was?“

   „Na ja“, antwortete sie mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen. „Sagen wir, in dem Fall war es ziemlich hilfreich, dass ich weiß, wo er den Schnaps versteckt.“

   „Du hast ihn eiskalt erpresst", stellte Marc nüchtern fest.

   Suzanne schüttelte vergnügt den Kopf. „Och komm, Erpressung ist ein sehr hässliches Wort. Ich würde eher sagen: Not macht erfinderisch.“

   „Ob euer Gregory das auch so sieht?“

   Sie zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ist mir auch ehrlich gesagt ziemlich schnuppe.“ Sie wechselte abrupt das Thema. „Kommst du morgen vorbei und holst dein Motorrad?“

   „Ja, hab´ ich zumindest vor. Ich weiß aber nicht, wann ich es schaffe. Kann sein, dass mein Dad den Pick-Up erst noch selber braucht."

   „Ist doch unwichtig. Du kannst vorbei kommen, wann immer du willst. Deine kostbare Kiste ist hier sicher aufgehoben."

   „Ich weiß, Danke.“ Er zögerte kurz. „Wieso tust du das alles für mich?", fragte er dann plötzlich unvermittelt. „Du weißt, dass das nicht sein muss. Ich komm´ schon klar.“

   „Das ist mir klar.“ Diesmal war es Suzanne, die dem direkten Blickkontakt auswich. „Sagen wir einfach, eine Hand wäscht die andere, okay? Außerdem sehe ich dich nicht als meinen Feind an…“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr. „… so wie du mich."  

   Marc zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Wie kommst du darauf, dass ich dich als meinen Feind ansehe?"

   „Ist es denn nicht so?", stellte sie die Gegenfrage.

   „Nein, ich denke nicht“, antwortete Marc nach kurzer Überlegung. „Ehrlich gesagt, hab' ich da noch nie drüber nachgedacht. Wir … wir haben doch eigentlich gar nichts miteinander zu tun. Wieso sollte ich dich da als Feindin sehen? Nee…“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Echt, da bist du auf dem Holzweg. Das ist kompletter Blödsinn. Ich hab´ genügend andere Probleme, als mir über sowas den Kopf zu zerbrechen." Der Satz war kaum ausgesprochen, da hätte Marc ihn am liebsten zurück genommen. Doch es war bereits zu spät.

   „So? Welche denn zum Beispiel?“, erkundigte Suzanne sich scheinbar teilnahmslos, doch Marc ließ sich durch ihr zur Schau getragenes Desinteresse nicht täuschen.

   Gregory rettete ihn, indem er in die Küche zurückkehrte. „Was ist? Können wir, junger Mann?"

   „Sicher." Marc stand auf. „Na dann", sagte er zu Suzanne gewandt und wunderte sich über seine plötzlich aufkommende Verlegenheit. „Wir sehen uns.“ Er hob kurz seinen verletzten Arm an. „Und, Danke noch mal.“

   „Keine Ursache.“ Einen Moment lang sah es so aus, als wolle sie noch mehr sagen, doch nach einem schnellen Seitenblick auf Gregory setzte sie lediglich ein „Gute Besserung", hinzu.

 

30. Kapitel

 

   Erst nachdem Marc mit Gregory den Raum verlassen hatte fiel es Suzanne siedendheiß auf, dass sie sich irgendwie gar nicht richtig für seinen selbstlosen Einsatz bei ihm bedankt hatte. Sicher, sie hatte `Danke´ gesagt und `ich steh´ tief in deiner Schuld´, aber mal davon abgesehen, dass das total antiquiert war … es war auch noch verschwindend wenig, wenn sie darüber nachdachte, was er heute Abend für sie getan hatte. Etwas, das sie kaum wieder gutmachen konnte. Scheiße! Im Gegenzug hatte Marc sich zig Mal bei ihr bedankt. Und wofür? Dafür, dass sie versucht hatte das auszubügeln, was letzten Endes sie ihm eingebrockt hatte. Scheiße! Scheiße! Scheiße!

   Intuitiv eilte Suzanne nach draußen, doch sie kam zu spät. Die Limousine verließ gerade das Grundstück durch die breite Ein- und Ausfahrt und ihr blieb nur noch ein Blick auf die Rücklichter, bevor Gregory abbog und der Wagen aus ihrem Sichtfeld verschwand. Enttäuscht drehte sie um und ging zurück ins Haus.

   Ist wahrscheinlich besser so, tröstete sie sich. Ihre spontane Aktion hätte sie, wenn sie die beiden draußen noch erwischt hätte, durchaus in Schwierigkeiten bringen können. Was hätte sie Marc sagen können, ohne Gregory noch misstrauischer zu machen, als der Mann es eh schon war? Er hätte Erklärungen verlangt, die sie nicht zu geben gewillt war. Nein, es war schon besser so, wie es jetzt gelaufen war.

   Gregory war mittlerweile so lange bei ihnen, dass er mit seiner persönlichen Meinung nicht hinter dem Berg hielt. Gut, dass sie seine heimliche Vorliebe für alten schottischen Whisky kannte. Eigentlich war er damit als Chauffeur untragbar, aber Gregory fuhr mit ein wenig Whisky im Blut immer noch besser als manch einer stocknüchtern. Suzanne lächelte unwillkürlich, als ihr dieser Satz durch den Kopf ging. Er stammte von ihrem Vater. Nachdem Gregory vor Jahren einmal in Washington erwischt worden war, hatte Suzanne damals heimlich belauscht, wie ihr Vater das zu ihrer Mutter gesagt hatte. Ihre Eltern hatten damals beratschlagt, was zu tun sei und sie hatten sich schließlich darauf geeinigt, ihrem Angestellten zu helfen und zu ihm zu stehen. Ihr Vater war eine Weile selber gefahren und Gregory hatte seine Lektion gelernt. Zumindest war er seitdem nie wieder mit Alkohol am Steuer erwischt worden. Inzwischen gehörte er längst zum familiären Inventar und Suzanne konnte sich ein Leben ohne den älteren Mann gar nicht mehr vorstellten; für sie war er fast wie der Großvater, den sie nie gekannt hatte.

   Bevor Suzanne zu Bett ging beseitigte sie rasch noch alle verräterischen Spuren in der Küche. Erst als sie im Bett lag kam sie langsam zur Ruhe, und ihr wurde zum ersten Mal so richtig bewusst, was ihr am Abend widerfahren war. Bislang war sie gar nicht dazu gekommen, in Ruhe darüber nachzudenken was wohl mit ihr passiert wäre, wenn Marc nicht so urplötzlich am Schauplatz des Geschehens aufgetaucht wäre.

   Noch im Nachhinein überfielen sie kalte Schauer und ein unkontrollierbares Zittern, wenn sie nur daran dachte, wie das hätte enden können. Ihre Wut auf Ben, der sie durch sein unmögliches Verhalten ja erst in diese missliche Lage gebracht hatte, nahm immer mehr zu. Na, dem würde sie was erzählen, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Es würde Bens Charakter zwar mit Sicherheit nicht verändern, aber ein schlechtes Gewissen war das mindeste, was er ihr schuldete. Und dafür würde sie sorgen.

   Es dauerte sehr lange, bis Suzanne in dieser Nacht Schlaf fand - zuviel ging ihr im Kopf herum. Außerdem schlichen sich immer wieder die unergründlichen Blicke aus Marcs braunen Augen in ihre Gedanken. Blicke, die im Verlauf dieses Abends oft auf ihrem Gesicht geruht hatten. Ernst und intensiv wie nie zuvor. Doch so ernst und intensiv diese Blicke auch waren. Es blieben Blicke aus Augen, denen man leider nie ansehen konnte, was sein Besitzer dachte. Schade eigentlich.

**********

   Am nächsten Morgen begegnete Suzanne Gregory in der Diele. Sie warf dem Bediensteten einen prüfenden Blick zu, bevor sie betont beiläufig sagte: „Guten Morgen, Gregory.“

   „Guten Morgen, Miss Suzanne.“

   Verdammt. Warum musste der Mann sich immer so kryptisch verhalten? „Alles in Ordnung?"

   „Natürlich. Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung.“

   „Wieso? Was sollte denn nicht in Ordnung sein?", erkundigte sich Gilian Banks, die, unbemerkt von beiden, die Treppe hinunterkam und Gregorys letzte Worte mitbekommen hatte.

   „Nichts", beeilte Suzanne ihr zu versichern, eilte an ihrer Mutter vorbei und verschwand in ihrem Zimmer, um weiteren unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Bereits beim Frühstück hatte ihre Mutter versucht, sie nach dem gestrigen Abend auszufragen. Sie selber hatte sich mit ihren Antworten sehr bedeckt gehalten, was ihrer Mutter mit Sicherheit merkwürdig vorgekommen war. Gott sei Dank konnte Suzanne sicher sein, dass Gilian ihre Privatsphäre respektierte. Allerdings war sie sich mindestens ebenso sicher, dass ihre Antworten die Neugierde ihrer Mutter nicht befriedigt hatten und dass diese jetzt Augen und Ohren in alle Richtungen spitzte; selbst wenn sie sich mit weiteren Fragen zurückhielt.

   Suzanne warf sich auf ihr Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Doch der Wunsch, etwas Schlaf nachholen zu können, erfüllte sich zu ihrem Bedauern nicht. Von einer inneren Unruhe getrieben stand sie schließlich wieder auf, ging rüber zum Fenster, setzte sich mit angezogenen Knien auf die breite Fensterbank und schaute gedankenverloren hinaus in den Garten. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie wartete. Auf ihn. Wann würde er kommen? Würde er überhaupt kommen? Doch, sie war sich ganz sicher, dass Marc im Laufe des Tages vorbeikommen würde, um sein Motorrad abzuholen. Suzanne gestand sich etwas widerwillig ein, dass sie ihrer nächsten Begegnung mit dem `Eingeborenen' förmlich entgegenfieberte. Die ließ allerdings leider auf sich warten. Als es plötzlich laut an ihre Tür klopfte fuhr sie erschrocken zusammen.

   „Was ist?"

   „Unten wartet Besuch auf dich.“ Ihre Mutter öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. „Er wartet in der Küche auf dich. Kommst du runter oder soll ich ihn hochschicken?“

   Na endlich! Marc musste den Vordereingang genommen haben. Eigentlich logisch. Nach einem kontrollierenden Blick über ihr Chaos entschied Suzanne: „Nein, ich komm´ runter. Bin gleich da." Nachdem ihre Mutter wider Erwarten nicht gleich wieder verschwand, setzte sie fragend hinzu: „Ist noch was?“

   „Ja, es ist…“ Gilian zögerte. „Ich hab´ mich heute Morgen schon gefragt, warum du bei den Temperaturen einen Schal trägst? Fühlst du dich nicht wohl?“

   Suzannes Hand fuhr ertappt an ihren Hals und berührte das bunte Halstuch unter dem sie die Spuren, die die Finger ihres Angreifers auf ihrer Haut hinterlassen hatten, verbarg. Sie räusperte sich und hoffte, dass sie überzeugend klang. „Mach dir keine Sorgen. Ich hab´ nur seit gestern so ein Kratzen im Hals. Reine Vorsorge.“

   „Okay.“ Ihre Mutter musterte sie prüfend. „Sag Bescheid, wenn´s schlimmer wird. Der Arzt ist hier nicht gerade um die Ecke.“

   „Na klar. Warte, ich komm´ gleich mit.“ Noch schnell ein Kontrollblick in den Spiegel, bevor sie ihrer Mutter nach unten folgte. Gilian verschwand in ihrem Büro und Suzanne öffnete erwartungsvoll die Küchentür, hinter der allerdings eine herbe Enttäuschung auf sie wartete. Während sie sich noch bemühte, ihre Überraschung zu verbergen, war sie gleichzeitig doppelt dankbar für ihre Entscheidung, heruntergekommen zu sein und den Besucher nicht in ihrem Zimmer empfangen zu haben. Nicht Marc wartete in der Küche auf sie, sondern Ben. Ausgerechnet!

**********

   „Du?", begrüßte Suzanne Ben gefährlich ruhig. „Was willst du hier?“

   „Hallo. Ja, ich bin's." Ben kam näher, doch Suzanne stoppte ihn, indem sie die rechte Handfläche flach nach vorne schob und er blieb stehen. „Wieso? Hast du jemand anderen erwartet?“

   „Selbst wenn, ginge es dich nichts an“, antwortete Suzanne kurz angebunden. „Sag, was du zu sagen hast, und dann verschwinde.“

   „Du hast jemand anderen erwartet", stellte Ben fest und bemühte sich, zerknirscht auszusehen. Über Umwege hatte er bereits erfahren was geschehen war, nachdem er Suzanne im Stich gelassen hatte. Er hatte bis eben nur nicht gewusst, wer Suzanne zu Hilfe gekommen war. Als er allerdings eben mit seinem Vater durch den Vorgarten auf das Botschaftsgebäude zugegangen war, hatte er Marcs Motorrad seitlich an der Hauswand stehen sehen. Damit schien alles klar zu sein.

   Marc. Verfluchte Scheiße. Schon wieder war ihm dieser Typ in die Quere gekommen. Dass es aber auch ausgerechnet Marc sein musste. Marc war wirklich die denkbar ungünstigste Person in dieser Situation und er konnte nur hoffen, dass das nicht seine weiteren Pläne gefährdete.

   „Nein", antwortete Suzanne nach langem Zögern auf seine Frage.

   Auch das noch. Sie log ihn an. Einfach so. Ohne mit den Wimpern zu zucken und ohne ein Spur von Verlegenheit. Bens Verärgerung wuchs. Dieses Arschloch brachte einmal mehr alles durcheinander. Aber jetzt reichte es. Endgültig. Der Typ war reif. Aber so was von. Bei der nächstbesten Gelegenheit, die sich ihm bot, würde er diesem Idioten kräftig eins reinwürgen. Soviel stand fest. Niemand durchkreuzte ungestraft seine Pläne.

   Äußerlich ließ Ben sich nichts anzumerken. Jahrelange Übung hatte ihn zu einem guten Schauspieler werden lassen und so stand er jetzt wie ein reuiger Sünder mit gesenktem Kopf vor Suzanne. „Hör zu“, fing er an. „Ich weiß ja, dass ich Scheiße gebaut habe. Große Scheiße. Du hast jedes Recht, sauer auf mich zu sein. Deshalb bin ich ja hier. Ich möchte mich in aller Form bei dir entschuldigen. Es tut mir leid."

   „Ist das alles? Dann kannst du ja jetzt ge…"

   „Ich wollte mich erkundigen, ob du gut nach Hause gekommen bist?", unterbrach er Suzanne schnell.

   „Wie du siehst, bin ich das“, sagte sie knapp. „Aber das habe ich nicht dir zu verdanken“, setzte sie nach einer Pause giftig hinzu. Ihre Augen funkelten Ben wütend an.

   „Ich weiß ja. Aber … ich meine, immerhin ist doch alles gut gegangen“, parlierte Ben lauernd, um seine Klassenkameradin aus der Reserve zu locken. „Oder etwa nicht?" Der Plan funktionierte, wie er gleich darauf feststellte.

   „Nein, ist es nicht!", trumpfte Suzanne zornig auf. „Stell' dir vor, ich wurde auf dem Heimweg überfallen.“

   „Was?" Ben hatte sich in die Rolle des zu Kreuze kriechenden vertieft und er wusste, er spielte sie gut. „Scheiße! Von wem?" Er ging zwei Schritte auf Suzanne zu, die jedoch sofort vor ihm zurückwich und damit den alten Sicherheitsabstand wieder herstellte. „Okay, okay, schon gut.“ Er musterte sie von oben bis unten bevor er sachte die nächste Frage stellte. „Ist dir was passiert? Bist du verletzt?“

   „Nein, wie du siehst ist mir nichts passiert. Es geht mir gut, aber wie gesagt: Das ist nicht dein Verdienst!"

   „Gott, Suzanne." Ben rang verzweifelt die Hände. „Es tut mir leid! So leid. Ich könnte mich ohrfeigen, aber mal ehrlich, das konnte ich doch nicht ahnen!"

   „Schon gut, übernimm dich nicht", antwortete sie ihm kalt.

   „Ehrlich, ich bin so froh, dass dir nichts geschehen ist. Aber wie … wie konntest du entkommen?"

   Suzanne zauderte einen Augenblick, bevor sie sagte: „Sagen wir einfach: Ich hatte eine grosse Portion Glück."

   Ben bemerkte ihr Zögern sehr wohl, und es schürte noch zusätzlich seine Wut auf Marc. Warum erzählte sie ihm nicht einfach, wer ihr zur Hilfe gekommen war? Warum machte sie ein Geheimnis daraus? Innerlich seufzte er. Es nützte nichts, zunächst einmal war es wichtig, seinen ursprünglichen Plan weiter zu verfolgen. Um Marc würde er sich später kümmern. Wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. „Konntest du die Typen erkennen?"

   „Woher weißt du, dass es mehrere waren?", schaltete Suzanne messerscharf. Sie kniff ihre Augen zusammen und musterte ihn misstrauisch. „Ich hab´ nichts dergleichen erwähnt.“

   Mist! „Nun..." Für einen kurzen Moment geriet Ben ins Schleudern. Doch er fing sich sofort wieder: „Ich hab´ es ganz einfach angenommen. Solche feigen Schweine sind doch selten alleine unterwegs. War es denn nicht so?"

   Suzannes Blick normalisierte sich und zum ersten Mal klang ihre Stimme nicht mehr ganz so abweisend. „Doch, du hast recht. Es waren zwei."

   „Konntest du ihre Gesichter erkennen? Ich schwöre, wenn es betrunkene Soldaten waren, werde ich dafür sorgen, dass...“

   „Nein", wurde er von Suzanne unterbrochen, die gleichzeitig den Kopf schüttelte. „Gib dir keine Mühe. Es war Niemand von der Basis."

   „Was? Wer dann? Suzanne, solche Typen gehören angezeigt. Du hast sie doch angezeigt, oder?"

   „Nein, nein, habe ich nicht. Ich würde sie wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen. Es waren Afrikaner. Ich hab´ sie noch nie zuvor gesehen."

   Endlich. Da war das Stichwort, auf das er gewartet hatte. „Was? Eingeborene?!" Die Verachtung, die Ben in dieses eine Wort legte, war nicht zu überhören.

   „Ich wünschte, du würdest sie nicht andauernd so nennen“, antwortete Suzanne mit fester Stimme.

   „Bist du verrückt?“ Bens Entrüstung war echt. Was sollte das? Suzanne war wütend auf ihn, und nicht auf diese Typen? Da lief doch etwas falsch. Grundlegend falsch. „Bei dem, was sie dir antun wollten, kann ich sie doch wohl nennen wie ich will“, fauchte er und strich sich duch die Haare. Die Rolle, die er spielte war ihm kurzfristig entglitten. Stattdessen war er ehrlich verwirrt. Verwirrt und wütend. Er verstand einfach nicht, warum Suzanne so reagierte. Trotzdem, weiter im Text. „Scheiße, es war ja klar, dass so was irgendwann mal passieren würde. Du musst Anzeige erstatten. Unbedingt. Da führt kein Weg dran vorbei. Wir müssen endlich etwas gegen die Eingeborenen unternehmen."

   „Zwei Benjamin, es waren nur zwei, die mir etwas antun wollten. So wie du es sagst klingt es wie die totale Verallgemeinerung aller Afrikaner. Das ist nicht gerecht."

   Suzanne klang müde, aber das war ihm egal. „Ja, aber siehst du denn immer noch nicht, dass denen jegliche Zivilisation abhanden geht? Sie sind wie Tiere! Wenn sie etwas haben wollen, holen sie es sich. Ganz gleich, wem sie dabei schaden.“ Er gestikulierte wild in die Luft. „Das ist echt das Allerletzte."

   „Ben, lass es!“

    Er überhörte den warnenden Unterton in Suzannes Stimme, da er sich nun so richtig in Form geredet hatte. „Es würde mich nicht wundern, wenn Tom dahintersteckt. Du hast es vielleicht nicht bemerkt, aber der Typ ist scharf auf dich, seitdem du den ersten Fuss in unsere Schule gesetzt hast. Wie der dich angafft. Ehrlich, da kommt mir die Galle hoch. Ich..."

   „Raus!", zischte Suzanne leise und unmissverständlich und wies mit der Hand auf die Tür.

   „Wie bitte?", fragte Ben aus dem Konzept gebracht.

   „Du hast mich ganz gut verstanden. Ich sagte `Raus'", wiederholte Suzanne und an ihrem Gesichtsausdruck erkannte Ben endlich, dass er offensichtlich einen Schritt zu weit gegangen war.

   Himmel noch mal, dieses Mädchen trieb ihn noch in den Wahnsinn. Ärgerlich versuchte er, seine Worte abzuschwächen: „Aber..."

   Suzanne unterbrach ihn schon im Ansatz. „Weißt du, was für mich das Allerletzte ist, Ben? Nein? Das dachte ich mir. Pass auf, ich werd's dir sagen. Das Allerletzte sind für mich Menschen, die jede sich bietende Gelegenheit dazu nutzen, andere in Misskredit zu bringen und schlecht zu machen! Koste es was es wolle! Es mag farbige Schweine geben, ja. Aber eines weiß ich ganz sicher Benjamin: Es gibt auch weiße!"

   „Was willst du damit sagen?!" Ben konnte seinen Ärger, jetzt wo sein schöner Plan allem Anschein nach völlig nach hinten losgegangen war, nicht mehr zurückhalten. Er baute sich vor Suzanne auf und blitzte sie kochend vor Wut an. „Meinst du damit etwa mich?“

   „Wenn du dir den Schuh anziehst", antwortete Suzanne ruhig.

   „Du kommst dir wohl unendlich toll vor?“, schnaubte Ben, der sich kaum noch unter Kontrolle hatte. „Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, wie es ist, in der Schule ganz alleine dazustehen?" Es war ein letzter, beinahe  verzweifelter, Versuch, Suzanne zu überzeugen, dass sie sich auf die falsche Seite schlug. „Ich an deiner Stelle würd´ mal drüber nachdenken.“

   „Du willst mir doch nicht etwa drohen?“, entgegnete sie, drehte sich um und ging zum Kühlschrank.

   „Keineswegs.“ Ben wurde klar, dass er im Moment auf verlorenem Posten stand. „Soll nur ein dezenter Hinweis sein. Man kann hier sehr alleine sein. Suzanne, ich will dir doch nur helfen.“

   Suzanne blickte über die Schulter. „Du bist ja immer noch da“, sagte sie emotionslos. „Wolltest du nicht gehen?“

   Es war hoffnungslos. Ben zuckte mit den Achseln und ging zur Tür. „Wir werden ja sehen wer am längeren Hebel sitzt!"

 

31. Kapitel

 

   Nachdem Ben das Botschaftsgebäude verlassen hatte, ging Suzanne zurück in ihr Zimmer. Sie warf sich auf ihr Bett und fühlte sich gleichermaßen aufgewühlt wie erbost. Ben konnte so ein Arschloch sein. Sie war immer noch wütend auf ihn, aber unterschwellig wusste sie auch, dass sie sich ihren Klassenkameraden vermutlich eben zum Feind gemacht hatte. Eine Tatsache, die unter Umständen weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Ben hatte eine Menge Einfluss und so wie er drauf war, als er gegangen war, würde er sich sicher nicht scheuen, diesen einzusetzen, um bei den Anderen Stimmung gegen sie zu machen. Sie konnte nur darauf hoffen, dass Ben sich zurückhielt, denn das Letzte, was sie wollte, war in dieser Gegend ohne Freunde dazustehen.

   Suzanne horchte in sich hinein. Sie versuchte auszuloten, wie sie reagieren würde, wenn sie die Chance bekäme, das Gespräch noch einmal zu führen. Würde sie genauso reagieren, wie sie es eben getan hatte? Würde sie Ben tatsächlich die gleichen provozierenden Antworten geben? Vermutlich schon, gab sie sich selbst die Antwort. Bens Wichtigtuerei und seine Ansichten gingen ihr immer mehr gegen den Strich und sie war nicht länger gewillt, ihm, nur um des lieben Friedens Willen, zuzustimmen. Selbst wenn bliebe da immer noch sein unmögliches Verhalten im Kino. Das konnte, nein, das wollte sie nicht entschuldigen.

   Woher zum Teufel hatte Ben gewusst, dass sie jemand anderen erwartet hatte? War ihre Enttäuschung, als sie ihn erblickt hatte, so offensichtlich gewesen? Mann, das wäre ja schon fast peinlich. Suzanne schüttelte über sich selbst den Kopf und lächelte nachsichtig. Sie musste unbedingt besser aufpassen, dass man ihr nicht immer gleich die Emotionen vom Gesicht ablesen konnte. Ihre Freunde im Internat hatten sich auch schon immer über sie lustig gemacht und gesagt, dass man in ihrem Gesicht lesen könne, wie in einem offenen Buch. Peinlich. Definitiv.

   Ben beherrschte das Gefühle verbergen auf jeden Fall besser als sie, aber so ganz gelang es ihm auch nicht immer, dachte Suzanne befriedigt. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde gewesen, aber es hatte einen Augenblick gegeben, wo Ben sich eben nicht unter Kontrolle gehabt hatte, da war sie sich sicher. Der Moment, wo er ihr direkt auf den Kopf zugesagt hatte, dass sie jemand anderen erwartet und sie mit der Antwort gezögert hatte. Da hatte er für einen winzigen Moment lang, sein wahres, sein hässliches Gesicht gezeigt und sie hatte die nackte, kalte Wut über ihre Reaktion hinter seinen Blicken förmlich spüren können.

   Sie wusste selber nicht warum sie Ben nicht erzählt hatte, dass ausgerechnet Marc es gewesen war, der ihr aus der Patsche geholfen und den sie in der Küche anzutreffen erwartet hatte. Es war, als wäre dieses gemeinsame Erlebnis etwas, das nur Marc und sie betraf. Ein Erlebnis, das niemanden sonst etwas anging.

   Es klopfte und ihre Mutter steckte den Kopf zur Tür herein. „Ach, hier bist du“, sagte sie.

   „Jep“, antwortete Suzanne und richtete sich auf einen Ellbogen gestützt auf. „Na, bist du deinen Besucher auch endlich losgeworden?“, erkundigte sie sich und beobachtete lächelnd, wie ihre Mutter die Augen in Richtung Zimmerdecke verdrehte.

   „Ja, aber ich muss heute Nachmittag nochmal raus zur Basis. Eigentlich wollte ich dich ja fragen ob du nicht Lust hast mitzukommen, aber nach Bens Abgang eben fürchte ich, ich kann mir das sparen."

   „Das hast du mitbekommen?"

   „Ja, allerdings. Nicht nur ich. Der General und ich kamen gerade aus dem Arbeitszimmer. Was war denn los? Habt ihr euch gestritten?"

   Suzanne seufzte. „Ja, Mam – haben wir." Sie fürchtete zu Recht, dass ihre Mutter sich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben würde. Und genau so war es auch.

   „Wegen gestern abend?"

   „Ja, unter anderem.“

   „Möchtest du darüber reden?“

   „Nein.“ Suzanne verzog das Gesicht. „Mam, das ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie dir bei Gelegenheit – aber nicht jetzt, okay?"

   „Gut. Wie du willst. – Weswegen ich hochgekommen bin … Tom war eben kurz hier. Ich soll dir von ihm ausrichten, dass er Marc Gilberts Motorrad mitgenommen hat. Er wollte nicht stören, als Gregory ihm sagte, dass Ben bei dir ist."

   „Auch das noch!“ Suzanne schlug verstimmt mit der Faust auf die Matratze. „Scheiße!"

   „Darf ich denn wenigstens erfahren, warum Marcs Motorrad hier stand?"

   „Das, Mam … ist ein Teil der langen Geschichte."

   Gilian kam näher und setzte sich neben ihre Tochter auf die Matratze. „Sag mal, dieser Marc … er ist mit Tom befreundet, richtig? Ehrlich gesagt kann ich mir das nur schwer vorstellen. Tom ist so gesellig. Marc hat auf mich einen etwas seltsamen Eindruck gemacht. Er soll ja eher ein Einzelgänger sein – und ziemlich verbittert.“

   „Wie kommst du darauf?“

   „Na ja, nach allem was man so über ihn hört."

   „Du musst nicht alles glauben was du hörst“, antwortete Suzanne und gestattete sich ein kleines Lächeln. „Ist es nicht das, was du mir immer rätst?“

   „Also stimmt es nicht?", forschte ihre Mutter neugierig weiter.

   „Ach, ich weiß nicht.“ Suzanne gab sich weiter zugeknöpft. Zu groß war die Enttäuschung, dass sie ihm nun offensichtlich heute nicht mehr begegnen würde. Sie begegnete den Augen ihrer Mutter und registrierte, dass die sich mit dieser einsilbigen Aussage nicht zufrieden geben würde. „Sein Dad hat Probleme mit der Station, das weißt du ja. Es ist Marcs zu Hause. Soweit ich weiß, das einzige, was er kennt. Vielleicht setzt ihm das so zu. So wie ich das sehe, ist Marc ganz in Ordnung. Andererseits kenne ich ihn kaum.“

   „Okay. Wie ich sehe, hast du keine Lust zu reden.“ Gilian Banks stand auf und quittierte das leicht gequälte Lächeln ihrer Tochter zu deren Erleichterung mit einem Nicken. „Dann werde ich mich mal alleine auf den Weg machen. – Ach, was macht das Kratzen?“

   „Was?“ Für einen kurzen Moment lang war Suzanne verwirrt. Erst als ihre Mutter auf das Halstuch zeigte, schaltete sie blitzschnell um. „Ach das. Keine Sorge, ist schon viel besser. Ich koch mir gleich noch `nen Tee und dann wird das schon.“

   „Schön, wie du meinst.“

**********

   Benjamin hatte seinen Rausschmiss nicht gut verkraftet. Er hatte nicht auf seinen Vater gewartet, sondern sich alleine zu Fuß auf den Weg zur Basis gemacht. Er schäumte noch immer vor Wut und wollte erst einmal ein wenig runterkommen, bevor er sich den unangenehmen Fragen seines Vaters stellte. Die würden mit Sicherheit auf ihn zukommmen, denn im Gegensatz zu Suzanne hatte er die Botschafterin und seinen Vater durchaus bemerkt, bevor er aus dem Haus gestürzt war.

   Inzwischen hatte er die Schule, die auf dem Weg lag, erreicht. Er blieb stehen und starrte einige Minuten lang nachdenklich auf das einsam und verlassen daliegende Gebäude, bevor er sich schließlich einen Ruck gab und entschlossen darauf zuhielt.

   Ihm war da ein Gedanke gekommen...

**********

   Am darauffolgenden Montag beeilte sich Suzanne morgens beinahe auffällig, früh aus dem Haus und zur Schule zu kommen. Nachdem Marc auch am Sonntag nichts hatte von sich hören lassen, fieberte sie jetzt nervös der ersten Begegnung mit ihm nach ihrem nächtlichen Abenteuer entgegen. Sie fragte sich schon die ganze Zeit über, wie es ihm gehen mochte? Hatte sein Großvater die große Schnittwunde am Arm tatsächlich nähen müssen, oder war es doch nicht nötig gewesen? Wie hatte er das alles verkraftet und vor allen Dingen: Was hatte er für Erklärungen für seine Verletzungen abgegeben? War er bei der Sturzvariante geblieben, oder hatte er womöglich doch etwas anderes erzählt? Nein, beruhigte sie sich selber. Er hatte ihr sein Wort gegeben, nichts von den tatsächlichen Geschehnissen zu erzählen. Widerstrebend zwar, aber sie war sich eigentlich sicher, dass er sich an sein Versprechen halten würde. Eigentlich… 

   Ein klitzekleiner Rest Ungewissheit blieb, und den würde sie fürchterlich gerne endlich aus der Welt schaffen. Aber dazu brauchte sie Marc, bzw. ein Gespräch mit ihm. Nur er war dazu in der Lage, ihre Befürchtungen zu zerstreuen.

   „Sag mal, auf wen wartest du?“, erkundigte sich Kimberly, der offensichtlich aufgefallen war, wie abwesend sie war.

   Gratulation, Banks, geht´s vielleicht noch ein bisschen auffälliger, dachte Suzanne verstimmt. „Was? Ich? Auf niemanden“, antwortete sie eine Spur zu schnell. Sie registrierte aus dem Augenwinkel, dass Ben sich näherte und sein schmallippiges, wissendes Grinsen hob ihre Stimmung nicht gerade. Anscheinend hatte er Kimberlys Frage und ihre Antwort darauf mitbekommen und dachte sich sein Teil. Na und, soll er doch, dachte sie trotzig. „Auf wen sollte ich denn warten? Sind doch alle da.“

   „Genau, das sehe ich auch so“, ließ sich Ben vernehmen, was bei Suzanne ein genervtes Augenrollen zur Folge hatte, das aber an ihrem Klassenkameraden wirkungslos abzuprallen schien. Im Gegenteil, er strafte sie mit absoluter Nichtbeachtung. „Kimberly, kommst du mal. Ich muss mit dir reden.“

   „Ja, gleich, ich…“

   „Es ist wichtig“, unterbrach Ben Kimberly und streifte Suzanne mit einem schnellen Seitenblick. „Du hast doch nichts dagegen?“, erkundigte er sich süffisant.

   „Aber nicht doch“, reagierte sie kühl. „Geh´ ruhig“, wandte sie sich an Kimberly. „Das, was Ben dir zu sagen hat, ist offensichtlich nicht für meine Ohren bestimmt.“

   „Habt ihr Streit?“, erkundigte sich Kimberly verunsichert und ließ ihre Blicke hin und her wandern.

   „Streit? Ich wüsste nicht, wieso. Suzanne?“, reagierte Ben zu Suzannes Verärgerung einen Tick schneller als sie.

   Der Typ konnte von Glück reden, dass sie im Augenblick anderes im Kopf hatte. „Nein, alles in Ordnung“, antwortete sie ausweichend. „Ich komme gleich nach.“

   Suzanne beobachtete noch kurz, wie Kimberly und Ben dem Schuleingang zustrebten, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Parkplatz lenkte. Verdammt noch mal, wo blieb der Kerl bloß? Viel Zeit blieb nicht mehr für ein Gespräch. Sicher, es war normal, dass Marc erst kurz vor Unterrichtsbeginn ankam, aber heute war er echt verdammt spät dran.

   Marc war nicht nur spät dran, er tauchte gar nicht auf. So sehr Suzanne auch nach ihm Ausschau hielt – er ließ sich einfach nicht blicken und der Unterricht fing schließlich ohne ihn an. Es war zum Verrücktwerden.

**********

   In der Pause hielt Tom zielstrebig auf Suzanne zu. „Hey“, begrüßte er sie freundlich lächelnd.

   „Hey.“ Sie lächelte zurück, in der Hoffnung, jetzt endlich etwas zu erfahren. Immerhin hatte Tom Marcs Motorrad abgeholt. Die beiden musste also miteinander gesprochen haben. Toms nächste Worte zerstörten allerdings diesen kleinen Hoffnungsschimmer sofort wieder.

   „Sag mal, wie kam eigentlich Marcs Maschine zu euch?"

   Na toll, offensichtlich hatte Marc seinem Freund nichts erzählt. Gar nichts. Suzanne war deprimiert, doch sie beschloss, sich ebenfalls bedeckt zu halten. „Purer Zufall. Soweit ich informiert bin ist er in der Nähe der Botschaft gestürzt, und hat sie danach bei uns geparkt.“

   „Bei euch? Ausgerechnet?“, fragte Tom verwundert.

   „Hey“, reagierte Suzanne ungehalten. „Was würdest du denn tun, wenn du dich quasi um die Ecke langmachst? Erst noch ein paar Kilometer weit laufen oder die nächstgelegene Möglichkeit wählen?“

   „Schon gut, reg dich nicht auf“, meinte Tom. „Ich hab´ mich halt nur gewundert.“

   „Was weiß denn ich, was bei deinem Freund im Kopf vor sich geht?“, fragte Suzanne knapp.

   Erst jetzt registrierte sie zu ihrer Verwunderung, wie groß ihre Enttäuschung über die Tatsache, dass Marc sich nicht blicken ließ, tatsächlich war. Sie fragte sich ernsthaft, ob das Ausmaß der Emotion nicht sogar den angemessenen Rahmen sprengte. Nein, beruhigte sie sich eilig. Es lag sicher nur daran, dass Marc der Einzige war, mit dem sie über die Geschehnisse sprechen konnte.

   Auch wenn sie es zunächst nicht hatte wahrhaben wollen; die Erinnerungen an den feigen nächtlichen Angriff waren mehr als präsent in ihrem Kopf und hatten dafür gesorgt, dass sie seit Freitag kaum mehr als ein paar wenige Stunden geschlafen hatte. Sobald sie die Augen schloss, war alles sofort wieder da. Die panische Angst, die Finger des Angreifers, der sie überall betatschte. Sein ekelerregender, nach Rauch und Alkohol stinkender, Atem, als er versuchte sie zu küssen, während sich sein bretthartes Geschlechtsteil durch die Kleidung an ihrem Unterleib rieb. Das ätzend hilflose Gefühl, nichts zu tun können und einer anderen Person schlicht ausgeliefert zu sein. Dann der wahnsinnige Adrenalinstoß, als Marc so urplötzlich aufgetaucht und ihr zu Hilfe gekommen war. Der Kampf und die plötzlich wachsende Gewissheit, dass sie es zusammen schaffen konnten.

   Jedes Mal, wenn sie an der Stelle in ihrem höchst privaten Albtraum angekommen war, fühlte sie wieder, wie das Blut durch ihre Adern schoss. Sie hörte das immer lauter werdende Rauschen in ihren Ohren, bis sie schließlich einmal mehr schweißgebadet aufwachte. Scheiße, ja. Der Angriff hatte sie mitgenommen und ihr mehr zugesetzt, als ihr lieb war. Marc hatte das schon an jenem Abend gespürt, und verdammt noch mal: Inzwischen hatte sie längst vor sich selbst zugeben müssen, dass er recht gehabt hatte. Alleine das Gefühl, dass da jemand war, mit dem sie darüber reden könnte, tat ihr gut. Auch wenn ihr selbstverständlich klar war, dass Marc einen anderen Standpunkt einnahm, wenn es darum ging, wie man mit der Sache weiter umgehen sollte. Na und? Dann würde sie eben mit ihm darüber streiten. Alles war besser, als die Geschehnisse totschweigen zu müssen. Was hatte Marc an jenem Abend zu ihr gesagt? Sie sollte mit ihm reden, falls sie feststellen sollte, dass da doch Redebedarf war? Na toll, dachte sie vestimmt, dazu müsstest du dann aber da sein, oder? Telepathie funktioniert bei mir nicht.

   „Suzanne?“

   „Was?“ Suzanne kehrte mit einem Ruck zurück in die Gegenwart und realisierte den mit besorgtem Gesicht vor ihr stehenden Tom.

   „Alles in Ordnung mit dir?“

   „Ja, sorry. Ich war nur in Gedanken.“ Sie lächelte kurz und hoffte, dass es echt wirkte. „Wie war die Frage?“

   „Nicht so wichtig. Ich wollte nur wissen, warum du eben vor der Schule so dringend auf Marc gewartet hast?“ Tom wirkte immer noch beunruhigt. „Und sag jetzt bitte nicht, dass du nicht nach ihm Ausschau gehalten hast. Das würde ich dir nämlich nicht glauben.“

   „Ach nein?“, stichelte Suzanne, um wenigstens ein paar Sekunden Zeit auf der Suche nach einer glaubhaften Antwort zu gewinnen.

   „Nein“, entgegnete Tom ruhig, aber bestimmt. „Also?“

   „Wegen der Maschine“, erklärte sie und hörte selbst, wie wenig überzeugend sie rüberkam. „Na ja, außerdem wollte ich ihn fragen, wie es ihm geht. Er hatte ein paar Verletzungen von dem Sturz und du weißt ja selber, dass er während der Schulzeit kaum ein Wort mit mir spricht. Deswegen wollte ich ihn vor dem Unterricht abpassen.“

   „Aha.“ Toms dunkle Augen ruhten fragend auf ihrem Gesicht. „Und das soll ich dir jetzt glauben?“

   „Das liegt ganz in deinem Ermessen“, antwortete Suzanne einsilbig und wich unwillkürlich dem forschenden Blick ihres Klassenkameraden aus.

   „Okay, pass auf“, sagte der jetzt entschlossen. „Ich habe keine Lust mehr auf diesen Eiertanz. Marc ist mein Freund und du … du bist inzwischen auch so was wie eine Freundin für mich. Daher frage ich dich jetzt ganz direkt. Was willst du von Marc? Entschuldige, wenn ich so deutlich werde, aber ihr zwei seid wie Feuer und Wasser und doch läuft da irgendwas zwischen euch.“

   „Meinst du. Wenn du dich da mal nicht irrst.“

   Tom schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht nur, das spüre ich.“

   „Sag mal: Neugierig bist du gar nicht, wie?"

   „Nö. Nicht, wenn ich alles weiß." Tom grinste breit und seine Zähne blitzten weiß in dem dunklen Gesicht auf. „Und irgendetwas sagt mir, dass ich in dem Fall längst nicht alles weiß.“ Er wurde noch direkter: „Marc ist, was solche Dinge angeht, schon immer ein Geheimniskrämer gewesen. Daher komme ich zu dir. Also bitte, raus mit der Sprache. Was läuft da zwischen euch?"

   „Nichts, um Himmels Willen", antwortete Suzanne eine Spur zu schnell. „Spinnst du? Du sagst doch selbst, dass wir wie Feuer und Wasser sind.“

   „Ja, klar. Das seid ihr ja auch. Trotzdem...“

   „Nein“, antwortete Suzanne und legte soviel Entschlossenheit in ihre Stimme, wie es ihr möglich war. „Da läuft nix zwischen uns. Zufrieden?“

   „Das kannst du jemand anderem erzählen.“

   „Tom!“, rief sie ehrlich entrüstet. „Was soll ich denn noch sagen?“

   „Ehrlich, ich hätte nichts dagegen. Du brauchst dich also nicht zu verstellen. Im Gegenteil: Mich würd´s freuen.“

   „Dann tut´s mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Du irrst dich. Da … ist … nichts. Punkt. Wenn du mir nicht glaubst, frag deinen Freund doch selber ... ich meine, falls er irgendwann mal wieder hier aufkreuzt."

   „Das werde ich. Darauf kannst du dich verlassen.“ Toms dunkler Kopf bewegte sich in heftigen Nickbewegungen um seiner Ansage mehr Ausdruck zu verleihen. „Vielleicht sogar schon früher."

   „Großer Gott, tu´ was du nicht lassen kannst. Ich fürchte nur, du wirst hinterher bitter enttäuscht sein.“ Suzanne zog eine Grimnasse in Toms Richtung, doch der lachte ihr nur erneut frech ins Gesicht.

**********

   Ben beobachtete seit geraumer Weile aus gesicherter Entfernung, dass Suzanne und Tom offensichtlich eine Menge Spass miteinander hatten. So sah es zumindest für ihn aus. Zu seiner großen Verärgerung konnte er im Moment nichts dagegen unternehmen. Suzannes Verhalten ihm gegenüber hatte seine Wut auf sie eher noch einmal angefacht, als das sie verraucht war. Aber Wut hin – Wut her – im Augenblick wünschte er sich, dass sie ihr Gespräch mit Tom beendete und endlich zu ihnen rüberkam. Er brauchte sie, wenn auch nur für seine eigenen Zwecke. Allerdings dauerte diese blöde Unterhaltung inzwischen schon so lange, dass er sich gar nicht mehr sicher war, dass Suzanne sich überhaupt noch in dieser Pause zur Clique gesellen würde. Diese Befürchtung bewahrheitete sich glücklicherweise nicht, denn kurz darauf verabschiedete sich Suzanne von Tom und schlenderte zu ihnen herüber.

   „Hey, alles klar bei dir?“ Er begrüßte sie bewusst freundlich und setzte ein freundliches Lächeln auf. Nicht zu viel, nur gerade so, dass es Suzanne signalisierte, dass er sie in der Runde willkommen hieß.

   „Ja, sicher“, antwortete sie kurz und wollte sich Kimberly zuwenden.

   „Weißt du vielleicht, wo unser Eingeborener heute steckt?“, fragte er schnell. „Ist er krank?"

   „Ich nehme an, du sprichst von Marc“, erwiderte sie mit düster zusammengezogenen Augenbrauen.

   „Natürlich, du hast recht, Marc.“ Ben stöhnte innerlich auf. Das Mädchen wurde echt zusehends zur Landplage. „Entschuldige“, setzte er trotz seiner üblen Gedanken freundlich hinzu. „Und? Weißt du, wo er ist?“

   „Wieso fragst du das ausgerechnet mich?", entgegenete sie kurz.

   „Na ja, ich dachte, du hättest vielleicht mit Tom über ihn gesprochen", meinte Ben unschuldig. „Komm schon, Suzanne. Willst du vielleicht bis ans Ende deiner Tage sauer auf mich sein?“, fragte er dann mit verzweifelter Miene und erklärte den anderen theatralisch: „Ich hab´ Mist gebaut und jetzt hat sie mir die Freundschaft gekündigt. Dabei hab´ ich mich in aller Form entschuldigt.“

   Ja! Ben jubelte innerlich auf. Er hatte es vorausgesehen. Der Rest der Gruppe musterte Suzanne nun vorwurfsvoll fragend und nach einigen Sekunden konnte er anhand ihrer Mimik lesen, dass sie sich geschlagen gab.

   „Vergiss es, Ben. Lass gut sein. – Seit wann interessierst du dich denn so für Marc?"

   „Na ja, nicht wirklich für Marc“, druckste Ben gekonnt herum. „Aber ich müsste ihn dringend sprechen.“ Er zuckte mit den Achseln. „Er hat etwas, das ich brauche."

   „Marc? Soll etwas haben, was du brauchst? Kaum vorstellbar", meinte Suzanne trocken. „Aber um deine Frage zu beantworten: Nein, ich habe keine Ahnung, wo er steckt.“

 

32. Kapitel

 

 

 

   Niemand schien sich ernsthaft über Marcs Abwesenheit zu wundern. Da auch die Lehrer sich in Schweigen hüllten, ging Suzanne frustriert davon aus, dass er entschuldigt fehlte. Verdammt noch mal, sie wüsste wirklich zu gerne, wie es ihm ging, aber was sollte sie tun? Sie konnte ja schlecht die Station anfunken und sich nach seinem Befinden erkundigen, oder? Warum eigentlich nicht? Aber womöglich deutete er ihr Interesse an seiner Person falsch und das wäre ihr extrem peinlich. Letztlich ging es ihr doch nur darum, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, denn schließlich hatte er die Verletzungen nur davon getragen, weil er ihr geholfen hatte.

 

   Immerhin, nach 3 Tagen absoluter Funkstille wollte Tom am Nachmittag raus zur Station fahren, um zu sehen, was mit seinem Freund los war. Das hatte er zumindest eben vor dem Schulgebäude, als sie mit den anderen zusammen standen, erzählt. Um ein Haar hätte Suzanne ihn gefragt, ob er sie mitnehmen würde, doch sie hatte sich zurückgehalten. Ihr wollte einfach keine glaubhafte Begündung für ihr Anliegen einfallen. Schließlich glaubte Tom nach wie vor, dass Marc seine Maschine nach einem Sturz lediglich im Garten der Botschaft abgestellt hatte. Im Nachhinein hatte sie von ihm erfahren, dass das Motorrad zwar abgeholt worden war, aber nicht von Marc persönlich, sondern von seinem Großvater.

 

   Na ja, wie auch immer, spätestens am Abend würde sie mehr wissen, denn sie hatte sich vorgenommen, Tom später unter einem Vorwand zu Hause zu besuchen. Sie musste also einfach nur noch ein wenig Geduld aufbringen.

 

   Zu blöd, dass ich kein sonderlich geduldiger Mensch bin, dachte sie verstimmt, als Mr. Roscoe den Klassenraum betrat. Kurz bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, wurde sie plötzlich wieder aufgerissen und Marc erschien etwas atemlos im Türrahmen. Suzannes Augen weiteren sich überrascht und ihr Herz machte einen kleinen unkontrollierten Hüpfer. Damit hatte sie nicht gerechnet.

 

   „Marc.“ Mr. Roscoe schien ebenfalls erstaunt zu sein. „Na, wieder fit?“

 

   Marc nickte kurz und bewegte sich mit gesenktem Kopf zu seinem Platz. Suzanne bemerkte beiläufig, dass er an seinem rechten Unterarm immer noch einen Verband trug. Als er an ihrem Platz vorbeikam begrüßte sie ihn mit einem kurzen Nicken und einem Lächeln, doch es war ihm nicht anzumerken, ob er das überhaupt registriert hatte. Entweder will er es nicht sehen, oder er hat es tatsächlich nicht bemerkt, dachte sie enttäuscht. Obwohl sie keine Ahnung hatte, ob sie ihm womöglich Unrecht tat, fühlte sie sich verletzt. Ihr blieb jedoch keine Zeit, weiter über Marcs Verhalten nachzugrübeln, denn wie gewohnt stieg Mr. Roscoe direkt voll in den Unterricht ein und Suzanne konnte es sich defintiv nicht leisten, in Mathe den Anschluss zu verlieren. Für den Moment vertraute sie darauf, dass sich in der Pause bestimmt eine Gelegenheit ergeben würde, mit Marc zu reden. Falls er versuchen sollte, ihr auszuweichen, was durchaus im Bereich des Möglichen war, wusste sie genau, an wen sie sich halten musste. Tom. Sie musste sich einfach nur an Tom halten. Der hatte eben, bei Marcs plötzlichem Auftauchen mindestens ebenso überrascht gewirkt, wie sie, und der würde sich garantiert nicht abschütteln lassen. Ja, dachte sie befriedigt, genauso würde sie es machen.

 

   „Suzanne? Findest du diese Gleichungen amüsant, oder warum lächelst du so vor dich hin?“

 

   Wie bitte, was? Sie hatte gelächelt? Ernsthaft? „Oh, ähm … Mr. Roscoe. Nein, die Gleichungen sind natürlich nicht … na ja, es sind Gleichungen.“  Sie zuckte mit den Schultern. „Nichts Besonderes halt. Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht stören.“

 

   Mr. Roscoe lächelte gewinnend und Suzanne schwante Böses. Nicht zu unrecht, wie sich gleich darauf heraus stellte. Der Lehrer kam neben ihren Tisch und hielt ihr auffordernd die Kreide hin. „Es freut mich zu hören, dass Gleichungen neuerdings nicht Besonderes für dich sind. In dem Fall erklärst du deinen Klassenkameraden doch sicher gerne Schritt für Schritt den Lösungsweg der Aufgabenstellung, die ich eben an die Tafel geschrieben habe.“

 

   Suzanne blickte nach vorne und wurde blass. Sie würde sich gleich bis auf die Knochen blamieren, soviel stand fest. Sie startete einen letzten, verzweifelten Versuch, um ihren Hals vielleicht doch noch aus der Schlinge zu ziehen. „Mr. Roscoe, ich…“

 

   „Na los, trau dich.“ Mr. Roscoe legte die Kreide vor ihr auf dem Tisch ab und nickte ihr auffordernd zu. „Bitte. Wir sind schon alle sehr gespannt.“

 

   Scheiße!

 

**********

 

   Ben wartete noch, bis Mr. Roscoe Suzanne erlöste und sie nach einer für sie äußerst blamablen Viertelstunde mit hochrotem Kopf zurück auf ihren Platz schlich. Er musste zugeben, dass er das Schauspiel sehr genossen hatte, aber jetzt wurde es Zeit, die nächste Stufe seines Plans einzuleiten. Er meldete sich. „Mr. Roscoe, dürfte ich austreten. Bitte.“

 

   „Kann das nicht bis zur Pause warten?“

 

   „Nein, ich…“ Ben legte eine Hand auf seinen Magen und tat so, als stünde er kurz davor, würgen zu müssen. „Ich fühle mich nicht wohl. Es ist wirklich dringend.“

 

   „Na gut, in Ordnung. – Kommst du alleine zurecht?", erkundigte sich der Lehrer.

 

   „Ja.“ Ben stand auf. „Ich denke schon."

 

   Mit schnellen Schritten verließ er den Klassenraum und ging zielstrebig zu den am weitesten entfernten Toiletten. Er griff in seine Tasche, zündete sich einen extra starken Joint an und inhalierte den Rauch tief über die Lunge, bevor er ihn schließlich hustend wieder ausstieß. Er vertickte zwar Drogen, aber bislang hatte er noch nie selber konsumiert, er rauchte ja noch nicht einmal. Daher ließ die Wirkung des Stoffs nicht lange auf sich warten. Schon nach wenigen Zügen spürte Ben wie ihm schwummrig wurde. Drei weitere tiefe Züge und seine Knie begannen plötzlich wie wild zu zittern. Geistesgegenwärtig stützte er sich mit einer Hand an der Kabinenwand ab und atmete ein paar Mal hektisch. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn und seine Handinnenflächen wurden feucht. Verdammt, mit einer so heftigen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Ihm war im wahrsten Sinne des Wortes kotzübel. Und das sollte toll sein? Gut, dass er nicht davon abhängig war.

 

   Ben musste heftig würden und beschloss es nicht zu übertreiben. Angewidert warf er den Rest des Joints in die Toilette. Er betätigte die Spülung und schaute mit verschwommenem Blick zu, wie die verräterischen Spuren seines Tuns sich erst auflösten und dann verschwanden. Während er sicherheitshalber ein zweites und drittes Mal nachspülte spürte er erneut, wie sein Frühstück energisch durch die Speiseröhre nach oben drängte. Nein! Nein! Nein! Ben zwang sich zu schlucken, und versuchte den sauren Geschmack in seinem Mund zu ignorieren. Er wollte sich auf gar keinen Fall jetzt übergeben. Er wollte, dass es ihm schlecht ging und er ging davon aus, dass er mit einem vollen Mageninhalt authentischer rüberkam, wenn er gleich zurück in die Klasse kam. Er hatte zwar nicht vor, in die Klasse zu kotzen, doch wenn die Situation es erforderte, würde er auch dies tun.

 

   Ben wankte aus der Kabine in den Vorraum, spritzte sich am Waschbecken noch eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht und spülte sich kurz den Mund aus, bevor er sich auf wackeligen Beinen auf den Rückweg machte.

 

   „Fühlst du dich besser?", erkundigte sich Mr. Roscoe. Wie erwartet musterte der Lehrer ihn intensiv. „Du siehst blass aus, Ben. Vielleicht wäre es besser, wenn du nach Hause gehst."

 

   „Nein, danke. Es geht schon wieder", antwortete Ben mit einer Leidensmiene, die nicht gespielt war. Er fühlte sich hundsmiserabel und schlurfte mit schleppenden Schritten zu seinem Platz. Dabei gratulierte er sich im Stillen. Manchmal musste man schon ein paar Unanehmlichkeiten auf sich nehmen, um sein Ziel zu erreichen.

 

**********

 

   Die restliche Zeit bis zur Pause verlief ohne weitere Zwischenfälle. Gleich zu Beginn der Pause versorgte Ben Kimberly und noch einige der anderen unauffällig mit Joints. Seine Kunden hatten ihn schon seit ein paar Tagen bedrängt, doch er hatte sie bewusst hingehalten und stets behauptet, zurzeit käme er selber nicht an neuen Stoff heran. Ein kluger Schachzug, denn er war ziemlich sicher, dass einige seiner Mitschüler sich inzwischen an den regelmäßigen Konsum gewöhnt hatten und daher dem Nachschub jetzt schon ungeduldig entgegen fieberten. Zufrieden registierte er, wie ein paar seiner Kunden sich umgehend nach der Übergabe an eine für die Aufsicht uneinsehbare Stelle des Schulhofes zurückzogen, um den Stoff gleich an Ort und Stelle zu inhalieren.

 

   Obwohl ihm immer noch speiübel war, fühlte Ben sich total euphorisch. Es lief genauso, wie er es geplant hatte. Vielleicht sogar noch einen Tick besser. Er blickte sich unauffällig um. Suzanne war im Augenblick der einzige Unsicherheitsfaktor. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht doch auf die Idee kam, die Pause mit den anderen aus der Basisclique zu verbringen. Nach dem Klingeln war sie sofort verschwunden. Er hatte sie aus den Augen verloren und keinen Schimmer, wo sie gerade steckte. Daher war er auch nicht bei seinen Freunden, sondern hatte sich an diesem strategisch günstigen Punkt postiert. Sollte diese Nervensäge auftauchen, musste er sie abfangen und in ein Gespräch verwickeln. Egal wie, aber das würde er schon hinbekommen, selbst wenn das Ganze auf einen neuerlichen Streit hinauslief. Sie durfte auf keinen Fall mitbekommen, was die anderen gerade taten.

 

**********

 

   Es klingelte zum ersten Mal und Ben beeilte sich, damit er genau vor Mr. Roscoe, der die Hauptaufsicht gehabt hatte, die Stufen zum Schulgebäude hinaufging. Er fühlte sich immer noch total benebelt und so fiel es ihm auch nicht weiter schwer, auf der obersten Stufe einen Schwächeanfall vorzutäuschen. Er sackte unvermittelt zu Boden, wobei er darauf achtete, dass beim Fallen eine zusammengerollte durchsichtige Plastiktüte unauffällig aus seiner Jackentasche glitt. Wie erwartet war der Lehrer sofort an seiner Seite.

 

   „Ben, was ist los? Ist dir immer noch schlecht?"

 

   „Geht schon", flüsterte Ben, befriedigt, dass er sich genauso schwach anhörte, wie er sich fühlte.

 

   „Warte, ich helfe dir hoch und dann möchte ich, dass du dich im...." Mr. Roscoe beugte sich zu Ben hinunter und verstummte abrupt, als sein Blick auf die Tüte fiel und er deren Inhalt, einige fertig gedrehte Joints, erkannte. „Benjamin, was ist das?!" Seine Stimme hatte einen scharfen Klang angenommen. „Ich erwarte eine Erklärung.“

 

   „Was?" Ben versuchte halbherzig, die Tüte mit seinem Körper zu verbergen und tat so, als wüßte er nicht um was es ging. „Was meinen Sie?“

 

   Mr. Roscoe griff nach der Tüte und hielt sie Marc direkt unter die Nase. Mittlerweile hatte sich bereits ein kleiner Kreis von Schaulustigen um die beiden gebildet.

 

   „Das ... das ist … Mist!", entfuhr es Ben scheinbar entsetzt.

 

   „Ich glaube, ich weiß jetzt, was mit dir los ist.“ Mr. Roscoe packte Ben mit der freien Hand am Arm und zog ihn auf die Füße. „Steh´ auf, du wirst mich jetzt sofort ins Rektorat begleiten, junger Mann."

 

   „Aber... Mr. Roscoe, ich…"

 

   „Los, vorwärts. Geh, wir reden dort weiter. Und ihr anderen …" Roscoe fixierte die Umstehenden mit strengem Blick. „…macht gefälligst, dass ihr in eure Klassen kommt. Na los, die Vorstellung ist vorbei. Hier gibt´s nichts mehr zu sehen.“     

 

**********

 

   Wie ein geprügelter Hund schlich Ben mit Mr. Roscoe davon. Im Büro des Rektors wurde er ziemlich unsanft auf einen Stuhl gedrückt. Der Lehrer legte die Tüte mit den restlichen Joints auf dem rustikalen Schreibtisch ab, zeigte darauf und fragte kurz: „Woher hast du das?"

 

   Ben gab sich trotzig und kniff die Lippen zusammen.

 

   „Gehört das Zeug dir?“

 

   Keine Antwort.

 

   Mr. Roscoe seufzte: „Das bringt dich nicht weiter, Benjamin. Ich hätte dich für schlauer gehalten. Eine Suspendierung ist das mindeste, was dabei für dich rausspringt.“ Er griff nach dem Telefon und drückte entschlossen einige Tasten. „Ich muss den Rektor informieren. Er hat einen Termin auf der Basis, wie du vielleicht weißt, aber ich denke, dass er über diesen Vorfall sofort informiert werden will.“

 

   „Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, murmelte Ben. „Kann ich dann jetzt vielleicht nach Hause – mir ist schlecht.“

 

   Roscoe lachte, doch es klang alles andere als fröhlich. „Du machst mir Spaß. Ganz bestimmt nicht.“ Die Verbindung mit der Basis kam zustande und Roscoe ließ sich mit dem Rektor der Schule verbinden. Kurz und knapp berichtete er dem Schulleiter von den Vorkommnissen und beendete ein paar Minuten später mit ernstem Gesicht das Gespräch. „Er kommt her“, informierte er Ben. „Sofort.“ Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Weißt du, wir haben schon länger vermutet, dass wir ein Drogenproblem an der Schule haben. Ich sag´ dir, wie sich die Situation für mich darstellst. Du hast dir heute versehentlich ein bisschen viel reingezogen, dir wird übel und dadurch bekam ich mehr zufällig die Gelegenheit über den Schuldealer zu stolpern. Da werde ich dich garantiert nicht ohne ein paar Informationen gehen lassen.“

 

   „Ich bin kein Dealer!", fuhr Ben nun entrüstet auf.

 

   „Nein? Was bist du dann?!", fragte Mr. Roscoe scharf. „Nur Konsument, oder was? Glaub mir, Ben. Du tust dir einen Gefallen, wenn du redest.“

 

   „Da gibt es nichts zu reden“, reagierte Ben immer noch verstockt, obwohl das Gespräch genauso lief, wie er sich das vorgestellt hatte. „Das muss mir jemand in die Tasche geschmuggelt haben. Nur weil mir schlecht ist…“

 

   „Ach ja? Ich wette, wenn wir jetzt dein Blut untersuchen lassen, werden wir Drogenrückstände darin finden. Ben, das ist kein Spaß. Wir werden deinen Vater informieren müssen, wenn er es eben nicht schon mitbekommen hat. Ich fürchte, er wird alles andere als begeistert sein.“

 

   „Okay, ja, verdammt. Ich geb´s zu. Sind Sie jetzt zufrieden? Das Zeug gehört mir. Aber ich bin nicht der Dealer. Ich hab' dafür bezahlt. Und wenn Sie mir Blut abzapfen lassen wollen, können Sie gleich noch ein paar andere mit auf die Krankenstation nehmen."

 

   „Gut, ich sehe, wir verstehen uns langsam. Wen können wir noch mitnehmen, Ben? Noch wichtiger: Von wem bekommt ihr das Zeug?!"

 

   Ben schüttelte erneut den Kopf.

 

   „Benjamin, damit verbesserst du deine Situation nicht gerade. – Wenn du uns weiterhilfst kommst du womöglich mit einem blauen Auge davon – aber nur dann.“

 

   Red´ du nur, dachte Ben, während er scheinbar interessiert aufblickte: „Bedeutet das, dass Sie meinen Vater da rauslassen?"

 

   Roscoe lehnte sich gegen den Schreibtisch und blickte Ben nachdenklich an. „Ich will dir keine falschen Versprechungen machen. Letztlich muss das der Rektor entscheiden. Aber vielleicht kannst du dir damit den Rauswurf ersparen. Wenn du alles alleine auf dich nimmst, ist es mit einer Suspendierung sicher nicht getan, das solltest du dir klar machen."

 

   Ben schien nachzudenken. „Okay", sagte er dann schließlich gedehnt. „Was wollen Sie wissen?“

 

   „Wie lange läuft das schon?"

 

   „Noch nicht sehr lange. Wir haben es alle mehr aus Neugierde ausprobiert. Hier kann man halt nicht viel machen und uns war langweilig."

 

   „Wer ist wir?“

 

   Ben blickte zu Boden: „Fred, Chris, Kimberly und ich”, sagte er schließlich leise. „Hören Sie, die anderen möchte ich nicht nennen. Die sind eh geheilt, wenn das alles rauskommt. Aber wir vier … ich glaube, wir haben inwzischen ein Problem damit. Wir haben auf den neuen Stoff regelrecht gewartet.“

 

   „Kimberly? Sie macht da mit?", fragte Mr. Roscoe überrascht.

 

   „Und wie!" Ben nickte. „Sie raucht sogar noch mehr als ich.“

 

   „Was ist mit Suzanne?"

 

   Ben schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Von mir hat sie zumindest nichts bekommen."

 

   „Aha, die anderen haben den Stoff also doch von dir?", hakte Mr. Roscoe sofort ein. „Hast du nicht eben behauptet, du wärst nicht der Dealer?“

 

   „Bin ich auch nicht.“ Ben druckte gekonnt herum, bevor er weitersprach. „Ich bin nur das Bindeglied. Weil er sonst keinen Kontakt zu uns Amerikanern hat."

 

   „Ben, wer ist `ER'? Ein Afrikaner?"

 

   „Nein, nicht direkt." Ben zögerte wieder. „Hören Sie, das müssten doch jetzt genug Informationen sein. Wenn der Typ rausfindet, dass ich es war, der ihn verpfiffen hat... Verstehen Sie, er hat `ne Menge Freunde unter den Einheimischen. Wer weiß, was die mit mir anstellen? Ich meine, irgendwoher muss er das Zeug ja schließlich auch beziehen."

 

   „Den Namen, Ben", beharrte Mr. Roscoe. „Sag uns den Namen und ich garantiere dir, dass dir nichts geschehen wird."

 

   Ben ließ die Schultern hängen und senkte wieder den Kopf. „Marc", sagte er nach einer Pause endlich kaum hörbar. „Ich bekomme das Zeug von Marc.“

 

33. Kapitel

 

   „Wie bitte?" Mr. Roscoe hatte augenscheinlich Schwierigkeiten zu glauben, was Ben ihm da gerade offenbart hatte. „Willst du damit andeuten, dass Marc Gilbert euch mit den Drogen versorgt?"

   „Ja", antwortete Ben fest. „Welcher Marc denn sonst?"

   Roscoe wirkte erschüttert. „Ich dachte, ihr seid euch spinnefeind."

   „Na ja, um Geschäfte zu machen muss man nicht miteinander befreundet sein", stellte Ben nüchtern fest. „Eines Tages kam er auf mich zu und fragte, ob ich Interesse hätte. Ich war neugierig, also ging ich darauf ein. Die anderen haben keine Ahnung, woher ich das Zeug bekomme. Ich nehme immer gleich eine größere Menge ab, und gebe sie dann peu à peu weiter. Ich sehe mich nicht als Dealer, eher als eine Art Zwischenhändler.“

   „Unfassbar.“ Mr. Roscoe fuhr sich durch die Haare und wanderte rastlos vor Bens Stuhl hin und her. „Wie naiv bist du eigentlich?“

   „Was ist daran naiv? Ich gebe Marc Bescheid, wenn ich Nachschub brauche und er besorgt den Stoff. Es ist ganz einfach.“

   Roscoe verdrehte die Augen zur Decke. „Deine Clique … oder vielmehr du… Bist du der Einzige an der Schule, der von ihm beliefert wird?"

   „Woher soll ich das wissen? Ich sagte doch schon, dass wir keine Freunde sind", fuhr Ben trotzig auf. „Außer dieser … Sache hab´ ich nichts mit diesem Sonderling zu schaffen.“

   Der Rektor betrat den Raum und funkelte Ben wütend an. „Dein Vater wird später nachkommen“, teilte er ihm statt einer Begrüßung kurz mit. „Er muss zuerst noch etwas regeln, dann macht er sich auf den Weg.“

   „Wie immer“, entfuhr es Ben. Als der Rektor ihn daraufhin fragend anschaute, fuhr er fort. „Es gibt immer irgendetwas, was für ihn erst mal wichtiger ist, als sein Sohn“, teilte er den beiden Männern mit bitterem Unterton mit. „Na ja, mir soll´s egal sein. – Wie geht´s jetzt weiter?“

   „Wir werden sehen“, antwortete Roscoe und setzte anschließend den Rektor über Bens Aussage ins Bild.

   Ben beobachtete aus den Augenwinkeln interessiert und zufrieden, wie sich der Gesichtsausdruck des Rektors während Roscoes Berichtserstattung zusehends veränderte.

   „Haben Sie Doc Gilbert schon angerufen?“, erkundigte er sich, nachdem Roscoe geendet hatte. „Marc ist zwar schon achtzehn, aber ich will ihn trotzdem hier haben. Er sollte so schnell wie möglich kommen.“

   „Nein, Sie wissen doch, auf der Staion gibt es kein Telefon – nur Funk", wandte Roscoe ein. „Dazu müssten wir in die Botschaft, oder ins Bürgermeisteramt.“

   „Okay, gut.“ Dem Rektor war deutlich anzumerken, wie unzufrieden er mit dieser Entwicklung war. „Oder auch nicht. Aber es nützt ja nichts. Verschieben wir das also vorläufig.“

   „Wie Sie eben selber bereits sagten ist Marc volljährig", erinnerte Mr. Roscoe seinen Vorgesetzten. „Somit ist er selber verantwortlich für das was er tut, und wir müssen nicht zwingend einen Erziehungsberechtigten hinzuziehen."

   „Dann schaffen Sie ihn endlich her!", brüllte der Rektor wütend. „Mein Gott, wir hätten ihn damals gar nicht wieder aufnehmen sollen. Wer weiß, was der in Amerika für Kontakte geknüpft hat."

   Roscoe nickte vielsagend in Richtung Ben, der scheinbar unbeteiligt dem Gespräch der beiden Männer lauschte. „Noch ist nichts bewiesen", versuchte er, den Rektor zu beruhigen. „Bevor ich mir eine Meinung bilde, möchte ich auf jeden Fall erst noch Marcs Standpunkt hören.“

   „Hergott, Roscoe“, polterte der Rektor weiter. „Jeder hier weiß doch, dass Marc in Amerika von zwei Schulen geflogen ist! Meines Erachtens sagt das schon eine Menge."

   Mr. Roscoe zuckte mit den Achseln. „Ich möchte trotzdem erst mal mit ihm reden." Damit wandte er sich zum gehen. „Ich werde ihn holen.“

   „Ich will ihm nicht begegnen", warf Ben schnell ein.

   „Bringen Sie den Jungen in den Konferenzraum und reden Sie dort mit ihm", rief der Rektor Mr. Roscoe hinterher, bevor er sich wieder Ben zuwandte. „Weißt du, wo Marc die Drogen aufbewahrt?“

   „Keine Ahnung. Glauben Sie ernsthaft, das verrät er ausgerechnet mir?"

   „Aber du hast heute etwas von ihm bekommen?"

   „Ja, eigentlich hatten wir Montag abgemacht. Aber dann fehlte er plötzlich. Das war ja das Problem“, erklärte Ben gelangweilt.

   „Ben, bitte denk nach. Du kannst deine Lage nur verbessern. Er muss die Drogen doch irgendwo lagern. Wo könnte das sein?“

   Ben tat so als käme er der Aufforderung des Rektors ernsthaft nach. Plötzlich richtete er sich kerzengerade auf.

   „Was ist los?“, hakte der Rektor sofort ein. „Dir ist doch gerade etwas eingefallen. Raus damit.“

   Ben schwieg einige Sekunden, bis er schließlich zögernd anwortete: Ich weiß nicht … vielleicht in seinem Spind."

   „So dumm wird er ja wohl kaum sein." Für den Rektor schien die Sache damit erledigt. Er zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und kramte darin herum. „Wo ist denn…?“

   Ben war es egal, wonach der Rektor suchte. Er musste unbedingt noch anbringen, was er zu sagen hatte. „Nein, warten Sie. Marcs Spind gehörte früher mal mir. Er hat einen doppelten Boden. Ich hab' das vor Jahren mehr zufällig rausgefunden. Ernsthaft: Das wäre ein prima Versteck."

   Es funktionierte. Der Rektor konzentrierte seine Aufmerksamkeit prompt wieder auf Ben. „Was sagst du da? Wie lange weißt du das schon?"

   „Wie gesagt, schon ewig. Diesen doppelten Boden gab es schon, als ich den Spind zugeteilt bekam.“ Damit sprach er sogar die Wahrheit.

  „Gut", meinte der Rektor merklich bestürzt. „Das sollten wir auf jeden Fall überprüfen."

**********

   Im Klassenraum herrschte Unruhe. Es hatte bereits vor einigen Minuten zum zweiten Mal geklingelt, doch noch immer war kein Lehrer in Sichtweite. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise gehörte Mrs. Gabriel zu den Lehrern, die eher überpünktlich auftauchten.

   „Nebenan ist auch noch niemand“, verkündete Gloria, die an der Tür den Spähposten innehatte, nachdem sie einen erneuten Kontrollblick den Flur entlang geworfen hatte.

   „Vielleicht `ne außergewöhnliche Konferenz“, vermutete einer.

   „Quatsch, davon wüssten wir doch“, kommentierte ein anderer.

   Suzanne hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie beobachtete verstohlen Marc und Tom, die sich weiter hinten im Raum angeregt unterhielten. Sie hatte die komplette Pause damit verbracht, nach den Beiden zu suchen, dabei hatten sie offensichtlich den Klassenraum gar nicht verlassen. Als sie eben nach der Pause wieder hereingekommen war, hatten die beiden einträchtig über Heften und Büchern die Köpfe zusammengesteckt. Zu blöd, dass sie darauf nicht gekommen war. Jetzt war es zu spät für ein Gespräch, denn Mrs. Gabriel würde sicher jeden Moment auftauchen.

   „Hey, hast du mitbekommen, was da eben draußen los war?" Kimberly stand plötzlich neben ihrem Platz und blickte sie fragend an. „Als wir näher kamen, hatte sich der Menschenauflauf schon wieder aufgelöst. Da war irgendwas mit Ben.“

   „Was?", fragte sie geistesabwesend und als Kimberly ihre Frage wiederholte antwortete sie: „Nein. Keine Ahnung.“

   „Hm, schade“, meinte Kimberly. „Ich dachte, du hättest vielleicht was gesehen. Ob ihm immer noch übel ist? Ich frag´ mich, wo er bleibt?“

   „Nein, ich hab´ nichts gesehen. Womöglich haben sie ihn doch nach Hause geschickt“, antwortete Suzanne gereizt und setzte hinzu: „Ehrlich gesagt ist es mir auch ziemlich egal, was mit Ben ist." Sie sprach so laut, dass einige Klassenkameraden verwundert zu ihr herüber blickten. Unter anderem auch Marc und da sie immer noch in seine Richtung sah, trafen sich ihre Blicke.

   „Hey", grüßte sie ihn etwas verlegen.

   „Hallo", antwortete er kurz, aber nicht unfreundlich. Anscheinend war damit das Gespräch für ihn auch schon wieder beendet, denn er beugte sich zur Seite und griff nach seinem Rucksack.

   „Alles okay?", setzte Suzanne eilig nach und zeigte auf seinen Arm. „Wie geht´s dir denn?“

   Marc zeigte die minimale Andeutung eines Lächelns. „Ganz gut soweit", war jedoch alles, was er sagte, bevor er endgültig kurz abtauchte und sich danach direkt wieder Tom zuwandte.

   Suzanne spürte die Enttäuschung in ihrem Inneren aufwallen. Verrückt, denn sie wusste nicht einmal zu sagen, was sie eigentlich erwartet hatte.

   „Ähm, was war das denn?“, erkundigte sich Kimberly neugierig, während sie ihre Augen hin und herschweifen ließ.

   „Nichts, vergiss es“, antwortete Suzanne unfreundlich, obwohl Kimberly ja nichts für ihre Verstimmung konnte.

   „Na, du hast ja heute gute Laune.“ Da von Mrs. Gabriel immer noch nichts zu sehen war, schnappte Kimberly sich den freien Stuhl neben Suzanne und musterte sie erwartungsvoll. „Wie war es denn am Freitag mit Ben?", bohrte sie gleich darauf weiter. „Du erzählst ja gar nichts."

   Oh, nein. Das musste ja kommen, dachte Suzanne und ihre Stimmung sank um ein paar zusätzliche Punkte auf der Richterskala. „Weil es da nicht viel zu erzählen gibt", antwortete sie kurz.

   „Worüber habt ihr denn gestritten?“ Kimberly ließ einfach nicht locker.

   „Wenn du es genau wissen willst. Euer heiliger Ben hat sich unmöglich benommen. Ich weiß echt nicht, was ihr alle an ihm findet."

   „Na ja, aber sein Vater ist doch..."

   „...der General, ja. Ist mir bekannt. Na und? Gibt ihm das vielleicht das Recht, sich wie ein Arsch aufzuführen?"

   „Du verstehst das nicht", wandte Kimberly vehement ein. „Kunststück, du musst ja auch nicht auf der Basis leben."

   „Ja, Gott sei Dank, kann ich dazu nur sagen“, kommentierte Suzanne den Einwand und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit nun voll auf die Freundin: „Aber du hat Recht: Ich versteh´ dich wirklich nicht. Wieso verhältst du dich so? Wieso tanzt du ständig nach seiner Pfeife? Sei ehrlich, im Grunde hast du doch gar nichts gegen die Einheimischen."

   „Nein", sagte Kimberly unbehaglich und blickte sich unauffällig um, ob auch niemand dem Gespräch lauschte. „Eigentlich nicht.“

   „Komm schon. Wir hatte doch neulich `ne Menge Spass mit Tom, oder?"

   „Ja", gab ihre Freundin zu. „Das schon, aber..."

   „Du hast `ne eigene Meinung, aber du stehst nicht dazu. Warum? Glaub mir, das ist gar nicht so schwer."

   „Weil ich mich nicht in die Nesseln setzen will, darum! Warum mischst du dich eigentlich permanent in Dinge ein, von denen du keine Ahnung hast?", ging Kimberly nun in Abwehrstellung.

   Suzanne kam nicht mehr dazu zu antworten, denn Gloria zischte von der Tür her: „Achtung! Sie kommt!“

   Gleich darauf betrat die Lehrerin mit unnatürlich ernstem Gesicht die Klasse und begann, ohne Umschweife, sofort mit dem Unterricht. Bens Fehlen kommentierte sie mit keinem Wort.

**********

   Nach etwa zehn Minuten öffnete sich die Tür erneut und Mr. Roscoe betrat den Klassenraum. Er ging zum Pult, flüsterte einige Worte mit Mrs. Gabriel, bevor er schließlich zu Bens Platz ging und wortlos dessen Sachen zusammen packte. Einige Schüler blickten sich irritiert an. Erst recht, als Mr. Roscoe beinahe beiläufig sagte:

   „Marc, packst du bitte auch deine Sachen. Du begleitest mich.“

   Marc blickte überrascht von seinen Unterlagen hoch, während sich alle nach ihm umdrehten. „Warum?"

   „Der Rektor will dich sprechen", sagte Mr. Roscoe kurz. „Sofort.“

   Marc zuckte mit den Achseln, doch er packte widerspruchslos seine Sachen zusammen und folgte dem Lehrer aus der Klasse. „Was denn, hier?“, fragte er verwundert, als Mr. Roscoe kurz darauf vor der Tür zum Konferenzzimmer stehenblieb. „Ich dachte, der Rektor will mich sprechen.“

   „Allerdings. Aber zuerst reden wir beide. Der Rektor weiß Bescheid.“ Mr. Roscoe öffnete die Tür und ließ Marc an sich vorbei eintreten. „Setz dich“, sagte er dann mit ernst und Marc befolgte irritiert die Aufforderung.

   Schweigend wartete er darauf, dass Roscoe das Wort ergriff. Er wollte endlich wissen, was los war. Verdammt noch mal, irgendwas musste passiert sein und ihm wurde langsam echt mulmig zumute. Schnell ließ er im Geiste die letzten paar Wochen Revue passieren, doch es fiel ihm nichts ein, was er sich zuschulden hätte kommen lassen.

   „Marc", fing Mr. Roscoe nach einer langen Pause endlich an. „Du weißt, ich rede nicht gerne lange um den heißen Brei herum. Daher frage ich dich jetzt ganz direkt: Seit wann dealst du schon mit Drogen?"

   Die Katze war aus dem Sack und Marc spürte, wie ihm die Gesichtszüge entgleisten. „Seit wann ich bitte was tue?! Fragen Sie das im Ernst?"

   „Siehst du hier irgendjemanden lachen? Antworte bitte."

   „Verdammt noch mal, wer kommt denn auf so eine Scheiße?"

   „Ich warte", konterte der Lehrer kühl. „Allerdings nicht mehr lange.“

   Marc war immer gut mit Roscoe ausgekommen, aber diese Anschuldigung verschlug ihm glatt für einen Moment die Sprache. Anhand des Verhaltens des Lehrers ihm gegenüber dämmerte ihm aber langsam, dass er anscheinend tief in der Klemme saß.

   „Marc?“

   „Okay, okay, schon gut“, brachte er mit Mühe raus. Innerlich brodelte es in ihm, doch er wusste, dass er jetzt Ruhe bewahren sollte. Er atmete einmal tief durch und strich sich die Haare aus dem Gesicht, um noch ein wenig mehr Zeit zu gewinnen. „Ich habe noch nie, in meinem ganzen Leben nicht, mit Drogen gedealt“, sagte er schließlich äußerlich gefasst. „Wie zum Teufel kommen Sie auf diese absurde Idee?“

   „Es sind entsprechende Hinweise aufgetaucht“, teilte Roscoe ihm ausweichend mit.

   „Hinweise? Was für Hinweise?“, fragte Marc aufgebracht. „Kommen Sie, ich finde, ich habe ein Recht das zu erfahren. Welcher Art sind diese ominösen Hinweise?“

   „Na gut“, gab Roscoe nach. „Da man dich ja später sowieso damit konfrontieren wird, kann ich es dir genauso gleich jetzt sagen. Jemand beschuldigt dich, ihn bereits seit längerem mit Drogen zu versorgen.“

   Marc fiel es wie Schuppen von den Augen. „Ben!“ Er ballte vor Wut die Fäuste: „Dieses miese Arschloch.“

   Roscoe zog vielsagend die Augenbrauen hoch. „Du gibst es also zu?"

   „Scheiße, nein! Ich gebe gar nichts zu!"

   „Es wäre aber besser für dich."

   „Was soll das?“ Marc beugte sich vor und blickte dem Lehrer gerade in die Augen: „Bin ich etwa schon abgeurteilt?"

   „Natürlich nicht. Aber wenn du…"

   „Mr. Roscoe, bitte. Sie kennen mich seit Jahren. Sehen Sie mir in die Augen. Ich lüge nicht. Ich habe nichts zuzugeben." Beim letzten Satz betonte er jedes Wort einzeln.

   „Ich würde dir sehr gerne glauben, Marc. Wirklich.“

   Mr. Roscoe verstummte und schien nachzudenken. Marc schöpfte zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs so etwas wie Hoffnung, womöglich doch noch unbeschadet aus dieser Farce herauszukommen. 

   „Wir müssen der Sache nachgehen, das versteht sich von selbst“, sprach der Lehrer weiter. „Wenn es so ist, wie du sagst, hast du sicher kein Problem damit, uns den Inhalt deines Spinds zu zeigen.“

   „Natürlich nicht. Jetzt gleich?", fragte Marc erleichtert. Er war am Morgen noch an seinem Spind gewesen und sich sicher, dass sich darin nichts befand, was ihn belasten konnte.

   „Am liebsten ja."

   „Okay, bitte. Von mir aus.“ Er ging zur Tür. „Bringen wir es hinter uns.“

   Auf dem Weg zu den Wandschränken der Oberstufenschüler blickte Marc den Vertrauenslehrer von der Seite her fragend an: „Jetzt mal im Ernst: Sie glauben diesen Scheiß doch nicht wirklich?"

   „Glauben ist eine feine Sache, Marc.“ Roscoes Stimme klang irgendwie traurig. „Gegen dich wurde eine schwere Anschuldigung erhoben. Da zählen nur Beweise.“

   „Die Sie in meinem Spind zu finden hoffen?“, konstatierte Marc bitter. „Ich verstehe.“

   „Das siehst du falsch.“ Zum ersten Mal blickte Mr. Roscoe ihn vergleichsweise freundlich an. „Ich würde mir wünschen, dass sich das alles gleich als ein großer Irrtum herausstellt.“

   Marc zuckte mit den Achseln. „Ben will mir was anhängen. Er zieht sich was rein und will es mir in die Schuhe schieben. Aus welchen Gründen auch immer. Aber Sie werden erleben, dass er sich am Ende bei mir entschuldigen muss."

   Aus einem anderen Korridor waren Schritte zu hören, die sich rasch näherten. Kurz darauf bog General Mc. Allister mit einer aufgelösten Mrs. Gabriel im Schlepptau um die Ecke. Die Lehrerin, die mit der Situation offensichtlich überfordert war, wirkte völlig entnervt.

   „Haben Sie eine Ahnung, wo Ben ist?“, erkundigte sie sich bei ihrem Kollegen, während sie mehrfach hastig Luft holte. Offensichtlich hatte die kleingewachsene Frau Probleme gehabt, dem deutlich längeren Mann auf den Fersen zu bleiben.

   „Das würde mich allerdings auch interessieren“, brüllte Mc. Allister dazwischen und funkelte Roscoe wutschnaubend an.

   „Er wartet zusammen mit dem Rektor im Rektorat. Roscoe blickte auf seine Kollegin und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Was soll das? Konnten Sie ihn nicht aufhalten?“

   „Ich kann nichts dafür. Er war nicht zu bremsen!", entschuldigte sich Mrs. Gabriel atemlos und wies auf den General. „Er kam in die Klasse gestürmt und schrie herum. Ich hab´ ihm gesagt, dass ich nichts weiß und dass er sich an den Rektor wenden soll. Als er den Raum verließ, muss er sie beide hier gehört haben, denn plötzlich änderte er die Richtung und fing wieder an zu toben.“

   Aus den Augenwinkeln registrierte Marc, dass sich jetzt zu allem Unglück auch noch die Schüler der Oberstufe langsam näherten und schließlich geschlossen in der Nähe stehenblieben. Klar, dachte er verbittert. Hier ist schließlich was los. So ein Spektakel will sich keiner entgehen lassen. Aber niemand will riskieren aufzufallen und zurückgeschickt zu werden. Daher lieber einen Sicherheitsabstand lassen. Er zuckte zusammen, als ihn der General unvermittelt direkt anging.

   „Du? Du bist also das kriminelle Subjekt, das meinem Sohn die Drogen verkauft hat?", brüllte er vollkommen außer sich.

   Er schoss auf Marc zu, der unwillkürlich vor dem Mann zurückwich. Im letzten Augenblick stellte sich Mr. Roscoe schützend zwischen sie.

   „Stopp!“ Der Lehrer hob gebieterisch eine Hand. „Es ist noch nicht bewiesen, dass Marc etwas damit zu tun hat. Halten Sie sich zurück.“

   Mc. Allister blitzte den Lehrer wütend an: „Ach ja, und was macht er dann hier? Warum ist er nicht bei seiner Klasse?“ Er gab Roscoe keine Chance zur Antwort. „Ich kann nur sagen, das wundert mich nicht. Wenn ich hätte raten sollen, die Wahl wäre auf niemand anderen gefallen.“

   Marc, der jetzt hinter Roscoe stand, und sich vorkam, als wäre er im falschen Film gelandet, lachte leise, doch er hörte selbst die Bitterkeit, die darin lag. Er konnte nicht sagen, woran es lag, aber irgendwie hatte sich sein zuversichtliches Gefühl verflüchtigt und einer gewissen Panik Platz gemacht.

   Einer grundlosen Panik, versuchte er sich selber einzureden. Bleib ruhig, dir kann nichts passieren. Gleich wird sich das alles hier in Wohlgefallen auflösen.

 

34. Kapitel

 

   „Ja, lach nur, du Mistkerl! Ich wusste schon immer, dass du Dreck am Stecken hast!"

   Suzanne beobachtete zutiefst bestürzt, wie der General die Nerven verlor und wieder Anstalten machte, auf Marc loszugehen. Sie versuchte das Geschehen einzuordnen, aber damit hatte sie massive Probleme. Was sollte das Gerede über Drogen? Und was hatte Marc damit zu tun? Ein Blick in sein Gesicht zeigte ihr allerdings, dass die Lage ernst war und dass er sich dessen absolut bewussst war. Irgendwie tat er ihr leid.

   „General, halt! Hören Sie auf damit!" Roscoe packte den Mann hart am Arm und hielt ihn zurück. „Etwas leiser bitte, wir haben noch andere Klassen hier, die gerade Unterricht haben. Außerdem steht hier vorläufig immer noch Aussage gegen Aussage."

   „Was wollen Sie damit andeuten“, fauchte Mc. Allister völlig außer sich. „Ich warne Sie, wenn Sie damit…“

   „Marc hat sich freiwillig bereit erklärt, mir sein Spind zu zeigen", fiel Roscoe dem General rigoros ins Wort. „Lassen Sie mich zuerst dort nachschauen. Vielleicht sehen wir ja danach schon klarer."

   „Lassen Sie sich nicht aufhalten!", schaubte der General immer noch wütend, aber wenigstens etwas gemäßigter. „Ich bin sehr gespannt.“

   Der Tross hatte Marcs Spind erreicht und blieb im Halbkreis davor stehen. Marc warf einen letzten Blick in die Gesichter der Umstehenden, bevor er mit den Achseln zuckte, sich umdrehte, das Schloss öffnete und mit einer Hand die Tür weit aufstieß, während er gleichzeitig zwei Schritte zur Seite trat. „Da, bitte. Überzeugen Sie sich selbst. Der gute Ben leidet unter Hirngespinsten."

   Der General trat vor, doch Marc trat ihm entschlossen in den Weg. Es schien im egal zu sein, ob der Mann wieder auf ihn losging. „Sie nicht“, sagte er mit fester Stimme. „Das macht Mr. Roscoe, oder Niemand.“

   Suzanne ertappte sich dabei, dass sie unbewusst, wie einige andere auch, den Hals reckte, um besser sehen zu können. Für einen Augenblick lang glaubte sie, der General würde Marc beiseite schubsen, doch nach einigen Sekunden äußerst unangenehmer Stille machte er dem Lehrer sichtlich widerstrebend Platz.

   Mr. Roscoe nickte Marc zu und begann mit der Durchsuchung von Marcs Fach. Er räumte den Inhalt nach und nach auf den Boden, steckte seine Hand in das Spindinnere und tastete jeden Boden und jede Ecke genauestens ab. Oben war alles in Ordnung. Roscoe ging in die Knie und untersuchte die unteren Einlegeböden. Schließlich tastete er auch den Schrankboden intensiv ab. Suzanne dachte schon, sie hätte sich umsonst Sorgen gemacht, als der Lehrer plötzlich innehielt. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, als ein metallisches Klicken ertönte. Offenbar hatte Roscoe einen Mechanismus betätigt, der es ihm erlaubte, den untersten Boden des Spinds problemlos herauszuziehen.

   Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es. Unbewusst drückte Suzanne Marc die Daumen, als Mr. Roscoe seinen Arm erneut in den Spind steckte und jetzt angestrengt das Innere des Geheimfachs abtastete. Der Lehrer stutzte und beförderte ein Holzkästchen, etwa in der Größe einer Zigarrenkiste, hervor. Seine Mimik war alles andere als glücklich, als er sich aufrichtete. Er warf Marc einen undefinierbaren Blick zu, bevor er die unverschlossene Kiste öffnete. In deren Inneren sich mehrere Reihen säuberlich gedrehter Joints befanden. Suzanne zuckte zusammen, als sie sich unbewusst so fest auf die Lippen biss, dass es schmerzte. Roscoes tiefe Stimme durchschnitt schneidend die Stille.

   „Marc, ich fordere eine Erklärung von dir. Sofort!“

   Bislang hatte sie, trotz aller Dramatik, alles noch für einen fürchterlichen Irrtum gehalten. Doch jetzt warf Suzanne Marc einen fassungslosen Blick zu. Dabei stellte sie fest, dass er mindestens ebenso entsetzt wirkte wie sie. Unter seiner natürlichen Sonnenbräune war er einige Nuancen blasser geworden. Fahrig wischte er sich mit beiden Händen über das Gesicht und schaute mit weit aufgerissenen Augen auf den Inhalt des Kästchens in Roscoes Händen.

   „Marc? Ich warte.“

    Niemand sagte ein Wort. Plötzlich trat der General vor und versetzte Marc eine schallende Ohrfeige. Für eine Sekunde lang sah es so aus, als wolle der sich zur Wehr setzen, doch dann spielte überraschend ein zynisches Lächeln um seine Lippen. Er rieb sich die Wange und sagte leise. „Wow, was für ein Schmierentheater.“

   Mr. Roscoe blickte ihn sehr ernst an: „Ich wünschte, das wäre es. Aber leider, ist es alles andere als das. Ich warte immer noch.“

   Marcs Kopf fuhr herum und er schob angriffslustig das Kinn vor. „Verdammt noch mal, was wollen Sie denn hören? Das ich es war? Eine andere Antwort kommt doch für Sie alle gar nicht in Betracht. Tut mir leid, aber bei dieser Farce spiele ich nicht mit."

   „Das solltest du aber."

   „Wozu? Für´s Protokoll? Sparen Sie sich die Zeit. Hier ist doch alles längst entschieden."

   „Du solltest mich besser kennen. Sag uns einfach, was du über die Sache weißt. Wir werden die Umstände prüfen und..."

   „Was gibt´s denn da noch zu prüfen? In meinen Augen liegt die Sache klar auf der Hand!", fuhr ihm der General ins Wort.

   „General Mc. Allister! Bitte!" Mr. Roscoe fuhr den aufgebrachten Mann scharf an. „Zum letzten Mal: Halten Sie sich zurück! Wir sind nicht auf der Basis! Das hier ist mein Ressort! Was tun Sie eigentlich noch hier? Warum sind Sie nicht längst bei Ihrem Sohn?"

   Der General schluckte zweimal deutlich sichtbar, hielt aber angesichts der kaum versteckten Unterstellung überraschend den Mund. Mr. Roscoe wandte sich an Marc.

   „Du solltest etwas kooperativer sein. Das ist kein Spaß. Marc, ist dir eigentlich klar, dass ich die hiesige Polizei über den Fall informieren muss."

   „Tun Sie, was Sie tun müssen", antwortete Marc seltsam tonlos. Suzanne befürchtete angesichtes seines emotionslosen Tonfalls, dass er irgendetwas ausbrütete.

   „Gut, ich habe verstanden.“ Roscoe nickte frustriert. „Du willst uns nicht helfen, die Sache aufzuklären. In dem Fall werden wir eben versuchen müssen, selber Licht ins Dunkel zu bringen. Wir werden Erkenntnisse und Fakten sammeln. Ich denke, in etwa zwei Wochen sind wir dann soweit, dass wir eine erste Anhörung einberufen. Vielleicht können wir bis dahin die Polizei außen vor lassen. Verstehst du, Marc: Keine Anklage, keine Verhandlung – eine Anhörung.“

   „Ich bin nicht taub."

   „Lächerlich", murmelte der General vor sich hin und erntete dafür erneut einen strafenden Blick von Mr. Roscoe.

   „Bis dahin muss ich dich allerdings vom Unterricht suspendieren."

   „Nicht nötig.“ Marc hob den Kopf und fixierte seinen Lehrer. In seinem Blick lag eine Entschlossenheit, die Suzanne plötzlich Angst machte. „Sie können mich genausogut direkt feuern! Ach was, vergessen Sie´s. Nicht nötig.“ Er bückte sich und stopfte wahllos einige seiner aus dem Spind geräumten Sachen in seinen Rucksack. Als dieser voll war, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. „Das war´s. Freuen Sie sich, Sie sind mich los. Freiwillig setze ich hier keinen Fuß mehr rein.“ Er drehte sich um, schulterte seinen Rucksack und ging mit langen Schritten davon. Kurz vor der Zwischentür warf er noch einen Blick über die Schulter zurück. „Bevor ich´s vergesse: Den Rest von meinen Sachen könnt ihr behalten. Wer weiß, vielleicht findet ihr ja noch irgendwas, das sich gegen mich verwenden lässt. Viel Glück dabei.“ Er hob eine Hand, winkte kurz, stieß mit der anderen die Tür auf und verschwand gleich darauf um die nächste Ecke in einen anderen Korridor.

**********

   Ein paar Sekunden lang war es totenstill. Dann wurde unterdrücktes Gemurmel laut. Suzanne blickte sich verstohlen um. Dem Mienenspiel der anderen nach zu urteilen, war sie mit Sicherheit nicht die Einzige, die das Geschehen nicht fassen konnte. 

   Die Verbindungstür fiel mit einem lauten Knall zu und das Geräusch, das die schwere, feuerhemmende Metalltür dabei verursachte, hörte sich an, wie eine kleine Explosion. Suzanne zuckte zusammen und im nächsten Augenblick gleich noch einmal, als General Mc. Allister wieder lospolterte.

   „Nennen Sie das Autorität?“, fuhr er Mr. Roscoe scharf an. „Das ist ja lachhaft. Wenn Ihre Kollegen die gleiche Einstellung haben, dann wundert mich hier nichts mehr. Zu Ihrer Information: Ich werde jetzt ins Büro des Rektors gehen, meinen Sohn abholen und mit zur Basis nehmen. Ben hat Ihnen bereitwillig weitergeholfen. Dank ihm wissen Sie nun, wer für das Drogenproblem hier verantwortlich ist. Ich sehe daher keinen Grund für eine Suspendierung und Ben wird morgen wieder zur Schule kommen. Eins dürfen Sie mir allerdings glauben. Wenn ich eine andere Möglichkeit sähe, würde ich sie liebend gerne wahrnehmen.“

   Suzanne beobachtete, wie der Lehrer kurz mit sich rang. Sie wartete sehnsüchtig auf seine Antwort; baute fest darauf, dass Mr. Roscoe den General ein weiteres Mal in die Schranken weisen würde. Eine Hoffnung, die sich allerdings gleich darauf zerschlug. 

   „Ich sehe nichts, was dagegen spricht“, antwortete Roscoe mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er Zahnschmerzen. „Das letzte Wort hat da natürlich der Rektor, aber ich bin sicher, er wird das genauso sehen.“

   Diese Worte brachten bei Suzanne das Fass endgültig zum überlaufen. „Das können Sie nicht machen", platzte es laut aus ihr heraus. Sie ignorierte Toms warnenden Rippenstoß und auch die Tatsache, dass sie plötzlich von allen angestarrt wurde. „Was denn? Findet ihr das etwa nicht ungerecht!", ereiferte sie sich. „Ben hängt da offensichtlich genauso drin. Ich nehme an, dass er gekifft hat und dass ihm davon so schlecht ist. Was ist los mit euch? Fragt sich denn verdammt noch mal niemand, woher er das Zeug hat?“ Sie schaute sich angriffslustig um und ihre Blicke fielen auf ausnahmslos betretene Mienen. „Oh, bitte“, stieß sie empört hervor. „Ihr glaubt doch wohl nicht etwa, dass er mit Marc gemeinsame Sache macht? Nicht Ben. Nie und Nimmer. Nein, wenn Marc suspendiert wird, dann muss Ben genauso bis zur Anhörung suspendiert werden.“

   Mit wenigen Schritten überbrückte der General die Distanz zwischen sich und Suzanne. Er schoss förmlich durch den Flur und unwillkürlich wich sie, wie wenige Minuten zuvor auch Marc, ein Stück weit vor dem wütenden Mann zurück.

   „Was ist? Werden Sie mich jetzt auch schlagen?", fauchte sie trotzdem mit kämpferisch vorgerecktem Kinn.

   „Nein, um Gottes Willen, Kind. Ich wollte dir nur sagen, dass ich deinen ausgeprägten Gerechtigskeitssinn ehrlich bewundere, aber bei..." Er stockte und tat so, als suche er nach dem richtigen Namen.

   „Tun Sie nicht so. Er hat einen Namen – er heißt Marc!", schleuderte Suzanne ihm aufgebracht entgegen.

   „Marc, ach ja, richtig. Also, bei diesem Marc ist er nicht angebracht, dein Gerechtigkeitssinn. Er hat doch praktisch schon alles zugegeben. Du warst dabei – du hast es selbst gehört."

   „Alles eine Frage der Wahrnehmung. Ich habe lediglich mitbekommen, dass er sich nicht verteidigt hat.“ Suzanne drehte sich zu Tom und den anderen um und fuhr vorwurfsvoll fort: „Wozu auch? Er hat sicher auch bemerkt, dass sogar seine sogenannten Freunde an ihm zweifeln. Er stand hier eben nicht als Angeklagter, sondern von vorneherein als Verurteilter."

   „Du lieber Himmel, der Junge muss dir ja viel bedeuten", meinte der General väterlich mitleidig und tätschelte leicht ihren Arm.

   „Kommen Sie mir bloss nicht auf die Tour", antwortete Suzanne verächtlich und schüttelte die unwillkommene Hand ab. „Seitdem ich hier bin stelle ich immer wieder fest, dass hier mit zweierlei Massstäben gemessen wird. Schon komisch, wenn mir das bereits nach ein paar Wochen auffällt, dann müßtet ihr alle das eigentlich längst bemerkt haben. Und was tut ihr dagegen? Nichts!"

   Alle Anwesenden wirkten zumindest betroffen. Außer vielleicht der General, dessen Miene drückte eher Befriedigung aus.

   Suzanne blickte sich kampfbereit um. „Das darf doch nicht wahr sein! Und da wundert ihr euch, dass hier nichts zusammenläuft?"

   „Sag mal, kann es sein, dass er dir vielleicht auch mal was angeboten hat?", stellte der General jetzt süffisant in den Raum. „Mädchen, wenn du vielleicht ein schlechtes Gewissen hast, dann..."

   „Kümmern Sie sich nicht um mich", schrie Suzanne erbost und fragte sich im gleichen Augenblick, woher sie den Mut nahm, so mit dem General zu reden. „Kümmern Sie sich lieber um ihren Sohn!"

   „Suzanne!", mischte sich Mr. Roscoe jetzt scharf ein. „Du vergreifst dich im Ton. Solltest du tatsächlich etwas wissen, wäre es sicher besser…"

   Suzanne spürte, wie sich daraufhin ihre Selbstbeherrschung verabschiedete, doch in diesem Moment war es ihr egal. „Klar weiß ich was darüber! Ich werde ihnen sagen, was ich weiß. Ich war´s. Ich hab´s getan. Ich habe Ben zum Kiffen verführt. Und nicht nur ihn. Nein, ich bin ein ganz besonders schlimmer Finger und hab´ die Joints verteilt wie … ach, was weiß ich. Marc habe ich reingeritten, indem ich meine Vorräte in seinem Spind versteckt habe. Ohne sein Wissen, vesteht sich. Wollen Sie wissen, wie ich das Zeug hierher bekommen habe. Meine Koffer waren voll davon.“ Sie kicherte und registrierte nebenbei, dass sie sich leicht hysterisch anhörte. „Es war so leicht. Als Tochter einer Diplomatin genieße ich nicht nur Immunität. Bei Reisen sind die Gepäckkontrollen äußerst lasch. Das habe ich ausgenutzt und bei meiner Einreise jede Menge Drogen mit ins Land gebracht. Na ja, und jetzt verkaufe ich sie peu a peu an meine Mitschüler! So, was sagen sie jetzt?!" Etwas atemlos beendete sie ihre flammende Rede und blitzte abwechselnd den General und ihren Lehrer an.

   Für einen Moment lang herrschte Totenstille.

   „Suzanne, beruhige dich. Du weißt ja nicht mehr, was du redest.“ Mr. Roscoe war der Erste, der schließlich leise wieder das Wort ergriff.

   „Oh doch, das weiß ich sogar sehr gut. Tatsächlich weiß ich aber gar nichts über diese Drogen. Weder, wo sie herkommen, noch, wie das alles zusammenhängt. Leider. Es war alles gelogen. Von A bis Z nur ausgedacht. Doch es hätte durchaus so sein können und das ist der Punkt. Bei mir setzt man voraus, dass ich nichts damit zu tun habe. Warum? Mit welcher Berechtigung? Bin ich vielleicht ein besserer Mensch? Nein, bestimmt nicht. Also, warum ist das bei Marc oder irgendeinem x-beliebigen Afrikaner anders? Schon mal drüber nachgedacht, dass womöglich Ben, der Sohn des großen und ach so mächtigen Generals, gerade alles daran setzt, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und dabei nicht davor zurückschreckt, andere zu verdächtigen?“ Sie holte einmal tief Luft. „Ich werde mit meiner Mutter über alles sprechen. Ich bin mir sicher: Sie wird nicht nur eine Anhörung verlangen. Sie wird umfassende Ermittlungen einleiten. Eine richtige Untersuchung veranlassen! Sie wird dafür sorgen, dass diese ganze Scheiße lückenlos aufgeklärt wird."

   Immer noch emotional total aufgewühlt drehte sie sich um und bahnte sich einen Weg aus der Runde. Im Weggehen hörte sie noch wie Mr. Roscoe sagte:

   „Okay, Leute, das war's für heute. Die Show ist vorüber. Geht nach Hause. Für heute ist der Unterricht beendet. General, ihr Sohn wartet.“

 

35. Kapitel

 

  „Verdammte Scheiße.“ Immer noch aufgebracht strich sich Suzanne die Haare aus dem Gesicht und starrte wütend auf ihren platten Hinterreifen. „Das hat mir gerade noch gefehlt.“ Sie holte das Rad aus dem Ständer und kramte in ihrem Rucksack nach der Luftpumpe.

   „`N starker Auftritt war das eben.“

   Sie schaute auf. Tom stand schräg hinter ihr und musterte sie nachdenklich. Ein Blick auf den Haupteingang zeigte ihr, dass nach und nach immer mehr Schüler der Oberstufe das Schulgebäude verließen.

   „Roscoe hat uns frei gegeben“, erklärte Tom.

   „Toll, damit erspart er mir das Blaumachen“, kommentierte sie, während sie die Grüppchenbildung auf dem Schulhof verstimmt beobachtete. Offenbar wurde dort jetzt wild über das Geschehen diskutiert. „Und? Wer ist jetzt Gesprächsthema Nr. 1. Ben, Marc oder ich?“

   „Keine Ahnung“, antwortete Tom. „Ich bin gleich hinter dir raus und hab´ nach dir gesucht. Können wir kurz reden?“

   Suzanne verzog das Gesicht. „Eigentlich ist mir gerade nicht nach reden zumute. Ich finde, ich habe vorhin genug gesagt.“

   „Bitte. Es dauert nicht lange.“

   „Okay, gut. Aber zuerst beantwortest du mir eine Frage. Warum hast du mich eben nicht unterstützt? Ich dachte immer, Marc wäre dein Freund?"

   Tom nickte. „Ist er auch."

   „Wow, gratuliere. Das kannst du aber gut tarnen."

   „Das verstehst du nicht."

   „Dann erklär es mir", verlangte Suzanne energisch. Plötzlich kam ihr ein äußerst unwillkommener Gedanke. „Oder ist an dieser Sache etwa doch was dran? Na los, raus mit der Sprache. Was weißt du?"

   „Gar nichts", antwortete Tom zu ihrer Erleichterung. „Zugegeben, Marc verhält sich manchmal wie ein Sonderling, aber Drogen? Nein, das kann ich mir bei ihm nicht vorstellen."

   „Warum hast du dann da drinnen nicht wenigstens gezeigt, dass du auf seiner Seite bist? Du hast ihn ihm Stich gelassen. Genauso wie Roscoe, dieses Weichei. Warum suspendiert er nur Marc? Fair wäre es gewesen, beide bis zur Anhörung zu suspendieren. Ben und Marc.“

   „Ja, da hast du sicher recht. Aber Roscoe musste eine politische Entscheidung treffen."

    Suzanne riss die Augen auf. „Wie bitte?"

   „Hör zu: Du weißt doch sicher, dass der General bei deiner Mutter Geld für den Ausbau der Basis loseisen will?“

   „Tom, jeder weiß das.“ Suzanne wurde langsam ungeduldig. „Und? Was hat das mit Marc zu tun? Gut, sein Vater will auch Geld für seine Station aber ich seh´ jetzt echt nicht, wo da der Unterschied ist?"

   Ihr Klassenkamerad legte den Kopf schief und zog vielsagend seine Augenbrauen hoch. „Ganz einfach: Marcs Vater will keine Schule bauen."

   „Was?" Suzanne fiel siedendheiß ein, was ihre Mutter ihr über die Pläne des Generals erzählt hatte. „Du meinst…“

   Tom nickte zustimmend: „Genau. Du kannst das nicht wissen, aber General versucht schon seit Jahren eine Schule auf der Basis einzurichten. Die wäre dann natürlich nur für die Kids der Militärangehörigen. Wenn er das durchkriegt wäre diese Schule hier…“ Er wird mit dem Daumen nach hinten über die Schulter. „…gestorben. Es blieben einfach zu wenige Schüler übrig. Die nächste Schule ist aber zu weit entfernt. Somit blieben die meisten von uns Afrikanern auf der Strecke. Roscoe weiß das natürlich und daher versucht er den General bei Laune zu halten; besonders, wenn es um unsere High-School geht.“

   „Wenn du mich fragst, ist das ein Grund mehr Beweise zu finden, dass Marc mit dieser Drogengeschichte nichts zu tun hat. Wenn der General auf diese miese Tour versucht die Einheimischen von den Amerikanern zu trennen, dann sollten wir doch alles daran setzen, ihm zu zeigen, dass ..."

   Tom schüttelte den Kopf. „Mein Vater sagt immer, dass es ist nicht gut ist, sich gegen den General zu stellen. Der Mann hat viel Einfluss. Was wäre zum Beispiel wenn sich bei der Anhörung herausstellen sollte, dass Marc doch nicht so unschuldig ist, wie er sagt...?"

   „Ja, aber… Tom, ich versteh´ dich nicht“, fuhr Suzanne entrüstet auf. „Du hast doch eben selber gesagt..."

   „Ich hab´ dir gesagt, was ich glaube. Aber was ist, wenn es sich nicht so einfach beweisen lässt? Denk mal drüber nach.“

   „Ganz einfach: Dann gilt im Zweifel für den Angeklagten."

   „Glaubst du das im Ernst? In Washington vielleicht, aber hier?"

   Der Groschen fiel und Suzanne schwieg betroffen.

   „Siehst du, jetzt hast du´s begriffen“, nickte Tom befriedigt. „Politik ist gar nicht so einfach, was?"

   „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass meine Mutter dem General Geld für den Bau einer Schule bewilligt", beharrte Suzanne.

   „Vielleicht hast du recht. Vielleicht auch nicht." Tom klang nicht überzeugt. „Sieh mal, es ist so: Unser Volk ist immer noch ziemlich abergläubisch. Mein Vater wird garantiert von mir verlangen, dass ich mich von Marc fernhalte bis sich alles geklärt hat. Den Ball flach halten, nennt man das wohl bei euch.“

   „Verdammt! Was, wenn der Vorwurf sich nun tatsächlich nicht aufklären lässt? Dein Vater kann doch unmöglich von dir verlangen, dass du deinen besten Freund einfach so fallen lässt, ihn aufgibst."

   „Ich nehme zurück, was ich eben gesagt habe. Du versteht offenbar immer noch nicht richtig.“ Tom zuckte mit den Schultern. „Für die Amerikaner ist Marc einer von uns. Was immer er getan hat, oder noch tun wird, fällt auf unser Volk zurück. Im Moment können wir uns nur von ihm fernhalten, wenn wir nicht wollen, dass er unserem Volk noch größeren Schaden zufügt, als womöglich schon entstanden ist. Du hingegen, du bist eine Art Wandlerin zwischen den Welten…“

   „Oh, nein. Komm´ schon, hör´ auf damit“, fauchte Suzanne, als sie verstand, worauf Tom hinauswollte. „Willst du mir damit sagen, dass es allein an mir liegt, Marc zu helfen? Dass ich allein für ihn kämpfen soll? Mal ganz davon abgesehen, dass er sich von mir gar nicht helfen lassen wird ... wie stellst du dir das vor?"

   „Keine Ahnung.“ Tom hielt inne und schien zu überlegen, was er sagen sollte. „Weißt du, manchmal spüre ich Verbindungen zwischen Menschen, noch bevor die sie selber spüren und bei euch beiden spüre ich ganz deutlich, dass da irgendetwas zwischen euch ist.“ Sein ansonsten immer so fröhlicher, verschmitzter Gesichtsausdruck war gänzlich verschwunden und er wirkte plötzlich sehr ernst und erwachsen. „Marc lacht mich immer aus, wenn ich von den Göttern anfange, aber wer weiß, vielleicht bist du gerade deswegen hier. Um ihm aus dieser Klemme zu helfen. Suzanne…“ Er stockte und suchte erneut kurz nach Worten. „…was ich damit sagen will ist, dass möglicherweise derzeit du die einzige Person bist, die Marc helfen kann. Die Entscheidung liegt natürlich bei dir. Wenn du das Gefühl hast, das er ein Freund ist, oder auch nur, dass er einer werden könnte … dann solltest du ihm helfen. Egal wie.“

   „Großartig!" Suzanne seufzte und musste prompt daran denken, wie Marc ihr völlig uneigennützig zu Hilfe gekommen war. Trotz ihres zur Schau getragenen Zynismus, fühlte sie sich merkwürdig berührt und nickte versonnen. „Ganz großartig. Ich wiederhole meine Frage: Eine Idee, wie ich das anstellen könnte, hast du nicht zufällig parat, oder?“

   „Nein, leider nicht.“ Tom grinste schief. „Ich finde aber, den Anfang hast du eben schon mal gut hinbekommen.“

   „Ach ja, findest du?“

**********

   Nach und nach bekam Marc wieder einen klaren Kopf. In der Schule war er längst nicht so ruhig gewesen, wie es den Anschein gehabt hatte und es hatte ihn alle Beherrschung gekostet, nicht auf den General loszugehen. Nach seinem überstürzten Abgang, am ganzen Körper zitternd und innerlich so aufgewühlt wie noch nie zuvor in seinem Leben, war er erst einmal eine Zeitlang mit seinem Motorrad blindlings und ziellos durch die Gegend gerast. Es tat gut, sich einfach nur dem Fahrtwind auszusetzen und über Nichts nachdenken zu müssen.

   Jetzt, wo er langsam wieder ruhiger wurde, drosselte er das Tempo und versuchte, die Geschehnisse einigermassen nüchtern zu analysieren.

   Irgendjemand hatte mit Erfolg versucht ihn reinzulegen, soviel war klar. Er konnte sich auch schon in etwa denken, wer dahintersteckte. Ben! Wer außer dem vorherigen Besitzer hätte von dem doppelten Boden in seinem Spind wissen können? Er hatte es ja nicht einmal selbst gewusst. So weit, so gut. Die Sache hatte nur einen eklatanten Haken: Er hatte nicht den Hauch eines Beweises für seine Vermutung.

   Wenn er an die Mienen seiner Klassenkameraden dachte, wurde seine Kehle eng. Die Gesichter der Amerikaner hatten ihm ganz eindeutig „schuldig“ entgegen geschrien und das Mienenspiel von Tom und seinen anderen Freunden sprach Bände. Die meisten hatten ihre Augen schnell schuldbewusst zu Boden gesenkt, um nur ja nicht in Blickkontakt mit ihm zu geraten. Tom war der Einzige gewesen, der seinen Blicken standgehalten hatte. Zerknirscht der Gesichtsausdruck und in den dunklen Augen eine stumme Bitte um Verständnis.

   Ein grimmiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Verdammte Scheiße, ja. Natürlich wusste er, warum seine Freunde ihn nicht unterstützt hatten und er würde den Teufel tun, ihnen noch mehr Schwierigkeiten zu bereiten. Nichts desto trotz tat die Gewissheit, ganz alleine da zu stehen, weh. Verdammt weh sogar. So verloren hatte er sich noch nicht einmal nach dem Tod seiner Mutter gefühlt. Charlie und sein Vater waren immer für ihn da gewesen und hatten ihn mit seiner Trauer aufgefangen. Dieses Mal ging das nicht, denn er konnte sie unmöglich ins Vertrauen ziehen. Schlimmer noch: Er musste darauf hoffen, dass der Rektor seinen Vater nicht kontaktierte. Immerhin war er volljährig, er musste es also nicht tun. Aber sicher war er sich nicht, was das anging. Natürlich, irgendwann würde die Geschichte sowieso herauskommen, aber bis dahin blieb ihm hoffentlich noch ein wenig Zeit, sich einen Plan zurechtzulegen.

   Für einen kurzen Moment lang dachte er an Suzanne. Sie hatte zu den Wenigen gehört, die ihre Augen nicht gesenkt, sondern ihn direkt angeschaut hatten. In ihrem Gesicht hatte er eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Enttäuschung lesen können. Sie hatte ihn nicht direkt schuldig gesprochen, aber sie hatte an ihm gezweifelt, das war eindeutig an ihrer Miene abzulesen gewesen. Das Schlimme war, er konnte ihr das noch nicht einmal zum Vorwurf machen. Obwohl … sollte sie ihn, nachdem, was sie gemeinsam erlebt hatten, nicht inzwischen besser kennen?

   Himmel noch mal, was kümmerte es ihn eigentlich noch, was andere von ihm dachten? Die Schule konnte er getrost als abgehakt betrachten. Er hatte es ernst gemeint, dass er dorthin nicht wieder zurückkehren würde. Da er ja sowieso kein Studium mehr anstrebte, brauchte er den Abschluss auch nicht unbedingt. Er würde sich einen Job suchen und sich auf eigene Füße stellen. Das Problem war nur, dass ihm in der Stadt sicher niemand einen Job geben würde. Und jeden Tag in die nächste, oder unter Umständen sogar übernächste Stadt zu fahren, würde ihn eine Menge an Sprit kosten. Ergo brauchte er Geld. Zumindest ein bisschen als Startkapital, denn es würde sicher einige Tage dauern, bis er einen passenden Job gefunden hatte. Wenn er dann einen gefunden hatte, dann konnte er immer noch mit seinem Vater und Charlie reden. Aber zunächst einmal musste er sich eine Perspektive schaffen. Er wollte die Beiden nicht noch mehr enttäuschen als unbedingt nötig.

   Als Marc soweit mit seinen Überlegungen gekommen war, bremste er, stellte die Füße auf den Boden und schaute sich kurz um, wo er gelandet war. Überrascht stellte er fest, dass er sich ganz in der Nähe seiner privaten Spielhölle befand. Das war sicher kein Zufall. Viel eher ein Wink des Schicksals. Langsam setzte er die Maschine wieder in Bewegung und fuhr weiter. Es nützte alles nichts: Er musste versuchen, zumindest einen Teil seines Geldes zurückzugewinnen. Ewig konnte seine Pechsträhne ja nicht dauern. Für den heutigen Tag war sie sicher schon ausgereizt und vielleicht hatte er ja Glück und es war schon jemand dort.

   Vor der Bar bockte Marc entschlossen seine Maschine hoch, betrat mit energischen Schritten den und fragte die Bedienung: „Jemand da?“ Dabei wies er mit einer Hand auf die Tür zum Hinterzimmer.

   Seine Frage wurde mit einem Nicken bejaht und so ging er zielstrebig nach hinten durch. Er war schon ein wenig erstaunt, dass um diese Zeit schon Soldaten in der Bar waren, doch es war ihm nicht unrecht. Je eher er seinen Plan umsetzen konnte, desto besser. Im Moment hatte er noch nicht einmal mehr genug Kohle um seine Maschine vollzutanken. Wie zum Teufel sollte er da in die Stadt kommen, um sich einen Job zu suchen?

   Vier Soldaten saßen um den Spieltisch herum und blickten überrascht auf, als er den Raum betrat. Leider waren darunter auch seine beiden größten Gläubiger, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er musste einfach auf sein Glück vertrauen.

   „Hey, wie sieht´s aus?“, begrüßte er die vier. „Was ist los? Kein Spiel heute?“ Er wies auf den Tisch, auf dem sich lediglich Getränke befanden.

   „Wie jetzt? Keine Schule?“, fragte einer seiner Gläubiger kurz, ohne auf seine Frage einzugehen.

   Marc gesellte sich ungefragt zu den anderen an den Tisch: „Schule ist Geschichte. Damit hab´ ich abgeschlossen.“

   „Ach ja? So plötzlich? Wie kommt´s?“

   „Ist doch egal.“ Marc verzog das Gesicht. „Was ist nun? Machen wir ein Spiel, oder nicht?“

   „Willst du nicht erst mal deine Schulden bezahlen? Deine Schuldscheine häufen sich. Es wird langsam ein wenig unübersichtlich.“

   Marc spürte, wie er zu schwitzen begann, doch äußerlich blieb er cool. „Kommt schon, schreibt es weiter auf. Ihr bekommt eure Kohle schon. Nur nicht gerade jetzt.“

   Seine Tischnachbarn zuckten mit den Schultern.

   „Okay, wie du willst.“ Der Soldat griff in seine Tasche, wickelte ein neues Deck aus und legte es auf den Tisch. „Aber lange machen wir das nicht mehr mit, dass das klar ist. Du steckst inzwischen schon ganz schön tief in der Kreide, bist du dir dessen eigentlich bewusst?"

   „Klar, kein Problem", antwortete Marc ihnen so selbstsicher wie es ihm in Anbetracht der Situation möglich war. „Macht euch keine Sorgen.“

**********

   Am gleichen Nachmittag wurde Gilian Banks überraschend zur Basis gerufen. Suzanne konnte sich denken warum, doch sie hielt vorsichtshalber den Mund, in der Hoffnung, dass das Gespräch vielleicht doch ein anderes Thema hatte. Aber sie begleitete ihre Mutter, in der Hoffnung wenigstens ein paar ihrer Klassenkameraden auf ihre Seite ziehen zu können. Sie setzte da all ihre Hoffnungen auf Kimberly, die sie jedoch bitter enttäuschte, kaum dass sie das Thema aufgebracht hatte.

   „Sorry, aber Nein, ich kann dir nicht helfen.“

   „Aber wieso denn nicht?“

   „Ich kann einfach nicht", sagte Kimberly. „Ich hatte schon genug Ärger wegen dieser Sache. Versteh das doch bitte. Ben hat Roscoe und dem Rektor meinen Namen genannt. Daraufhin wurde natürlich sofort mein Dad angerufen. Was meinst du, was hier heute los war, als ich nach Hause kam? Ich hab´ Stubenarrest bis in die Steinzeit. Strenggenommen dürftest du gar nicht hier sein.“

   „Oh, Kim, das tut mir leid. Aber ich versteh´ auch nicht, wie du da mitmischen konntest?"

   Kimberly sah Suzanne, die es sich auf ihrem Bett bequem gemacht hatte, nicht in die Augen. „Ich hab's dir doch schon mal erklärt: Ich will eben dazugehören."

   „Ja, das versteh´ ich ja. Aber um jeden Preis? Sorry, aber wir reden hier über ´ne Einstiegsdroge."

   „Ja, genau. Einstiegsdroge. Ich hab´ das unter Kontrolle. Suzanne, hier draußen gibt es nichts Schlimmeres als alleine zu sein. Du bist noch nicht lange genug hier, um das zu verstehen. Aber ich fürchte, du wirst es schon bald verstehen. Du bist im Begriff, dich extrem unbeliebt zu machen und der Schuss könnte voll nach hinten losgehen. Glaub´ mir, ich meine es nur gut mit dir."

   „Ganz ehrlich, ob ich unter diesen Umständen beliebt sein will, weiß ich nicht", zweifelte Suzanne. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Sag mal, hast du eigentlich wirklich keine Ahnung, woher Ben das Zeug hatte?"

   Kimberly schüttelte den Kopf. „Nein, er hat nie davon gesprochen. Von Zeit zu Zeit hatte er halt immer mal was. Das ist alles, was ich weiß.“

   Suzanne überlegte kurz und entschloss sich dann, ihren Verdacht offen auszusprechen. „Kim, was, wenn Ben selber dahintersteckt? Wenn er das alles nur inszeniert hat, um Marc eins reinzuwürgen? Ihn in Schwierigkeiten zu bringen?"

   Suzanne bemerkte mit Genugtuung, dass Kimberly wenigstens darüber nachdachte. Doch die Antwort, die sie erhielt zerstörte sofort wieder die gerade aufkeimende Hoffnung.

   „Ich denke nicht, dass Ben so blöd wäre, sich selber derartig in die Nesseln zu setzen. Warum sollte er das tun? Nein, so wichtig ist Marc ihm nicht. Ben hat jetzt selber `ne Menge Schwierigkeiten am Hals. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie der General getobt hat. Dagegen könnte man meinen Vater glatt als Waisenknaben bezeichnen. Die wohnen fünf Häuser weiter und den Krach konnte man bis hierhin hören."

   „Ich weiß nicht, warum. Trotzdem könnte es so gewesen sein", blieb Suzanne hartnäckig bei ihrer Überzeugung, doch Kimberly schüttelte nur wiederholt mit dem Kopf.

   Suzanne gab es entnervt auf, die Freundin überzeugen zu wollen. „Okay, reden wir über etwas anderes."

   „Sehr gerne. Reden wir doch zur Abwechslung mal über dich", schlug Kimberly vor.

   „Über mich?“ Suzanne verzog amüsiert über Kimberlys Ablenkungsmanöver die Lippen zu einem Lächeln. „Was gibt's denn über mich zu reden?"

   „Oh, eine ganze Menge. Hier auf der Basis wird auf jeden Fall viel über dich geredet. Besonders seit heute morgen“, schloss Kimberly vielsagend.

   Suzanne grinste: „Ja, ich gebe zu, da war ich ein wenig außer Kontrolle. Ich nehme an, der General wird sich bestimmt gleich deswegen auch bei meiner Mutter über mich beschweren."

   „Na ja, weißt du, wir fragen uns seitdem alle, warum du dich ausgerechnet für Marc so ins Zeug legst."

   „Warum? Weil ich Ungerechtigkeiten hasse." Sie musste aufpassen. Das Gespräch lief in eine Richtung, die ihr gar nicht behagte.

   „Komm schon, das ist es doch nicht alleine.“ Kimberly musterte sie streng. „Mir kannst du es doch sagen. Was läuft da zwischen euch?"

   „Nichts. – Ehrlich", fügte Suzanne hinzu, als sie Kimberly's zweifelnden Blick bemerkte. „Okay, also gut: Bevor es hier noch weitere wilde Spekulationen gibt. Marc hat mir neulich mal einen großen Gefallen getan.“

   „Wie jetzt? Marc? Dir?“ Kimberly wirkte ehrlich überrascht. „Einfach so?"

   „Ja, einfach so, ohne lange über eventuelle Folgen nachzudenken. Dafür bin ich ihm was schuldig.“

   „Und? Das ist alles?"

   „Ja, klar.“ Suzanne zuckte mit den Schultern. „Was denn noch?"

   „Nun ja, vielleicht ja… “ Kimberly machte eine Kunstpause und grinste anzüglich. „…etwas Romantisches?"

   Suzanne lachte: „Etwas Romantisches?“, wiederholte sie und kicherte erneut. „Marc Gilbert und ich? Spinnst du? Das fragst du nicht im Ernst, oder?" Als es jedoch darum ging, den kritischen Blicken ihrer Freundin standzuhalten versagte sie kläglich, und musste schließlich beschämt ausweichen. Komisch, warum schämte sie sich? Vielleicht, weil es sich so anfühlte, als hätte sie Marc gerade verraten, gab sie sich gleich darauf selbst die Antwort. Eine Antwort, die sie alles andere als glücklich machte.

 

36. Kapitel

 

 

 

   Auf dem Heimweg war Suzanne froh, dass ihre Mutter von selber auf das Thema zu sprechen kam. Die Geschehnisse in der Schule beschäftigten sie immer noch so sehr, dass sie einfach das Bedürfnis hatte, darüber zu sprechen. Doch von selber hatte sie nicht damit anfangen wollen. Aus den Augenwinkeln hatte sie bemerkt, dass ihre Mutter sie bereits einige Male nachdenklich von der Seite her gemustert hatte. Sie kannte die Vorzeichen: Lange würde sie gewiss nicht mehr warten müssen. Genauso war es auch.

 

   „Kannst du dir eigentlich denken, was der General von mir wollte?"

 

   „Hm, lass mich überlegen … vielleicht Geld?", antwortete Suzanne und grinste schief.

 

   „Das auch. Dreimal darfst du raten wofür."

 

   „Für die Erweiterung der Basis. Mam, das hatten wir doch schon alles."

 

   „Ja, aber jetzt geht es ihm plötzlich vorrangig um die Errichtung der Schule auf dem Basisgelände. Der Rest kann warten; das ist O-ton General. Sieht so aus, als hätte das Projekt blitzartig immens an Wichtigkeit gewonnen. Ich nehme an, du kannst dir denken warum?"

 

   Suzanne lachte bitter auf. „Allerdings.“

 

   „Was ist so komisch daran?", fragte ihre Mutter ernst.                       

 

   „Nichts. Gar nichts. Nur, dass ich Tom heute Mittag nicht glauben wollte. Ich dachte, er übertreibt maßlos, aber er hatte tatsächlich recht.“ Sie realisierte, dass sie sich genauso deprimiert anhörte, wie sie sich fühlte.

 

   „Suzanne, ich dachte immer, wir könnten über alles reden.“ Gilian schien die explosive Stimmung ihrer Tochter zu spüren, denn sie legte beruhigend eine Hand auf Suzannes Unterarm. „Warum hast du mir denn nicht gesagt, dass es heute in der Schule Probleme gab?“

 

   „Probleme? Ha, das ist die Untertreibung des Jahrhunderts!", schnaubte Suzanne übellaunig. Irgendwie kam es ihr im Moment so vor, als laste die Verantwortung für die Lösung des Problems alleine auf ihren Schultern.

 

   „Erzähl mal. Was war denn nun eigentlich wirklich los?"

 

   „Ich wette, das hat dir der General alles schon brühwarm berichtet."

 

   Ihre Mutter lächelte. „Du hast natürlich recht. Das hat er tatsächlich. Ach ja, über deine wenig diplomatische Art mit dem Mann umzugehen reden wir später noch. Jetzt will ich erst einmal die ganze Geschichte von deiner Warte aus hören. Und bitte möglichst unvoreingenommen."

 

„Okay, wie du willst..." Suzanne erzählte ihrer Mutter was vorgefallen war und bemühte sich, kein Dateil auszulassen. „Das ist alles was ich weiß", schloss sie schließlich matt. „Mehr habe ich nicht mitbekommen."

 

   „Das deckt sich in etwa mit dem, was mir auch der General erzählt hat.“ Gilian zwinkerte. „Ein wenig drastischer zwar und … na ja, in seinen Augen soll sein Sohn hier zum Sündenbock gestempelt werden."

 

   „Ben?!“ Suzannes Kopf flog herum. „Das ist doch lächerlich! Ben ist … er ist…!“ Suzanne biss sich auf die Unterlippe und ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen.

 

   „Was ist Ben?", hakte ihre Mutter vorsichtig nach.

 

   Suzanne zögerte mit der Antwort. „Mit Sicherheit kein Engel“, sagte sie schließlich. „Wenn hier einer zum Sündenbock gemacht werden soll, dann doch wohl eher Marc. Wenn Ben das Zeug tatsächlich von ihm gekauft haben sollte, wusste er ganz genau, was er tat. Marc dürfte ihn wohl kaum dazu gezwungen haben. Davon mal abgesehen, dass Ben sich zu nichts zwingen lässt. Von niemandem! Glaub´ mir, Mam, der weiß, was er tut. Ben mag alles Mögliche sein, aber er ist nicht dumm. Wenn er sich also zugekifft in der Klasse sehen, das quasi auch noch für alle sichtbar raushängen lässt, und den Ärger, den er damit raufbeschwört, bewusst in Kauf nimmt, dann hat er mit dieser Aktion etwas bezweckt. Das war ganz bestimmt kein Missgeschick, da steckt Kalkül hinter.“

 

   „Du meinst, er hätte das von vorneherein geplant? Ernsthaft?“

 

   Suzanne zuckte mit den Achseln: „Ach, ich weiß auch nicht.“

 

   „Gut, lassen wir Ben mal beiseite. Du hast eben gesagt, `wenn er das Zeug von Marc gekauft hat´…? Das hört sich für mich an, als gehst du auch davon aus, dass Marc Gilbert die Drogen in der Schule verkauft?“

 

   „Das habe ich nicht gesagt. Im Prinzip kenne ich beide nicht gut genug, um mir da eine Meinung bilden zu können. Beweise wären nicht schlecht."

 

   „Die gibt es aber anscheinend nicht. Noch nicht. Dass die Drogen in Marcs Spind lagerten, okay. Das ist Fakt. Aber es könnte ja sein, dass noch mehr Personen von diesem doppelten Boden wissen. Daher lege ich aktuell auch so großen Wert auf deine Meinung. Du magst die Jungs nicht gut kennen, aber allemal besser als ich.“

 

   „Mam..."

 

   „Komm schon, bitte. Es bleibt unter uns. Was sagt dein Instinkt?"

 

   „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Marc bei so etwas mitmacht", erwiderte Suzanne nach einer Pause. „Geschweige denn, dass er selber dealt.“

 

   „Das ist genau das was ich hören wollte", antwortete ihre Mutter.

 

   „Wieso?", fragte Suzanne verwundert und kam sich irgendwie ertappt vor. „Es ist nur meine Meinung, kein Beweis.“

 

   „Du hast einen gesunden Instinkt. Auf deine Menschenkenntnis kann man sich in der Regel verlassen."

 

   Suzanne stöhnte leise. „Du baust da ganz schön Druck auf, Mam. Ich kann mich schließlich auch irren."

 

   „Ich weiß, aber du hast zum Beispiel so gut wie überhaupt nichts von dem Kinobesuch mit Ben erzählt. Das fand ich schon komisch."

 

   „Muss ich denn?", wich Suzanne verlegen aus.

 

   „Nein, natürlich nicht“, erwiderte ihre Mutter lächelnd. „Ich bin sicher, dass sich bei einem Date auch gewisse Dinge abspielen, die mich nichts angehen, aber wenn so gar nichts von dir kommt und am nächsten Tag dann auch noch zufällig Marc Gilberts Motorrad bei uns im Garten steht...“ Sie streifte ihre Tochter mit einem Seitenblick. „Du musst mir schon zugestehen, dass ich mir da so meine Gedanken mache.“

 

   Suzannes Verlegenheit nahm sekündlich zu. „Mam, bitte“, murmelte sie. 

 

   „Was denn?“, grinste ihre Mutter. „Halt´ mich bitte nicht für naiv. Ich war auch mal jung. Allerdings würde es mich schon interessieren, wem…“

 

   „Schluss jetzt. Das reicht“, fiel Suzanne ihrer Mutter rigoros ins Wort. „Sag mal, wie stehst du eigentlich zu der Idee, eine Schule innerhalb der Basis einzurichten?"

 

   „Ein bisschen plump, der Themenwechsel, findest du nicht? Aber okay. Wie du wisst. Was hältst du davon?", kam prompt die Gegenfrage.

 

   „Für die Afrikaner wäre das eine Katastrophe." Suzanne erklärte ihrer Mutter kurz, was Tom ihr berichtet hatte.

 

   Die nickte. „Ja, der Bürgermeister hat mir gegenüber auch so etwas angedeutet."

 

   „Und? Was wirst du tun?"

 

   „Mach dir keine Sorgen", antwortete ihre Mutter und grinste. „Wenn der General finanzielle Mittel aus dem Topf bekommen sollte, wird er sie garantiert nicht für den Bau einer Schule auf der Basis einsetzen können. Dafür werde ich sorgen.“

 

   „Gut.“ Suzanne atmete erleichtert auf. „Das beruhigt.“

 

   „Glaub ich gerne. Aber behalt es erstmal für dich, in Ordnung? Ich will den richtigen Moment abwarten, erstmal sehen, wie sich alles weiter entwickelt.“ Gilian griff nach der Hand ihrer Tochter und drückte sie leicht. „Ich lasse mich nicht so einfach über den Tisch ziehen, wie der General glaubt. Du kannst dich auf mich verlassen.“

 

   „Mach ich.“ Suzanne erwiderte den Händedruck. „Für den Moment hatte ich wahrlich Aufregung genug.“ Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, da biss sie sich auf die Lippen. Fast hätte sie sich verraten, denn in ihrem Blickfeld lagen da natürlich ihre verkorkste Feier, das völlig aus dem Ruder gelaufene Date mit Ben, der Überfall auf dem Heimweg, die Rettungsaktion durch Marc und alles, was damit in Zusammenhang stand, während ihre Mutter selbstverständlich nur die Geschehnisse heute in der Schule im Auge hatte. Und mit denen hatte sie ja unmittelbar noch nicht einmal etwas zu tun gehabt. Der Blick ihrer Mutter sprach Bände, doch sie äußerte sich erst einmal nicht dazu.

 

   Stattdessen sagte sie: „Übernächstes Wochenende hören wir uns erst mal in aller Ruhe an, was Mr. Gilbert zu sagen hat. Wir mussten den Termin leider heute um eine Woche verschieben, da Mr. Gilbert überraschend etwas dazwischen gekommen ist. Danach, wenn ich mir die Station angesehen habe, werde ich Entscheidungen treffen. Die Mittel, die mir zur Verfügung stehen sind leider begrenzt. Fakt ist, dass ich definitiv kein Geld für eine neue Schule auf der Basis bewilligen werde, wenn es hier in der Stadt eine gibt, die vom Platz her völlig ausreicht und in Ordnung ist. Auch wenn der General das Geld selbstverständlich schon fest eingeplant hat.“

 

   „Selbstverständlich“, betonte Suzanne ironisch, was ihre Mutter leise kichern ließ. „Lach nicht. Ich frage mich, woher der General überhaupt weiß, was dir an Geldern zur Verfügung steht?"

 

   „Oh, er wird nicht müde, immer wieder seine guten Beziehungen in Washington zu betonen."

 

   „Schade nur, dass er nicht weiß, dass du dich davon überhaupt nicht beeindrucken läßt", grinste Suzanne.

 

   Ihre Mutter seufzte tief.

 

   „Mam? Das tust du doch nicht: Oder?" Suzanne zog die Augenbrauen hoch und musterte Gilian streng.

 

   „Nein, bestimmt nicht. Aber ich fürchte, es wird gar nicht so leicht sein, den General davon zu überzeugen, dass ich auch etwas zu sagen habe."

 

   „Nicht Etwas. Eine ganze Menge“, verbesserte Suzanne mit Nachdruck. „Zeigs ihm. Ich bin überzeugt, du schaffst das.“

 

**********

 

   Seit einer guten Woche war der Club mehr oder weniger zu Marcs zweitem Zuhause geworden. Das Pech klebte ihm zwar nach wie vor an den Fingern, doch wohin hätte er sonst gehen sollen? So bewegte er sich ständig in einem Zustand zwischen tiefer Niedergeschlagenheit, der Angst aufzufliegen oder den Überblick zu verlieren, und einer geradezu verzweifelten Hoffnung, an die er jedes Mal fast panisch klammerte, wenn er wieder einmal einen neuen Schuldschein unterschrieb.

 

   Das einzig positive an seiner Situation war, dass die Schule sich bislang tatsächlich noch nicht an seinen Vater gewandt hatte. Inzwischen glaubte er auch nicht mehr daran, dass von dieser Seite noch etwas kam.

 

   Er hatte es sich angewöhnt, die Station morgens zur gewohnten Zeit zu verlassen … nur, dass er statt in die Schule, direkt in den Club fuhr. Wenn er daheim geblieben wäre, hätte sein Vater Verdacht geschöpft, und in der Stadt konnte er sich schlecht sehen lassen. Den ganzen Tag bei sengender Hitze durch den Busch zu streifen war auch nicht gerade etwas, das die Stimmung hob.

 

   So gesehen war der Club die beste Möglichkeit für ihn, während der Schulzeit von der Bildfläche zu verschwinden. Er wusste inzwischen auch, dass dort immer irgendjemand von der Basis anzutreffen war, selbst am frühen Vormittag. Die anwesenden Soldaten mussten sich zwar nach ihren Schichtplänen richten, doch inzwischen kannte er längst alle. Am meisten hatte er jedoch nach wie vor mit Mitch und Scott zu tun, die beiden, die ihn seinerzeit auch zum Spielen eingeladen hatten. Für den Fall, dass einmal keiner von beiden anwesend war, hatten sie zusätzlich einen Kollegen instruiert, wie mit Marc und seinen Spieleinlagen ohne Geld und mit seinen Schuldscheinen umzugehen war.

 

   Natürlich verlor er nicht immer. Hier und da gewann er auch schon mal eine Runde oder auch zwei. Das waren dann die seltenen Momente, in denen er sofort wieder Hoffnung schöpfte. Doch egal, wie er es drehte und wendete. Seine Schuldscheine summierten sich weiter unaufhörlich. Gott sei Dank hatten Mitch und Scott das Problem seit einer Woche nicht wieder angesprochen. Lange würden sie die Füße sicher nicht mehr still halten, da machte er sich nichts vor. Mit dieser Vermutung lag er richtig.

 

   Am darauffolgenden Donnerstag war es soweit!

 

   Als er sich einmal mehr resigniert auf den Heimweg machen wollte, traf er im vorderen Teil der Bar mehr zufällig auf Mitch und Scott, die an einem der alten Holztische saßen und offenbar etwas zu besprechen hatten.

 

   „Hey, Sonnyboy, wart´ mal“, rief Mitch ihm zu und gab der Bedienung einen Wink. „Hey, bring unserem Freund hier auch einen Drink."

 

   „Nein, lass. Ich will nichts.“ Marc lachte bitter. „Ich will nicht auch noch zum Zechpreller werden.“

 

   „Quatsch, das geht auf uns. Du bist eingeladen. Nun komm´ schon her.“

 

   Zögernd setzte Marc sich zu den Soldaten an den Tisch. „Wie komme ich zu der Ehre?", erkundigte er sich misstrauisch. Nicht zu Unrecht, wie sich gleich darauf herausstellte.

 

   „Tja, was glaubst du wohl?“ Mitch kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und warf Marc einen kritischen Blick zu. „Wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten … über deine Schuldscheine.“

 

   Marc schwieg und studierte angelegentlich das zerkratzte Holz der Tischplatte. Scheiße, das musste ja mal kommen. Er hatte allerdings nicht die geringste Ahnung, wie er aus der Nummer rauskommen sollte.

 

   „Hast du dir inzwischen mal Gedanken gemacht, wie du deine Schulden zurückzahlen willst? Wir können dir schließlich nicht unbegrenzt Kredit geben. Wir haben schließlich auch unsere Ausgaben und deine Summe auf der Sollseite wächst langsam ins Uferlose."

 

   Marc schwieg immer noch.

 

   „Hast du etwa geglaubt, wir spielen hier `Monopoly'?", frotzelte Scott, womit er sich einen warnenden Seitenblick von Mitch einhandelte. Marc hatte schon häufiger festgestellt, dass Mitch der Wortführer war.

 

   „Quatsch, ich hab´ doch gesagt, ihr bekommt euer Geld." Er hatte beschlossen, dass es besser war, etwas zu sagen, bevor Scott Mitch noch mehr auf die Palme brachte. Dessen Aufmerksamkeit konzentrierte sich sofort wieder auf ihn.

 

   „Wann, Marc?“, fragte er scharf. „Wann?“

 

   „Bald. Die Zeiten sind hart. Im Moment ist´s gerade ein bisschen ungünstig, aber ihr bekommt es bald. Ich versprech´s.“

 

   „Ja, wir haben schon gehört, dass bei euch auf der Station bald die Lichter ausgehen. Genau das macht uns ja Sorgen. Okay, hör zu: Wir wollen dir ein Angebot machen. Schließlich sind wir keine Unmenschen."

 

   Marc blickte interessiert auf. „Ein Angebot? Welcher Art?"

 

   „Wir haben gehört, dass ihr dieses Wochenende da draußen hohen Besuch erwartet. Die Botschafterin mit ihrer hübschen Tochter, stimmt's?"

 

   „Ja, stimmt.“ Marc zuckte mit den Achseln. „Und?"

 

   „Du und dieses Mädchen, ihr kennt euch doch aus der Schule, oder?"

 

   „Flüchtig. Wir gehen in dieselbe Klasse.“ Marcs Misstrauen war geweckt. „Worauf wollt ihr hinaus?"

 

   „Na ja, was hältst du davon, dem Mädel mal etwas die Gegend zu zeigen? Lad´ sie spontan zu einer Safari ein und fahr mit ihr raus. Sie wird bestimmt mitkommen. Den Rest kannst du getrost uns überlassen."

 

   „Was soll der Quatsch? Wovon redet ihr? Welchen Rest?“

 

   „Das kann dir egal sein. Deine Aufgabe ich es nur, sie zu einem Ausflug in den Busch zu überreden. Mehr musst du nicht wissen.“

 

   „Ach ja? Und ihr übernehmt sie dann, oder wie hab´ ich mir das vorzustellen?“ Marc blickte von einem zum anderen. „Was soll das werden? Eine Entführung?“

 

   Als die beiden Soldaten daraufhin schwiegen, begriff Marc mit einem Mal und blickte seine Gegenüber entsetzt an. „Ihr seid verrückt!"

 

   „Keineswegs“, antwortete Mitch gefährlich ruhig.

 

   „Wie stellt ihr euch das vor? Ich liefere euch Suzanne auf dem Präsentierteller und dann hau´ ich wieder ab, oder wie?"

 

   „Ganz einfach: Du bringst sie an einen vorher vereinbarten Treffpunkt. Dort überredest du sie zu einer Pause. Das Einzige, was du zu tun hast, ist uns einen Funkspruch zu schicken, dass ihr angekommen seid und dann die Zeit zu überbrücken, bis wir vor Ort sind. Ich schätze, da fällt dir was ein.“ Mitch grinste anzüglich und machte eine eindeutige Handbewegung. „Bei so einer geilen Schnecke dürfte das doch kein Problem sein, oder?“

 

   „Sie ist keine geile…“ Marc unterbrach sich und fuhr sich mit beiden Händen über den Kopf. „Verdammte Scheiße, ihr tickt doch nicht sauber!"

 

   „Ich würde an deiner Stelle keine voreiligen Entscheidungen treffen. Denk drüber nach: Mit einem Schlag alle Schulden getilgt, und unterm Strich bliebe bestimmt noch was für dich übrig."

 

   „Nein.“ Marcs Stimme klang fest. „Auf gar keinen Fall. Das könnt ihr vergessen! Nicht zu diesem Preis."

 

   „Mach dir keinen Kopf. Dem Mädchen wird nichts passieren."

 

   „Ja, klar.“ Marc lehnte sich zurück und strich sich erneut die Haare zurück. Scheiße, wie sollte er aus der Nummer wieder raus kommen? Ihm war klar, dass er sich auf sehr dünnem Eis bewegte. „Das sagt ihr jetzt...“

 

   „Du hast unser Wort. Wir geben dir die Frequenz und du schickst uns den Funkspruch. Irgendwas Unverfängliches. `Alles Roger' oder so. Selbst wenn sie das mitbekommen sollte, wird sie keinen Verdacht schöpfen.“

 

   „Ihr spinnt doch total!“, fuhr Marc jetzt ehrlich entrüstet auf. „Das könnt ihr doch nicht machen! Verdammt, noch mal, Wisst ihr eigentlich, was auf Entführung steht?"

 

   „Ich würd´ noch lauter schreien!", zischte Mitch. „Idiot!“

 

   „Never! Nie und nimmer mach´ ich da mit!“

 

   „Komm schon, stell dich nicht so an. Wenn wir dir bei der Übergabe eins über den Schädel ziehen bist du aus dem Schneider. Du wirst nicht in Verdacht geraten. Und was sind schon ein paar lächerliche Kopfschmerzen? Immerhin bist du danach schuldenfrei.“

 

   „Nein! Ohne mich!" Marc stand entschlossen auf. „Vergesst den Scheiß! Es ist `ne Schnapsidee.“

 

   „Okay, wie du meinst.“ Mitch richtete sich kerzengerade auf, und fixierte Marc aus zusammengekniffenen Augen. „In Ordnung. Vergessen wir es. Aber in dem Fall muss ich leider auf die Einlösung der Schuldscheine bestehen. Wir sind zurzeit selber ziemlich klamm und wir haben `ne Menge Verpflichtungen, denen wir nachkommen müssen.“ Er grinste höhnisch. „Ich bin sicher, das verstehst du, oder?“

 

   „Klar, macht euch keine Sorgen. Ich krieg's schon irgendwie zusammen", reagierte Marc trotzig, während innerlich seine Verzweiflung wuchs.

 

   „Frag doch deinen Vater, ob er dir unter die Arme greifen kann", schlug Scott vor und wollte sich über seine Bemerkung schier kaputtlachen.

 

   „Okay, ich sehe, wir haben uns verstanden.“ Mitch schrieb etwas auf einen Bierdeckel und schob diesen anschließend über den Tisch. „Hier, die Funkfrequenz. Für den Fall, dass du es dir anders überlegst..."

 

   „Da gibt es nichts zu überlegen." Marcs Stimme klang fest entschlossen.

 

   Mitch beugte sich über den Tisch, griff nach dem Deckel und steckte ihn Marc in die Brusttasche. „Denk´ in Ruhe drüber nach. Das Funkgerät wird am Samstag auf Empfang stehen. Wenn du dich nicht meldest…“ Er zuckte teilnahmslos mit den Achseln. „…erwarten wir dich spätestens Montag mit der Kohle."

 

   „Ihr seid ja komplett durchgeknallt!“ Marc stand so abrupt auf, dass der Stuhl hinter ihm umkippte. „Leckt mich!“ Mit langen Schritten verließ er die Bar und hörte noch an der Tür das Gelächter der beiden hinter sich.

 

**********

 

   Nachdem Marc die Bar verlassen hatte, sagte Scott nachdenklich: „War´n guter Plan. Schade, dass der Feigling kneift.“

 

   „Meinst du?“ Mitch grinste siegessicher. „Glaub mir, der kneift nicht.“

 

   „Du hast es doch eben mitbekommen“, widersprach Scott. „Der kippt nicht um. Was die Durchführung deines genialen Plans schwierig machen dürfte.“

 

   Mitch fingerte eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und inhalierte tief: „Der Loser steckt knietief in der Scheiße. Er hat keine Alternative und wenn er noch mal in Ruhe nachdenkt, wird er das erkennen.“

 

   „Hm, hoffentlich behältst du recht“, zweifelte Scott. „Ich hab´ meine Schwester sagen hören, dass er das Mädchen zu mögen scheint.“

 

   „Warum sollte er? Wegen neulich Nacht? Komm schon, wir wissen doch, dass der Typ keine Freunde hat. Nur weil er dem Mädchen aus der Klemme geholfen hat, muss er sie deswegen noch lange nicht mögen. Das war lediglich ein dummer Zufall. Nein, Ben sagt, dass der Typ ein absoluter Einzelgänger ist. Die paar Freunde, die er hat, sind Afrikaner aus der Gegend. Da ist mit Sicherheit niemand dabei, den er kurzfristig anpumpen könnte. Nein, wir haben ihn mit unserer Forderumg unter Zugzwang gesetzt. Er wird reagieren, da bin ich mir absolut sicher."

 

   „Ja, aber… Was ist, wenn er doch anders reagiert als wir denken...?"

 

 „Scheiße, Scott. Sieh´ nicht immer alles so schwarz.“ Mitch war verärgert und ließ das auch durchblicken. „Was sollte er denn deiner Meinung nach tun? Vertrau mir, der frisst uns aus der Hand. Außerdem würde er alles tun, um sein Gesicht zu wahren und diese blöde Station zu retten."

 

   „Stimmt, die Station! Die hatte ich gar nicht mehr auf dem Schirm.“ Scott lachte: „Du hast Recht! Was für eine Geldverschwendung."

 

   „Das wäre es … wenn ich seinen Anteil nicht schon gut angelegt hätte. Für die Station wird bedauerlicherweise nichts übrig bleiben, denn...“ Mitch grinste breit. „…die Zinsen seiner Schulden werden ihn auffressen."

 

   Die beiden Soldaten klatschten einander ab und brachen in schallendes Gelächter aus.

 

37. Kapitel

 

   Am darauffolgenden Freitag schaffte Marc es, der Versuchung zu wiederstehen. Zwar verließ er zur gewohnten Zeit die Station, schon allein damit sein Vater nichts bemerkte, doch als er wie gewohnt vor der Bar stand und nachdenklich auf die Tür starrte, überlegte er es sich spontan anders. Ruckartig wendete er sein Motorrad und startete durch.

   Einmal mehr raste er ziellos mit seiner Maschine durch die Gegend und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Wie er es auch drehte und wendete: Er saß in der Klemme – so schlimm wie nie zuvor, und es schien keinen Ausweg zu geben. Wie hatte er nur zulassen können, dass diese Typen ihn derartig in der Hand hatten? Er sah keine Chance, irgendwoher auf die Schnelle genügend Geld aufzutreiben, um am Montag seine Schulden bezahlen zu können. Ihm blieben noch schlappe drei Tage. Das Problem mit der Schule war vergleichsweise gering, wenn man bedachte, dass er wahrscheinlich durch seinen bodenlosen Leichtsinn Haus und Hof verspielt hatte. Es würde seinen Vater mehr als hart treffen, sein Lebenswerk aufgeben zu müssen. Und er war schuld, er ganz alleine.

   Es war nicht von der Hand zu weisen: Wenn er nicht so ein Chaos angerichtet hätte, wäre womöglich noch einmal alles gut gegangen. Sie hatten schließlich über die Jahre hinweg wiederholt finanzielle Probleme gehabt und sie letzten Endes doch immer irgendwie lösen können. Und die Lösung, die Mitch und Scott ihm angeboten hatten, konnte, nein, sie durfte einfach keine sein...

   Oder?

   Marc verzog unter dem Helm grübelnd sein Gesicht. Es würde schließlich niemand erfahren, dass er in die Sache verwickelt war. Die Soldaten hatten es ihm versprochen, genauso wie sie versprochen hatten, Suzanne nichts anzutun. Die entscheidende Frage lautete also nur: Konnte er ihr das antun? Sie hatte ihm schließlich nichts getan, im Gegenteil, sie war immer um Verständigung bemüht gewesen.

   Ihre Mutter würde sich sicher fürchterlich ängstigen. Suzanne vermutlich auch, schließlich konnte er sie ja schlecht in den Plan einweihen... Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, die Situation war und blieb vertrackt.

   Marc bremste und schaute sich um. Er hatte den alten Steinbruch erreicht, einen Ort, den er schon als Kind geliebt hatte. Dort hatte er nach dem Tod seiner Mutter manch einsame Stunde mit Nachdenken verbracht. Damals hatte er die Wegstrecke natürlich noch mit dem Fahrrad zurücklegen müssen, doch das war ihm egal gewesen.

   Er bockte die Maschine auf und setzte sich auf einen der höher gelegenen Steine. Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn in die Hände gelegt, so hatte er früher Stunde um Stunde hier zugebracht. Wer weiß, vielleicht funktionert das ja immer noch, dachte er, während er seine Augen gedankenverloren über die Steppe gleiten ließ. Zum x-ten Male in den vergangenen Tagen fragte er sich, wie zum Teufel er in diese ausweglose Situation hinein geraten konnte? Aber im Grunde genommen war es egal, wann er den Überblick verloren hatte. Fakt war, dass es geschehen war und er nun tiefer in der Klemme steckte, als jemand zuvor.

   Gott, verdammt! Er liebte diese Gegend. Er war hier zu Hause, genau wie alle anderen auf der Station. Was würde aus ihnen werden, wenn sie die Station schließen mussten? Sein Vater, Charlie und er konnten zurück in die Staaten und dort einen Neuanfang wagen. Selbst wenn er sich dort niemals heimisch fühlen würde … es war immerhin eine Option.

   Aber was war mit all den anderen? Konnten sie hier, mitten im Nirgendwo, wirklich noch einmal von vorne beginnen? Eher nicht. Außerdem waren sie alle im Laufe der Jahre zu einem echten Team zusammengewachsen. Mehr noch, sie waren zu Freunden, zu einer Familie geworden. Er würde sie fürchterlich vermissen. Jeden Einzelnen von ihnen.

   „Na, legst du dir einen Schlachtplan zurecht?"

   Marc schreckte zusammen. Tief in seine trüben Gedanken versunken hatte er überhaupt nicht realisiert, dass er nicht mehr alleine war. Er schaute hoch und ließ den Kopf gleich darauf deprimiert wieder sinken. „Ihr schon wieder“, sagte er emontionslos.

   Es waren Mitch und Scott, seine Gläubiger aus der Bar, die jetzt langsam näher schlenderten.

   „Was macht ihr denn hier?“, erkundigte sich Marc, ohne wirklich großes Interesse an den Tag zu legen.

    Die beiden gingen nicht auf seine Frage ein, sondern kamen direkt auf den Punkt. „Mach dir keinen Kopf", sagte Mitch. „Ich versichere dir, das wird ein Kinderspiel."

   „Ist mir egal."

   „Das sollte es aber nicht. Hör zu, wir legen wirklich Wert auf deine Hilfe." Die Stimme von Mitch hatte plötzlich einen bedrohlichen Unterton.

   „Lasst mich einfach in Ruhe mit dem Scheiß. Ich will nichts damit zu tun haben, klar? Am Montag bekommt ihr euer Geld. Und jetzt verschwindet!“

   Der Angriff kam für Marc völlig überraschend. Mitch und Scott packten ihn gleichzeitig an den Fußgelenken, zerrten ihn von dem Stein herunter und begannen in stummem Einvernehmen auf ihn einzuprügeln, als er rücklings in den Staub fiel. Die Soldaten, die eine gute Nahkampfausbildung genossen hatten, ließen ihm null Chance. Er wehrte sich nach Kräften, doch als die beiden nach einigen Minuten von ihm abließen, lag er blutend und nach Luft schnappend auf dem Boden.

   Mitch blickte emotionslos auf ihn herunter: „Ich gehe davon aus, dass du uns spätestens jetzt verstanden hast. Wir erwarten morgen dein Signal. Wie verabredet."

   „Scheißkerl“, zischte Marc, schmeckte Blut in seinem Mund und spuckte aus. Mitch genau vor die Füße.

   „Nicht doch." Der Soldat verpasste ihm einen schmerzhaften Tritt in die Nieren und beobachtete breit grinsend, wie er sich daraufhin mit einem unterdrückten Stöhnen zusammenkrümmte. „Lass uns abhauen, Scott, ich kann den Anblick dieses Losers nicht länger ertragen.“

   Marc rührte sich nicht. Mit geschlossenen Augen lag er im Staub und wartete ab, bis er hörte, wie ein Motor gestartet wurde und sich daraufhin ein Fahrzeug schnell entfernte. Offensichtlich hatten die beiden ihren Wagen hinter dem Steinbruch geparkt. Kein Wunder, dass ich ihr Kommen zunächst nicht bemerkt habe, dachte er frustriert.

   Er brauchte eine Weile um sich zu sammeln. Doch schließlich rappelte er sich mühevoll auf und sondierte seine Verletzungen. Jede Menge Kratzer und Schürfwunden, sowie ein paar Prellungen. Alles ziemlich schmerzhaft, aber nichts wirklich Ernsthaftes. Sorgfältig tastete er seine Zähne ab. Gott sei Dank, stellte er gleich darauf erleichtert fest. Alle schienen noch fest zu sitzen. Gut so. Das Blut, das er geschmeckt hatte, kam wohl daher, dass er sich bei seinem unerwarteten Aufprall auf dem Boden versehentlich innen auf die Wange gebissen hatte. Das konnte aber unmöglich alles sein. Woher zum Teufel kam das viele Blut auf seinem Brustkorb? Er spürte, wie es ihm nach wie vor warm über das Gesicht lief und vom Kinn aus auf seine Kleidung tropfte.

   Vorsichtig tastete er sein Gesicht ab. Okay, da war eine Platzwunde dicht über der linken Augenbraue. Da, wo Mitchs Faust ihn so überraschend getroffen hatte. Das erklärte einiges. Sie schien nicht allzu groß zu sein, aber sie blutete, wie alle Wunden am Oberkopf, relativ stark. Vermutlich sah er schon alleine dadurch zum Fürchten aus. Er stöhnte leise und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, was sein Aussehen sicherlich nicht verbesserte, aber das war ihm gerade herzlich egal. Es nützte nichts. Egal, wie sehr ihn seine Knochen schmerzten, er musste sehen, dass er nach Hause kam. Irgendwie. Mühevoll stolperte er zu seiner Maschine und fuhr zurück zur Station. Mit ein bisschen Glück waren um diese Zeit noch alle draußen beschäftigt, was seine Chancen erhöhte, das Badezimmer zu erreichen ohne dass ihm jemand begegnete. Diese Chance gedachte er zu nutzen.

**********

   Marc schaffte es tatsächlich, ungesehen ins Haus zu kommen. Doch gerade, als er sich leise ins Bad schleichen wollte, lief ihm in der Diele sein Großvater über den Weg, der aus seinem Zimmer kam.

   „Marc! Um Himmels Willen, was ist passiert? Hast du dich geprügelt?"

   „Nein, ich… Ich bin mit dem Motorrad gestürzt", murmelte Marc undeutlich, da seine Wange inzwischen innen etwas angeschwollen war. In die Augen sehen mochte er Charlie bei diesen Worten allerdings nicht.

   „Was? Schon wieder? Lass mal sehen." Charlie begutachtete fachmännisch die Platzwunde über dem Auge. „Sag bloß, du bist aufs Gesicht gefallen?"

   „Ja, schön blöd, wie?" Marc versuchte ein Grinsen, doch er hatte das bestimmte Gefühl, dass ihm das kläglich misslang.

   „Du hast mal wieder Glück und kommst ums Nähen drumrum."

   „Okay, sehr gut.“ Marc griff nach dem Armgelenk seines Großvaters und hielt es fest. „Dann darf ich ja jetzt sicher ins Bad."

   „Ist dir schlecht?" So einfach ließ Charlie sich nicht abschütteln. „Oder schwindlig? Hast du dich übergeben?“

   „Nein. Nichts von alldem", antwortete Marc ungeduldig. „Ich würde mich nur sehr gerne endlich waschen und umziehen.“

   „Das will noch nichts heißen. Kann alles noch kommen. Besser du legst dich gleich hin. Ich will sicher gehen und möchte eine Gehirnerschütterung ausschließen.“

   „Sehr gut. Gerne. Dann kann ich wenigstens mal richtig ausschlafen", versuchte Marc zu scherzen, doch die Miene seines Großvaters blieb unverändert ernst.

   Dabei war seine Bemerkung durchaus ernst gemeint. Charlies Vorschlag passte ihm bestens. Er spürte jeden Knochen im Leib und freute sich darauf, sich auf seinem Bett auszustrecken zu können. Eine halbe Stunde später war es endlich soweit und Marc ließ sich mit einem lauten Seufzer auf die Matratze sinken. Auch, wenn an Schlaf nicht zu denken war, die Ruhe tat ihm definitiv egut.

   Als sein Vater später vorbeischaute tischte Marc ihm die gleiche Geschichte auf, die er auch seinem Grossvater erzählt hatte und Gott sei Dank glaubte sein Dad ihm genauso arglos, wie zuvor Charlie.

   „Wie es aussieht hast du zurzeit `ne ziemliche Pechsträhne", lächelte John seinen Sohn tröstend an. „Erst dieser Sturz wobei du dir den halben Arm aufreißt, und jetzt das."

   „Ja, sieht ganz so aus. Ist hoffentlich nur vorübergehend."

   „Vielleicht solltest du in Zukunft etwas vorsichtiger fahren", schlug sein Vater schmunzelnd vor. „Ich möchte dich nicht irgendwann von der Straße kratzen müssen.“

   „Werd' ich, Dad. Auf jeden Fall. Ich bin doch kein Masochist."

   „Ich mein´ es ernst.“

   Marc registrierte sehr wohl, dass das Schmunzeln verschwunden war. Er grinste schief. „Ich auch, Dad, ich auch. Mach dir keine Sorgen.“

   „Tut es sehr weh?"

   „Geht so. Solange ich mich nicht bewege, ist es auszuhalten.“ Marc legte sich flach auf den Rücken und starrte einen Moment lang versonnen an die Decke, bevor er weitersprach. „Dad, kann ich dich was fragen?"

   „Natürlich. Immer. Ich seh´ doch, dass dich was bedrückt."

   „Können wir die Station halten? Bitte, sag mir die Wahrheit. Red es jetzt nicht irgendwie schön. Das ist wirklich sehr wichtig für mich."

   Das Gesicht seines Vaters wurde noch ernster. „Okay. Wie du willst. Wenn wir keine öffentlichen Gelder bekommen, nein. Aber ich bin mir nach wie vor sicher, wenn Gilian, ich meine die Botschafterin, morgen unsere Station hier erst einmal gesehen hat wird sie uns helfen.“

   „Tja, und was, wenn nicht?"

   „Dann kann uns nur noch ein Wunder retten."

   „Die Zeiten, da ich an Wunder geglaubt habe, sind lange vorbei", sagte Marc bedrückt.

   „Sie wird und helfen, Junge. Genauso wie du dein Collegegeld behalten wirst. Mach dir keine Gedanken."

   „Mein Collegegeld?" Marc hob alarmiert den Kopf. „Wie kommst du denn jetzt darauf?"

   John lächelte traurig. „Na, das wäre doch bestimmt dein nächster Vorschlag gewesen. Ich kenn´ dich doch."

   „Tja, na ja", sagte Marc, der gleichzeitig Erleichterung verspürte und sich mies vorkam. „Ich dachte tatsächlich kurz daran.“

   „Siehst du.“ John klopfte ihm aufmunternd auf den Oberschenkel und stand auf. „Mach dir keine Gedanken. Das wird schon. Versuch, etwas zu schlafen. Für heute bist du entlastet. Die anderen übernehmen deine Aufgaben. Du siehst schlecht aus in der letzten Zeit."

**********

   Schlecht, ja, so fühlte er sich tatsächlich. Trotzdem schlief Marc irgendwann ein. Zwar mehr schlecht als recht, doch es war die einzige Möglichkeit, seine Probleme wenigstens für eine Zeitlang zu verdrängen. Meistens war er abends so ausgelaugt, dass ihn seine Sorgen wenigstens nicht auch noch bis in seine Träume verfolgten.

   Mitten in der Nacht schreckte er hoch. Er hatte keine Ahnung, was genau ihn geweckt hatte, aber er hatte das bestimmte Gefühl, das es etwas Wichtiges gewesen sein musste. Auf jeden Fall konnte er danach nicht mehr einschlafen. So lag er lange mit offenen Augen auf dem Rücken und starrte ins Dunkel. Schließlich fasste er einen Entschluss, schlug die Decke zurück, knipste das Licht an und stand auf. Morgen, wenn Suzanne mit ihrer Mutter da war, würde er erst einmal abwarten und sehen, wie sich alles entwickelte. Die Lage sondieren nannte man das wohl, dachte er zynisch. Dass er zu seiner Verblüffung plötzlich feststellte, dass er sich auf das Wiedersehen mit Suzanne sogar freute, irritierte ihn. Diese Feststellung machte es ihm nicht gerade einfacher, seinen Entschluss jetzt in die Tat umzusetzen.

   Marc atmete einmal tief durch. Er fühlte sich wie durch den Wolf gedreht und irgendwie war ihm auf einmal richtiggehend schlecht. Womöglich hatte sein Großvater doch recht und er hatte eine leichte Gehirnerschütterung. Aber es nützte nichts. Jetzt, wo er den Plan einmal gefasst hatte, würde er ihn auch durchführen. Er ging nach unten und war die nächste Viertelstunde damit beschäftigt, den Jeep mit Schlafsäcken, Proviant und ein paar anderen wichtigen Kleinigkeiten zu bestücken. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, sagte er sich dabei immer wieder. Er wiederholte den  Gedanken wie ein Mantra. Reine Vorsichtsmaßnahme. Er wollte nur für den unwahrscheinlichen Fall der Fälle vorbereitet sein und schnell reagieren können.

   Aber vielleicht hatte er ja einmal Glück und Suzanne hatte ihrer Mutter noch nichts von dem Vorfall in der Schule berichtet. Es bestünde keine Gefahr, dass er auffliegt und alles wäre halb so wild, dachte er, als er erschöpft zurück in sein Zimmer ging. Dann hätte er zwar diesen Aufwand jetzt völlig umsonst betrieben, aber unterm Strich wäre ihm das deutlich lieber, als andersherum. Sollte allerdings die Botschafterin Bescheid wissen, geriet er in Zugzwang, denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit seinem Vater darauf ansprach, war mehr als groß…

**********

   „Wie willst du das Gespräch mit Mr. Gilbert aufbauen?", fragte Suzanne kauend. Sie saß mit ihrer Mutter beim Frühstück auf der Terrasse der Botschaft.

   „Ich weiß noch nicht. Vielleicht kommt er ja auf mich zu. Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, zu reagieren, anstatt zu agieren.“

   „Hm", machte Suzanne zweifelnd und nippte an ihrer Tasse. „Da würde ich mich nicht drauf verlassen. Wenn der Mann ähnlich gestrickt ist wie sein Sohn, fürchte ich, dass du da lange warten kannst.“

   „Hast du immer noch Probleme mit Gilberts Sohn?"

   Suzanne stellte amüsiert fest, dass ihre Mutter offenbar verdrängt hatte, dass die Geschehnisse in der Schule schon gut eineinhalb Wochen her waren und sie Marc seitdem nicht mehr gesehen hatte. „Nein, woher denn? Wie kann man Probleme mit jemandem haben, den man gar nicht mehr zu Gesicht kriegt.“ Sie bemerkte selber, wie zynisch sie sich anhörte und ruderte zurück. „Nee, ehrlich, ich hatte und habe keine Probleme mit ihm.“ Sie schmunzelte. „Zugegeben, wir hatten einen etwas holprigen Start, aber das hat sich gegeben. Vielleicht, weil wir kaum miteinander zu tun hatten. Marc Gilbert ist ein Eigenbrötler. Er ist…“ Sie stockte.

   „Was ist er?“, hakte ihre Mutter interessiert nach.

   „Ich denke, er ist kein übler Typ“, antwortete Suzanne nach einer Pause. „Er hat halt momentan `ne Menge Probleme am Hals. Das macht ihn nicht gerade kommunikativer.“

   „Hast du ihn seit seiner Suspendierung noch mal gesehen?“

   Suzanne schüttelte den Kopf. „Nein.“

   „Ich weiß, dass du dich in der Schule vehement für ihn ins Zeug gelegt hast. Was ich bis heute nicht weiß, ist, warum du das getan hast?“

   „Warum?“ Suzanne seufzte. „Mam, du hättest dabei sein sollen. Das war echt beschissen, was die da mit ihm abgezogen haben. Marc war vorverurteilt. Er hatte von vorneherein keine Chance, und als dann noch der General dazu kam, war alles zu spät. Sie haben ihn kaum zu Wort kommen lassen. Sowas kann ich nicht ausstehen, das weißt du.“

   „Ja, das weiß ich.“ Ihre Mutter nickte und musterte sie prüfend. „Aber ich dachte nicht, dass es dir nur um die Ungerechtigkeit ging. Mir kam es so vor, als wärst du auf seiner Seite. Als würdest du ihm glauben."

   „Ja, schon. Das tue ich auch … irgendwie, aber das alleine schafft seine Probleme nicht aus der Welt", stellte Suzanne so nüchtern wie möglich fest. Außerdem war ich es ihm schuldig, dachte sie stumm. Das war das mindeste, was ich für ihn tun konnte.

   „Hast du vor, heute mit ihm darüber zu reden?", forschte Gilian Banks.

   „Nein.“ Suzanne lachte bitter. „Selbst wenn ich es versuchen würde … Marc wird nicht mit mir über das Thema sprechen wollen. Im Gegenteil: Er würde komplett abblocken."

   „Meinst du? Sein Vater hat auf jeden Fall auf mich den Eindruck eines durchaus aufgeschlossenen und vernünftigen Menschen gemacht."

   „Ich weiß", stichelte Suzanne. „Es war nicht zu übersehen, dass du dich sehr gut mit Mr. Gilbert verstehst. Freust du dich auf das Wiedersehen?“

   „Hör endlich auf damit. Ich freue mich auf einen angenehmen Nachmittag. Was John Gilbert angeht: Ich war lediglich freundlich zu ihm. Genauso freundlich übrigens, wie zu jedem anderen Gast auf dem Empfang."

   „Ach ja, und warum verteidigst du dann jedesmal deine Handlungsweise wenn es um ihn geht?"

   Ihre Mutter antwortete nicht. Stattdessen trank sie den letzten Schluck Kaffee und stand auf: „Ich werde mich jetzt fertigmachen. Du solltest dich ein bisschen beeilen, wenn du mit möchtest. John will in einer halben Stunde hier sein."

   Suzanne verschluckte sich fast an ihrem Kaffee und hob vielsagend die Augenbrauen. „John?"

   „Mr. Gilbert, meinte ich natürlich. Sein Vorname ist John."

   „Das ist mir durchaus bekannt." Amüsiert registrierte Suzanne, dass ihre Mutter sogar ein wenig errötete, als sie mit schnellen Schritten das Zimmer verließ. Das kann ja heiter werden, dachte sie und blies die Wagen auf. Womöglich wird aus Marc und mir sogar noch Brüderchen und Schwesterchen.

   Als sie daraufhin in sich hineinhorchte stellte sie fest, dass sie diesen Gedanken alles andere als komisch fand.

 

38. Kapitel

 

   Pünktlich, eine halbe Stunde später, fuhr draußen Charlie mit einem geschlossenen Wagen vor. Gilian hatte ihn vom Fenster aus kommen sehen und erwartete ihn bereits an der Tür.

   „Guten Tag“, begrüßte sie John Gilberts Partner und hoffte, dass man ihr die unterschwellige Enttäuschung nicht ansah. „Charlie, nicht wahr? Tut mir leid, aber ich habe leider Ihren Nachnamen vergesen.“

   „Charlie genügt völlig.“

   „In Ordnung, gerne. Wir sind gleich soweit.“ Gilian drehte sich um und rief die Treppe hinauf. „Suzanne, kommst du?“

   „Sekunde, ich komme“, kam von oben die Stimme ihrer Tochter. Eine Tür klappte zu und Suzanne kam eilig die Treppe hinunter. „Hallo Charlie“, begrüßte sie gleich darauf freundlich den älteren Mann, den sie ja vom Empfang her kannte. „Ich bin fertig. Von mir aus können wir.“

   „John, ich meine Mr. Gilbert, läßt sich entschuldigen. Er wurde leider aufgehalten", erklärte Charlie den beiden Frauen. „Eine Kuh.“ Er nickte grimmig, so als müsse er sich selbst bestätigen.

„Eine … Kuh?", fragte Gilian etwas konsterniert nach.

   „Ja, eine Elefantenkuh. Wir haben sie gestern mit ihrem verletzten Kalb aus dem Busch gerettet. Da wir für den Transport beide Tiere betäuben mussten haben wir die Gelegenheit beim Schopf gepackt und die Mutter direkt vom Kalb getrennt. Sonst hätten wir keine Chance, es behandeln zu können. Dadurch steht jetzt allerdings das Muttertier kurz vor dem Durchdrehen. Sie spürt, dass ihr Kalb in der Nähe ist und randaliert in ihrem Käfig. John versucht alles, um sie nicht erneut betäuben zu müssen. Bin gespannt, ob er Erfolg hatte. Aber bitte, steigen Sie doch ein. Der Wagen ist offen.“

   Gilian, der man normalerweise die Türen öffnete, reagierte im ersten Moment nicht. Bis sie einen leichten Rippenstoß spürte und Suzanne leise sagte: „Nun mach schon. Worauf wartest du?"

   Die beiden Frauen hatten kaum im Wagen Platz genommen, da startete Charlie durch. „Tut mir leid, dass ich sie so durchschüttele", entschuldigte er kurz darauf seinen rasanten Fahrstil. „Aber es könnte sein, dass John meine Hilfe braucht. Wegen der Kuh, Sie wissen schon."

   Gilian antwortete nicht. Sie war genauso wie ihre Tochter vollauf damit beschäftigt irgendwo im Wagen Halt zu finden, damit sie nicht andauernd irgendwo mit den Köpfen anschlugen. Charlie lenkte die Limousine sehr zügig in gerader Linie die unbefestigte Straße entlang und ignorierte dabei großzügig die tiefen Schlaglöcher, die zahlreich vorhanden waren.

   Trotz des Höllentempos, das Charlie vorlegte, waren sie doch eine gute halbe Stunde unterwegs, ehe die Auffangstation in Sicht kam. Urplötzlich lichtete sich der Busch vor ihnen und gab den Blick frei auf eine wunderschön in die Natur eingebettete Anlage. In der Mitte befand sich ein grosses, zweigeschossiges Wohnhaus mit einer großen, offenbar um das Haus herumlaufenden, Terasse, rechts und links umsäumt von Gehegen, Käfigen und einigen kleineren Hütten.

   Schwungvoll brachte Charlie den Wagen quer in der Einfahrt zum Stehen. Gleichermaßen erleichtert und beeindruckt stiegen Gilian und ihre Tochter aus. Beide waren noch ganz in ihren ersten Eindruck versunken, als Charlie direkt neben ihnen losbrüllte:

   „John?! Wo steckst du?" Er sich an die Frauen, die erschrocken zu-sammengezuckt waren als er so unvermittelt neben ihnen losgeschrien hatte. „Bitte warten Sie hier. Ich werde ihn suchen gehen. Er ist vermutlich immer noch bei der Kuh."

   „Nein, bin ich nicht. Ich musste ihr ein leichtes Beruhigungsmittel mit dem Blasrohr verpassen; es ging nicht anders.“ John Gilbert trat aus dem Haus und kam mit einem gewinnenden Lächeln näher. „Hallo. Schön, dass Sie beide da sind.“ Das Lächeln wurde zu einem spitzbübischen Grinsen als er seinem Partner zunickte. „Und es ist erfreulich zu sehen, dass Sie Charlies Fahrstil unbeschadet überstanden haben. Ich hoffe, es war nicht allzu schlimm?“

   „Hey“, protestierte Charlie prompt. „Ist das der Dank, dass ich für dich eingesprungen bin?“ Er grinste breit und machte dadurch deutlich, dass sein Protest nicht allzu ernst zu nehmen war.

   Gilian stellte für sich fest, dass Jeans und T-Shirt wesentlich besser zu John Gilbert passten, als Anzüge. Allerdings hütete sie sich wohlweislich, diesen Gedanken laut auszusprechen. Stattdessen lächelte sie entgegenkommend und ergriff die ihr dargebotene Hand: „Sie tun ihrem Partner unrecht", log sie frech und erwiderte Johns angenehm festen Händedruck.

   „Das nenne ich Diplomatie in Vollendung.“ John lachte leise und schüttelte nun Suzanne die Hand. „Ich freue mich wirklich sehr, dass es endlich geklappt hat. Es tut mir leid, dass ich Sie nicht persönlich abholen konnte, aber wir hatten einen Notfall."

   Gilian nickte verständnisvoll. „Kein Problem. Charlie hat uns informiert. Die Kuh ist schuld.“

   John lachte wieder, was ihm sehr gut stand. „Ja, wir haben eine Elefantendame die uns zurzeit einiges abverlangt. Wir mussten sie von ihrem Kalb trennen und nun sorgt sie sich verständlicherweise um ihren Nachwuchs. Aber bitte, kommen sie doch erst mal mit auf die Terrasse. Ich zeige ihnen später alles. Sie müssen durstig sein."

   „Ähm, ich würde mich gerne schon mal ein wenig umsehen, wenn ich darf", warf Suzanne schnell ein.

   „Suzanne...", mahnte Gilian. „Wenn Mr. Gilbert sagt..."

   „Nein, bitte. Lassen Sie sie. Von meiner Seite aus geht das in Ordnung.“ John wandte sich direkt an Suzanne. „Geh' nur bitte nicht zu dicht an die Käfige heran. Wir sind kein Zoo. Die Wildtiere sind an Besucher nicht gewöhnt. Sie reagieren daher manchmal sehr spontan. Ich möchte nicht, dass du dich erschreckst. Schau doch, ob du Marc findest. Er ist für mich eingesprungen und wollte sich um das Elefantenkalb kümmern. Es ist ängstlich und sehr nervös. Das Gehege ist hinterm Haus. Du kannst es gar nicht verfehlen. Wenn er fertig mit der Behandlung ist, könnte er dich ein wenig rumführen.“

   „Au ja, das wär´ klasse.“

**********

   Bevor Suzanne sich in Bewegung setzte beobachtete sie noch, wie ihre Mutter in Begleitung von John Gilbert die wenigen Stufen zur Terrasse hinaufstieg und dort mit ihm in einer einladend wirkenden Sitzecke Platz nahm. Die beiden wirkten sehr entspannt und unterhielten sich bereits angeregt. Merkwürdig, sehr merkwürdig, dachte sie. Normalerweise war ihre Mutter eher für ihre zurückhaltende Freundlichkeit bekannt, aber so, wie sie sich John Gilbert gegenüber gab, wirkte es, als würde sie den Mann schon seit Jahren kennen.

   Sie schmunzelte im Stillen und beschloss, sich später darüber Gedanken zu machen, und ihrer Mutter die vorübergehende Abwechslung vom diplomatischen Parkett zu gönnen. Sie selbst war seit geraumer Zeit schon ziemlich neugierig auf das Umfeld, in dem Marc Gilbert lebte und diese Neugier gedachte sie nun endlich zu befriedigen. Auf geht´s, sagte sie sich. Mal schauen, wie er auf mich reagiert. Immerhin waren sie sich seit dem denkwürdigen Tag von Marcs Suspendierung nicht mehr begegnet.

   Sie bog um die Ecke und sah auf den ersten Blick, dass John Gilbert recht gehabt hatte. In einem großzügig angelegten Gehege tänzelte aufgeregt ein mittelgroßes Elefantenkalb umher, schlackerte mit den Ohren und stieß mehrfach hintereinander nervöse Trompetengeräusche aus. Am linken Hinterbein erkannte sie deutlich eine große offene Wunde, die sich bis zum Fuß des Tieres hinunter zog. Wohl auch bedingt durch diese Verletzung wirkte das Tänzeln des Tieres etwas schwerfällig und unbeholfen, denn es versuchte offensichtlich das kranke Bein nicht zu belasten. Kunststück, dachte Suzanne und verzog mitfühlend das Gesicht. So, wie Wunde schon aus der Entfernung aussah, schmerzte sie vermutlich höllisch.

   Marc stand mit dem Rücken zu ihr mitten im Gehege und redete mit leiser Stimme beruhigend auf das Tier ein. Mit mehr oder minder großem Erfolg, wie Suzanne schmunzelnd feststellte, während sie sich rasch hinter einen Holzstapel duckte, um die beiden erst einmal unbemerkt beobachten zu können. Mit wachsender Spannung beobachtete sie, wie Marc sich, mit einem Eimer in der Hand, langsam in leicht gebückter Haltung auf das Tier zubewegte. Er duckte sich weiter und versuchte mit einem Schwamm an die Wunde heranzukommen. Fast hätte er dies auch geschafft, doch dann wurde dem verängstigten Tier die ständige Bedrängung offensichtlich zu viel und es versuchte plötzlich vehement Marc auszuweichen, wobei es ihm fast über die Füße getrampelt wäre. Nur mit einem beherzten Satz zur Seite gelang es ihrem Klassenkameraden im letzten Augenblick den dicken Füßen des kleinen Patienten auszuweichen. Dabei schwappte eine Ladung Wasser aus dem Eimer und ergoss sich über Marcs Beine, der sich dadurch jedoch überhaupt nicht aus der Ruhe bringen ließ.

   „Ach, nun komm schon. Lass den Quatsch“, hörte Suzanne ihn genauso beruhigend weiterreden, wie zuvor. „Ich tu´ dir nichts. Ich will dir doch nur helfen. Na, komm. Komm´ her zu mir.“

   Er ließ das Tier nicht aus den Augen, beugte seinen Oberkörper wieder leicht vor und streckte beide Hände nach vorn. In einer hielt er den Schwamm und in der anderen einen Eimer. „Komm…“, lockte er wieder und überraschte Suzanne einmal mehr. Seine tiefe Stimme, der ansonsten fast immer ein Hauch Trotz innewohnte, klang jetzt freundlich, sanft und einschmeichelnd. „Schau, das ist nur ein Eimer. Da ist nichts Schlimmes drin. Nur Wasser. Keiner tut dir was. Na, nu komm schon.“

   Suzanne war froh, dass sie sich hinter dem Holzstapel befand, und so Marc nicht in die Quere kam, als das Unglaubliche geschah. Sie ertappte sich dabei, dass sie unbewusst fest die Daumen drückte und die Luft anhielt. Der kleine Elefant zögerte zuerst noch, doch dann humpelte er neugierig auf Marc zu. Er streckte den kleinen Rüssel vor und beschnupperte erst den Schwamm, bevor er ihn dann vorsichtig in den Eimer tauchte.

   „Na, siehst du, Kleiner. Da ist nichts, wovor du Angst haben müsstest. Darf ich dann jetzt an dein Bein? Ja? Darf ich?“

   In diesem Augenblick zog das Kalb den Rüssel aus dem Eimer und bespritzte Marc sehr zielgerichtet mit einem Wasserstrahl. Der ließ prompt den Eimer fallen und sprang zurück. Die hektische Bewegung erschreckte das Tier, das daraufhin hektisch zurückwich und ein empörtes Tröten ausstieß.

   „Hey“, protestierte Marc und schüttelte sich lachend. „Was zum Teufel machst du denn da?“

   Suzanne konnte nicht mehr an sich halten und kicherte spontan. Obwohl sie sich sofort die Hand vor den Mund hielt, wurden sowohl Marc wie auch das Elefantenkalb auf sie aufmerksam.

   „Na prima“, begrüßte Marc sie und tippte dabei mit zwei Fingern zum Gruß an die zerfledderte Krempe des Strohhutes, den er wohl als Schutz vor der prallen Sonne im Gehege trug. „Spione haben mir gerade noch gefehlt. Stehst du schon lange da?“ Er wirkte nicht unfreundlich, obwohl seine Worte nicht gerade einladend und ermutigend klangen.

   Suzanne verließ ihre Deckung und schlenderte auf das geschlossene  Gatter zu. Immer noch grinsend antwortete sie nicht ganz der Wahrheit entsprechend: „Nein, ich bin gerade erst gekommen.“

   Das Elefantenkalb setzte sich überraschend in Bewegung und steuerte neugierig auf Suzanne zu. Der Minirüssel schlängelte sich durch die Latten des Zauns und beschnüffelte sie intensiv. Vorsichtig, um das Tier nicht zu erschrecken, streckte sie eine Hand aus und täschelte sanft die graue Haut. „Na du, wer bist du denn?“

   Marc, der inzwischen ebenfalls das Gatter erreicht hatte, hob erstaunt die Augenbrauen. „Nanu, scheint so, als hättest du einen neuen Freund.“

   Suzanne lenkte ihre Aufmerksamkeit von dem Elefantenkalb, das immer noch an ihr herumschnupperte, auf ihren Klassenkameraden, dessen Äußeres wie gewohnt nichts auf Konventionen gab. Marc trug ausgeblichene ausgefranste Shorts und dazu ein offenes, kurzärmeliges, kariertes Hemd über dem bloßen Oberkörper. Das zu lange Haar hatte er unter dem Hut nachlässig im Nacken zusammengezurrt und als er sich jetzt lässig auf dem Zaun abstützte fielen Suzanne wieder einmal seine muskulösen Oberarme auf. Zu seiner sehr luftigen Kleidung wollten allerdings die sehr derben knöchelhohen Wanderschuhe nicht so recht passen, aber nachdem, was sie zuvor beobachtet hatte, waren sie offensichtlich notwendig. Hier, in seiner heimischen Umgebung, wirkte Marc so gelöst und entspannt, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte.

   „Hast du genug gesehen?“, fragte Marc. Ein Schmunzeln spielte um seine Lippen. „Du starrst mich an.“

   „Sorry.“ Sie kam sich ertappt vor, doch es war ihr merkwürdigerweise nicht peinlich. „Ich hab´ nicht wirklich gestarrt. Ich war in Gedanken.“

   „Okay.“ Er grinste. „Das scheinen schwermütige Gedanken zu sein.“

   „Nein, ich hab´ mich nur gerade gefragt…“ Sie wies auf einige trotz seiner gebräunten Haut deutlich zu sehenden blauen Flecken und Schrammen, die sowohl auf seinem Armen, wie auch auf seinem Oberkörper und seinen Waden zu erkennen waren. „Scheint ein gefährlicher Job zu sein, den du hier hast. War er das?“ Sie nickte in Richtung des Elefantenkalbes.

   „Das? Oh, nein, der Kleine ist unschuldig. Das hab' ich ganz alleine geschafft", antwortete Marc und grinste schief. Zu ihrem Verdruss ging er aber nicht näher darauf ein, wie er sich die Blessuren zugezogen hatte.

   Sie ahnte, dass er ihren abwartenden Blick spürte, doch nach einem Moment des Schweigens respektierte sie seine Zurückhaltung und antwortete lediglich. „Sieht übel aus.“

   „Quatsch, ist halb so wild“, sagte er leichthin. „Noch ein paar Tage und ich bin wieder wie… Hey…“ Der kleine Elefantenbulle hatte ihn energisch zur Seite gestupst, um näher an Suzanne herankommen zu können. „Na, bei dem hast du aber echt `nen Stein im Brett.“

   „Du wirkst überrascht“, stellte Suzanne fest, während sie sich mit einer Hand des neugierigen kleinen Rüssels zu erwehren suchte.

   „Ehrlich gesagt, bin ich das auch“, gab er zu, während er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wusch und dabei unbewusst den Staub in seinem Gesicht verschmierte. „Du bist die erste Person, auf die der Kleine ohne jede Scheu reagiert.“

   „Cool“, kommentierte Suzanne strahlend. „By the way, ich streune hier nicht einfach rum. Dein Vater gab mit den Tipp, dass ich dich hier finden könnte.“

   „Womit er augenscheinlich recht hatte“, grinste Marc. „Kein Problem. Alles gut.“ Er machte eine Bewegung, als wollte er ihr die Hand reichen, doch nachdem er einen prüfenden Blick darauf geworfen hatte, verzog er das Gesicht. „Das lassen wir lieber“, kommentierte er stattdessen und wischte sich die Hände an den Shorts ab.

   „Ich bin nicht pingelig. Ich dachte, das wüsstest du inzwischen. Aber ich finde, inzwischen können wir uns die Förmlichkeiten doch sparen, oder?“

   „Wenn du meinst…“ Er musterte sie prüfend. „Du hast ein Händchen für Tiere?“ Der Satz war als Frage formuliert, obwohl er mehr wie eine Feststellung klang.

   „Keine Ahnung“, gestand sie. „Ich hatte bislang nie viel Kontakt mit Tieren. Nicht falsch verstehen, ich mag Tiere, ja, aber im Internat hatte ich nicht viele Gelegenheiten, nähere Kontakte zu knüpfen oder gar eine Beziehung zu einem bestimmten Tier aufzubauen.“ Sanft tätschelte sie die raue Haut des kleinen Elefantenbullen, der ihre Bemühungen mit einem zufriedenen Tröten kommentierte. Sie lächelte und kraulte ihn ausgiebig erst hinter dem einen und dann hinter dem anderen Ohr. „Aber irgendwie sieht´s ganz danach aus, oder?“ Das Tier stampfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen, wobei er aufgrund der Verletzung leicht ins torkeln geriet. Trotzdem konnte er offensichtlich nicht genug bekommen.

   „Definitiv“, konstatierte Marc schlicht, bevor er völlig überraschend fragte: „Magst du mir helfen?“

   „Ernsthaft?“ Suzannes Augen blitzten erfreut auf. „Sehr gerne. Was kann ich tun?“

   „Der Kleine mag dich. Du kannst ihn beschäftigen, ihn ablenken. Vielleicht komme ich dann endlich an sein Bein ran.“

   „Ich versuch´s.“ Sie warf einen Blick auf den Hinterlauf des kleinen Patienten. „Das sieht ziemlich böse aus. Kriegt ihr das wieder hin?“

   Marc legte den Kopf schief und schob seinen Hut in den Nacken. „Wir hoffen es. Aber dazu müsste er uns erstmal an die Wunde lassen. Sie muss ausgewaschen, mit Salbe versorgt und sauber verbunden werden.“

   „Was ist ihm denn passiert?“

   „Keine Ahnung. Nomaden gaben uns Bescheid, dass er und seine Mutter alleine im Busch standen. Keine Herde weit und breit. Vermutlich hatten alle, bis auf seine Mutter, den Kleinen bereits aufgegeben. Wir glauben, dass er in eine Falle geraten ist und sich mit viel Glück irgendwie wieder daraus befreien konnte. Sowas kommt leider in letzter Zeit immer häufiger vor. Meistens verenden die Tiere elendig. Es gibt Wilderer in der Gegend. Die beiden haben Glück gehabt, dass man uns so schnell informiert hat.“ Er blies kurz die Wangen auf. „Es war ein hartes Stück Arbeit, die beiden herzubringen.“  

   „Konntet ihr den Kleinen denn nicht einfach draußen im Busch behandeln?“ Suzanne beugte sich zu dem Kalb runter, zog die Nase kraus und pustete spielerisch gegen den Rüssel. Der kleine Bulle zuckte kurz zurück, kam aber sofort wieder neugierig näher, um Suzannes Gesicht und ihre Haare zu untersuchen.

   „Nein, leider nicht. Erstens hätte die Mutter uns beim bloßen Versuch sofort angegriffen, und zweitens erfordert diese Verletzung eine längere Behandlung. Außerdem müssen wir ihm regelmäßig Antibiotika geben, um eine Infektion abzuwenden. Es geht nicht, die beiden jedes Mal erst zu suchen, und dann zu trennen.“

   „Verstehe.“ Suzanne war sich sehr bewusst, dass Marc ganz genau beobachtete, wie sie mit dem Tier umging. Sie wollte keinen Fehler machen, aber bislang hatte er sie nicht gestoppt, also konnte ihr Spiel so falsch nicht sein. Ihr Handeln hatte etwas Instinktives an sich und als sie jetzt eine ihrer Haarsträhnen zwirbelte und den Kleinen mit dem Ende an der Rüsselspitze kitzelte, dachte sie gar nicht großartig darüber nach. Immer, wenn das Tier gerade zupacken wollte, zog sie die Strähne im letzten Moment wieder weg. Sie hätte schwören können, dass das Jungtier Spaß daran hatte und lächelte breit. „Wo ist seine Mutter jetzt?“, erkundigte sie sich, ohne ihr Tun zu unterbrechen.

   „Wir haben sie am anderen Ende des Geländes untergebracht.“ Marc hing immer noch lässig mit dem Oberkörper auf das Gatter gestützt und stellte sich überraschend bereitwillig dem Frage und Antwortspiel mit Suzanne. „Guck nicht so vorwurfsvoll, wir halten die beiden nicht die ganze Zeit über getrennt. Nach der Behandlung darf er wieder zu seiner Mutter. Obwohl anders wäre es sicherlich einfacher für uns. Aber der Kleine trinkt noch Muttermilch und die braucht er auch. Elefantenmilch ist extrem fetthaltig und schwer zu bekommen. Daher haben wir uns für die Natur entschieden. Ist zwar mehr Arbeit, aber was soll´s.“

   Er zuckte mit den Achseln und sprach ganz ruhig und gelassen, obwohl er sie immer noch nicht aus den Augen ließ. Das machte Suzanne langsam aber sicher nervös. „Ich bin überzeugt, ihr kriegt das wieder hin“, sprudelte es spontan aus ihr heraus. „Ganz bestimmt.“

   „Ach ja?“ Marc zog in seiner unnachahmlichen, leicht spöttischen Art die Augenbrauen hoch und grinste. Dabei zeigte sich wieder das Grübchen, dass sie so reizvoll fand. „Und das weißt du, weil…?“

   „Na ja…“ Sie lächelte entwaffnend. „Weil du offenbar auch ein Händchen für Tiere hast. Vielleicht sogar ein besseres als für Menschen. Ernsthaft, ich finde, du machst das ganz toll. Ich hätte nie gedacht, dass du so geduldig sein kannst. Wie lieb und fürsorglich du eben mit dem Kleinen umgegangen bist. Das war super. Der Fuzzi wird schon noch merken, dass du es gut mit ihm meinst.“

   „Tiere sind die besseren Menschen und na ja, Geduld gehört eben dazu.“ Es folgte ein prüfender Seitenblick aus zusammengekniffenen Augen.

   „Stimmt was nicht?“, fragte sie verunsichert. „Was ist los?“

   „Bist gerade erst gekommen, wie?“

   Suzanne spürte, wie sie prompt errötete, doch zu ihrer Erleichterung grinste Marc. „Schon okay. Vergiss es. Was ist nun? Hilfst du mir?“

   „Ja, sicher. Was kann ich tun? Soll ich zu euch reinkommen?“

   Nach einem kurzen Blick auf ihre leichten Stoffschuhe schüttelte er den Kopf. „Nee, besser nicht. Versuch, ihn von außen abzulenken, okay? Aber, übertreib´s nicht. Ich brauche ihn einigermaßen ruhig, nicht total überdreht.“

   „Ich geb´ mein Bestes. Ich kann ihn ja weiter beschmusen. Das scheint ihm ja zu gefallen.“

   „Wie auch immer. Hier…“ Mit einem beinahe fröhlichen Gesicht nahm er seinen Hut ab und setzte ihn ihr auf den Kopf. „Ich will nicht schuld sein, wenn du einen Sonnenstich kriegst. Nicht weglaufen, ich hol´ nur frisches Wasser. Bin gleich wieder da.“

 

39. Kapitel

 

   Nach Marcs Rückkehr machten die beiden Jugendlichen sich stillschweigend und konzentriert an die Arbeit. Ihre Arbeitsteilung funktionierte überraschend gut und nach einer Viertelststunde hatten sie es geschafft. Das Hinterbein des kleinen Elefanten zierte ein sauberer Verband und Marc legte dem Kleinen sichtlich aufatmend ein Tau um den Hals, öffnete das Gatter und führte ihn aus dem Gehege. Der Kleine trottete jetzt, immer noch humpelnd, aber ohne Angst gehorsam neben ihm her.

   „In Ordnung“, sagte er. „Bringen wir ihn zurück zu seiner Mutter. Sie wird ihn sicher schon schmerzlich vermissen.“ Das `wir´ kam ihm ganz selbstverständlich über die Lippen und Marc registrierte zu seiner Überraschung, dass er sich darüber freute, dass Suzanne sich ihm ohne Weiteres anschloss. Ihr Zutun hatte bewirkt, dass er seine Arbeit ohne zusätzliche Probleme hatte erledigen können und die Art und Weise, wie sie sich mit dem Elefantenkalb beschäftigt hatte, nötigte ihm Respekt ab. Völlig unaufgeregt und liebevoll war sie mit dem Kleinen umgegangen und selbst, als er ihr ein paar knappe Anweisungen gegeben hatte, hatte sie diese ohne zu zögern befolgt.  

   Sie hatte ohne große Anstrengungen geschafft, was bislang nur wenigen Menschen gelungen war: Innerhalb kürzester Zeit war sie noch einmal in seiner Achtung deutlich gestiegen. Eine Tatsache, die er ihr selbstverständlich nicht auf die Nase zu binden gedachte; die ihm aber gerade schwer zu denken gab. Er kannte sie kaum, doch irgendetwas hatte dieses Mädchen an sich, das ihn fesselte und auch neugierig machte.

   „Das hast du übrigens sehr gut gemacht. Ich hab´ mich noch nicht einmal bedankt“, sagte er auf dem Weg, eigentlich nur um etwas zu sagen, bevor das Schweigen zwischen ihnen ins Peinliche driftete. „Danke.“ Er nickte ihr anerkennend zu.

   „Nicht nötig. Hab´ ich gern gemacht“, anwortete sie, während sie ihrem neuen tierischen Freund den Rücken tätschelte. Der blickte über die Schulter zurück und ließ erneut ein leises, zufriedenes Tröten hören, was sie unbewusst lächeln ließ. „Außerdem hat es Spaß gemacht. Ich finde es klasse, was ihr hier macht. All´ das…“ Sie beschrieb das Terrain der Station mit einer ausschweifenden Handbewegung. „Ihr tut hier etwas Sinnvolles. Und ihr bewirkt etwas mit eurer Arbeit.“

   Er verzog das Gesicht. „Nicht immer. Leider. Oftmals ist es einfach nicht genug, oder wir kommen schlicht zu spät.“

   „Aber ihr versucht es wenigstens. Das ist mehr, als die meisten Menschen tun. Ehrlich gesagt beneide ich dich.“

   „Du? Mich?“ Er zog überrascht die Augenbrauen hoch und warf ihr einen misstrauischen Seitenblick zu. Wollte sie ihn verarschen? „Ernsthaft?“

   „Ja. Weißt du…“ Sie klang jetzt seltsam ernst. „Ich hab´ überhaupt noch keine Ahnung, was ich nach der Schule mal machen will. Echt, null Plan.“ Meine Mutter wünscht sich, dass ich studiere und vermutlich werde ich das auch tun. Aber was?“ Sie zuckte mit den Achseln. „Du hingegen … du hast die Station, die Tiere und all das Andere hier. Jetzt, wo ich das alles sehe, kann sehr gut verstehen, dass ihr für den Erhalt der Station kämpft. Der Ort hier ist ein Juwel.“ Ein Lächeln erhellte erneut ihre Züge. „Ergo, ich schätze, du weißt, welchen Weg du nach der Schule einschlägst. So gut, wie du mit Tieren umgehend kannst, wirst du bestimmt mal Tierarzt, wie dein Vater. Du willst die Station doch später mal übernehmen, oder?“

   „Tierarzt?“ Marc lachte, doch es klang nicht fröhlich. „Um das zu werden müsste ich ebenfalls studieren.“ Er registrierte, wie verändert seine Stimme plötzlich klang und beschwor sich, ruhig zu bleiben.

   „Ja, na und? Was ist dabei? Soweit ich mitbekommen habe, sind deine Noten doch ziemlich in Ordnung.“

   „Das waren sie“, betonte er knapp und hoffte, dass Suzanne kapierte, dass er nicht weiter darüber reden wollte.

   Mitnichten. Sie schwieg lediglich einen Augenblick, dann sagte sie: „Ich verstehe. Du hast Angst. Angst davor, dass du bei der Anhörung nicht entlastet werden kannst und die Suspendierung in einem Rauswurf gipfelt. Außerdem fürchtest du, dass womöglich parallel hier alles den Bach runter geht und ihr die Station nicht halten könnt. Okay, diese Ängste sind verständlich und nachvollziehbar. Aber falls … ich meine, nur für den Fall, dass es wirklich zum Worst-Case kommen sollte, dann hättest du doch immer noch die Möglichkeit zusammen mit deinem Dad und Charlie etwas Ähnliches anderswo neu aufzubauen.“

   „Sicher, klar. Alles ist möglich“, antwortete er unüberhörbar sarkastisch. „In deiner Welt ganz sicher. Du vergisst da allerdings eine klitzekleine, nicht unwichtige Kleinigkeit: Ich habe die Schule geschmissen. Selbst, wenn es gelänge, mich zu entlasten … ich werde garantiert keinen Fuß mehr in diese Schule setzen. Ich dachte, das hätte ich deutlich gemacht. Auf jeden Fall hab´ ich es verdammt ernst gemeint. Und was dein Worst-Case-Szenario angeht: Ohne Abschluss kein Studium. Ganz einfach.“ 

   „Aber das ist doch…“

   „Hör zu, Suzanne“, unterbrach er sie so schroff, dass der kleine Elefantenbulle sich irritiert umschaute. „Lassen wir das Thema, okay? Wir kommen auf keinen gemeinsamen Nenner und ich will keinen Streit mit dir.“

   „Gut, wie du willst.“

   Suzanne wirkte verstimmt, blieb aber an seiner Seite und beobachtete, wie Marc ein stabiles Stahltor öffnete, dem kleinen Elefanten das provisorische Führseil entfernte und ihn dann mit einem sanften Klaps auf den Po zu seiner Mutter entließ, die ihrem Jungen bereits aufgeregt entgegenlief. Er beeilte sich, rechtzeitig aus dem Käfig zu kommen und verriegelte sorgfältig die Tür. Dann beobachtete er stumm, mit der tiefen inneren Zufriedenheit, die sich bei ihm in solchen Augenblicken immer einstellte, wie sich Mutter und Sohn innigst begrüßten.

   „Wow, was für ein Käfig. Das ist ja ein richtiges Gefängnis.“ Suzanne strich mit den Händen über den dicken Stahl und schaute zu Boden. „Sag mal, habt ihr die Streben echt einbetoniert? Muss das denn wirklich sein?“

   „Ja“, nickte Marc. „Ich weiß, das wirkt schlimm, aber es muss sein. Du machst dir keine Vorstellung über die Kräfte, die sie entwickeln kann, wenn sie durchdreht. Sie ist ziemlich nervös und war schon ein paar Mal kurz davor. Der stabile Käfig dient sowohl ihrem, als auch unserem Schutz. Außerdem nutzen wir ihn ja nicht nur für Elefanten. Wenn wir Raubtiere hier aufnehmen müssen, sollten die tunlichst auch ausbruchssicher untergebracht werden. Es kommt nicht so gut, wenn die nachts plötzlich hungrig neben deinem Bett stehen. Es ist ein bisschen, wie in einem Zoo.“ Er zuckte mit den Achseln. „Hoffen wir einfach, dass die beiden nicht zu lange da drin bleiben müssen und wir sie bald wieder in die Freiheit entlassen können.“

   „Ja … ja, das hoffe ich auch. – Sag mal, wollen wir dem Kleinen nicht einen Namen geben?“, fragte sie dann nach einer kleinen Pause. „Ich hätte da schon eine Idee.“

   Er winkte ab. „Nee, lass mal. Mit einem Namen würden wir das Ganze nur verkomplizieren. Ein Name macht eine Beziehung gleich viel persönlicher. Zu persönlich. Der Kleine wird uns bald wieder verlassen, daher sollten wir uns besser nicht zu sehr an ihn gewöhnen.“

   „Verstehe“, murmelte Suzanne und ließ den Kopf sinken.

   Sie klang deprimiert und traurig, so dass Marc unverhofft Mitleid verspürte. „Hey, noch ist dein neuer Freund ja hier“, startete er einen Aufmunterungsversuch. „Mindestens noch ein, zwei Wochen. Du kannst ihn jederzeit besuchen kommen“, versuchte er sie aufzumuntern.

   „Ja … ja, vielleicht mach´ ich das“, antwortete Suzanne nachdenklich.

    Er beührte sie sachte an Arm. „Komm, lass uns gehen. Die zwei sind froh darüber, dass sie sich wiederhaben. Gönnen wir ihnen etwas Zeit zum runterkommen. Wenn du willst zeig ich dir den Rest der Station.“

   „Von mir aus.“

    Suzanne ließ immer noch den Kopf hängen und schien sich plötzlich auch nicht mehr wohl in seiner Gesellschaft zu fühlen. Anstatt sich, wie früher, darüber zu freuen, fühlte Marc sich mies. So, als hätte er ihr bewusst den Tag verdorben. Dabei war er sich keiner Schuld bewusst. Er hatte lediglich ehrlich auf ihre Fragen und Anmerkungen reagiert. Aber dass sie jetzt so schweigend und fast teilnahmslos neben ihm her trottete, gefiel ihm überhaupt nicht. Andererseits, was sollte er tun?

   Schließlich hielt er es nicht mehr aus, blieb stehen, fasste sie am Arm und drehte sie zu sich herum. „Okay, raus mit der Sprache“, forderte er. „Was hab´ ich angestellt?“

   Ihre Blicke begegneten sich kurz, bevor sie ihm auswich. „Nichts.“

   „Doch, ich denke schon. Du bist plötzlich so still. Das ist ungewohnt und ich gestehe, es macht mich irgendwie ein bisschen nervös.“

   „Tja, vielleicht liegt es daran, dass ich nicht weiß, worüber ich mit dir reden darf?“

   „Darf? Ich versteh´ nicht. Was willst du damit sagen?“

   Jetzt blickte sie ihm direkt in die Augen, bevor sie antwortete. „Oh doch, ich denke, du verstehst mich sehr gut. Kannst du mich jetzt bitte zu den Anderen bringen?“

   „Nein, ich…“ Marc überlegte kurz und gab sich dann einen Ruck. „Ich würde dich ungern in dieser Stimmung zurück zu deiner Mutter bringen.“

   „Wegen der Subventionen? Quatsch“, fiel sie ihm brüsk ins Wort.

   „Nein, nicht deswegen. Oder vielleicht doch. Ein bisschen. Aber du hast mir geholfen und dafür bin ich dir was schuldig. Schon wieder. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber bitte…“ Er lächelte schief und atmete einmal tief durch. „Also gut, worüber willst du reden? Du kannst frei wählen.“

   „Echt jetzt?“ Urplötzlich kam wieder etwas Leben in Suzanne. „Das ist cool, denn…“ Sie stockte kurz. „Weißt du, ich glaube, so viel und so lange wie heute haben wir noch nie miteinander geredet“, sagte sie dann völlig unvermittelt und überraschte ihn damit erneut. „Noch nicht einmal neulich Nacht – du weißt schon.“

   „Soll das etwa das Thema sein?“, fragte er amüsiert schmunzelnd.

   „Nein, ich … es fiel mir nur gerade auf. Normalerweise machst du nämlich immer, wenn ich gerade denke, dass wir soweit sind, dass wir normal miteinander umgehen können, einen Rückzieher.“

   „Was?“ Marc war ehrlich überrascht. „Blödsinn. Das bildest du dir ein.“

   „Oh nein, genau das tust du“, widersprach sie temperamentvoll. „Du machst komplett dicht. Keine Ahnung, vielleicht ja sogar unbewusst. Ich will dir da nichts unterstellen.“ Sie schaute hoch und fixierte ihn mit ihren klaren blauen Augen. „Anderes Thema, bevor ich es vergesse: Ich soll dich von Tom und den anderen grüßen. Tom hat mir erklärt, warum sie den Kontakt zu dir momentan abbrechen lassen mussten. Ich hab´s erst nicht kapiert, aber … na ja, ehrlich gesagt, verstehe ich es immer noch nicht so ganz. Ich meine, ihr seid befreundet, da sollte man doch davon ausgehen, dass…“

   „Ist schon in Ordnung.“ Er zuckte mit den Schultern, so als würde ihn das überhaupt nicht berühren, aber er ahnte, dass sein Gesichtsausdruck etwas anderes aussagte. „Es ist so, wie es ist“, schloss er schließlich lahm.

   „Na ja, immerhin glauben sie dir. Tut doch gut zu wissen, oder?"

   „Ja schon, aber wirklich weiter hilft mir das nicht.“ Die nächsten Worte sprudelten aus ihm heraus, ohne dass er es geplant oder näher darüber nachgedacht hätte. „Was ist mit dir? Glaubst du mir?" Jetzt allerdings, wo die Worte einmal heraus waren, wartete er gespannt und mit klopfendem Herzen auf die Antwort.

   Suzanne zögerte und Marc wappnete sich für das, was seiner Ansicht nach nun kommen musste. Mit der tatsächlichen Antwort überraschte sie ihn dann wider Erwarten abermals. „Wenn ich dir nicht glauben würde, wäre ich heute in der Botschaft geblieben“, antwortete sie schlicht. „Ich habe keine Lust, Zeit mit Jemandem zu verbringen, dem ich nicht traue. Soll heißen, ich bin auf deiner Seite. Ich hab' nur keine Ahnung, wie ich aus dem Nichts Beweise zu deiner Entlastung heranschaffen soll.“

   „Verlangt doch auch niemand von dir“, antwortete er rau und war wider Willen gerührt über ihre offensichtliche Bereitwilligkeit, ihm zu helfen.

   „Ich würde es aber gerne“ Er konnte beobachten, wie Suzannes Augen kurz aufblitzten, bevor sie weitersprach. „Du hättest den Krach sehen sollen, den ich mit dem General, nach deinem Abgang in der Schule, noch hatte."

   „Du hast dich mit dem General angelegt? Wegen mir? Echt jetzt?“ Merkwürdig, irgendwie freute ihn die Vorstellung.                                                                 

   „Ja, weil ich es total mies fand, wie er dich in der Schule auf dem Flur vor Allen behandelt hat. Ich hasse es, wenn jemand ungerecht wird – nur weil er die höhere Position inne, oder vielleicht die besseren Karten auf seiner Seite hat. Der Arsch hat sich aufgeführt, als würde ihm die Schule gehören. Und keiner hat was dazu gesagt. Keiner!“ Suzanne ruderte erbost mit den Händen in der Luft herum. „Darüber kann ich mich jetzt noch aufregen. Alle haben sie vor ihm gekuscht. Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein. Einer muss doch was tun. Etwas sagen. Also hab´ ich ihm meine Meinung gesagt. Es flogen zwar die Fetzen aber hinterher fühlte ich mich zumindest etwas besser, schon allein weil er stinksauer auf mich war“, schloss sie befriedigt mit einem Lächeln auf den Lippen. „Und wenn ich sauer sage, dann meine ich so richtig sauer.“

   Marc lächelte traurig. „Du bist echt unverbesserlich. – Hör zu: Tu mir bitte einen Gefallen, ja? Zerbrich dir nicht meinen Kopf. Ich komm´ klar. Das Wichtigste ist doch, dass..." Plötzlich schoss ein ausgesprochen unwillkommener Gedanke durch seinen Kopf. Um Gottes Willen! Wie hatte er das nur so lange verdrängen können? „Sag mal…“, setzte er zögernd an. „…hast du eigentlich deiner Mutter davon erzählt?" Dieses Mal klopfte sein Herz so laut, dass er fürchtete, Suzanne könnte es mitbekommen.

   „Von deiner Suspendierung? Das brauchte ich gar nicht“, antwortete Suzanne unbekümmert. „Nach seinem großen Auftritt in der Schule hatte der General nichts Besseres zu tun, als meine Mutter postwendend zur Basis zu zitieren. Dort hat er ihr brühwarm alles berichtet, und im gleichem Atemzug von ihr verlangt, dass sie Geld locker macht, damit er auf der Basis seine Pläne von einer eigenen Schule realisieren kann."

   „Verdammt!“ Shti! Shit! Shit! Dass er nicht schon eher daran gedacht hatte. Die Botschafterin würde natürlich seinen Vater darauf ansprechen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie das nicht tat. Sein so kunstvoll konstruiertes Lügengebäude würde schneller zusammenkrachen als ein Kartenhaus beim leisesten Windhauch. Wer weiß, vielleicht war es das sogar schon. „Dieses verdammte Arschloch!“

   „Bleib locker“, meinte Suzanne beruhigend. „Meine Mutter lässt sich von denen nicht über den Tisch ziehen. So einfach wie der General sich das vorstellt, wird das nicht funktionieren.“

**********

   Marc hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Die Situation hatte sich geändert. Grundlegend geändert. Der Plan. Mitchs Plan. Er musste durchgeführt werden! Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, er sah einfach keine andere Möglichkeit.

   In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken panikartig: Zuallererst musste er so schnell wie möglich herausbekommen, ob die Themen Suspendierung und Anhörung schon bei den Erwachsenen auf den Tisch gekommen waren. Okay, das dürfte leicht sein, sagte er sich. Dazu würde vermutlich ein Blick in das Gesicht seines Vaters ausreichen. Falls das Thema noch nicht akut war, musste er umgegend den zweiten, schwierigeren Teil angehen. Das bedeutete, alles auf eine Karte setzen und Suzanne zu einem Trip in den Busch überreden. Selbst wenn sie zustimmte, war da immer noch ihre Mutter, die ebenfalls zustimmen musste, und ob Gilian Banks ihre Tochter mit einem vermeintlichen Drogendealer auf Tour schicken würde erschien Marc doch mehr als fraglich.

   Vorausgesetzt er nahm auch diese Hürde, lag der definitiv schwerste Teil vor ihm. Er musste Mitch und seinem Handlanger klarmachen, dass die Spielregeln der neuen Situation angepasst werden mussten. Das Lösegeld musste erhöht werden. Er brauchte unbedingt einen höheren Anteil für einen Neuanfang. Wo auch immer der stattfand. Darüber würde er sich Gedanken machen, wenn der Zeitpunkt gekommen war.

   Außerdem: Wenn er sicherstellen wollte, dass die beiden Typen Suzanne tatsächlich nicht anrührten, gab es hierfür nur eine Möglichkeit. Er musste bei ihr bleiben. Von Anfang an, bis zur späteren Freilassung. Nur so konnte er sicher gehen, dass sie unversehrt blieb. Vielleicht konnte er die beiden ja sogar dazu überreden, dass sie ihn, wie ursprünglich geplant, ebenfalls als Opfer behandelten. Das wäre das Optimum. Trotzdem, da machte er sich nichts vor, es war davon auszugehen, dass man ihn, nach dem Debakel in der Schule und dem Verdacht, der seitdem im Raum stand, mit Sicherheit mit Suzannes Entführung in Verbindung bringen würde. Sollte man später wider Erwarten doch noch Mitch und Scott auf die Schliche kommen, würden die beiden mit Sicherheit zuallererst ihn an den Pranger stellen. Und dann würden auch seine Spielschulden thematisiert werden. Der einzige Vorteil war, dass er dann schon weit weg sein würde.

   Marc biss sich auf die Zunge. Um ein Haar hätte er vor lauter Resignation geseufzt. Er konnte es drehen und wenden wie er wollte. Er war geliefert, so oder so. Wenn er mit einigermaßen heiler Haut aus der Sache rauskommen wollte musste er handeln, und zwar verflixt schnell.

   „Hey, wenn ich dir auf die Nerven gehe, dann sag es bitte“, unterbrach Suzanne, die Marcs Schweigen offensichtlich falsch deutete, seinen krusen Gedankenfluss. „Ich kann mich hier auch alleine weiter umsehen."

   „Ich…" Scheiße, was hatte sie gesagt? Er hatte nichts mitbekommen.

   Sie verdrehte die Augen. „Ich sagte, wenn du keine Lust haben solltest, mir hier alles..."

   „Nein, Quatsch“, fiel er ihr ins Wort. „`türlich zeig ich dir alles."

   So, wie Suzanne ihn anschaute, schien sie sein Verhalten ziemlich merkwürdig zu finden. Verdammt, er verhielt sich aber auch wie der letzte Volltrottel. Gott sei Dank antwortete sie aber: „Okay. Wo geht´s lang?"

   „Was?“ Himmel noch mal, ermahnte er sich selber. Konzentrier dich!

   „Wo wir anfangen?“, wiederholte sie mit leichter Ungeduld in der Stimme. „Es ist dein Zuhause. Du bestimmst, wo es lang geht.“

   „Der Busch?", antwortete er jetzt wie aus der Pistole geschossen. „Was hältst du davon, wenn wir rausfahren? Eine Kurzsafari?“

   „Wie bitte?" Die Verwunderung war Suzanne jetzt deutlich anzumerken. Wenn er nicht besser aufpasste, würde sie noch misstrauisch werden. Das durfte er auf keinen Fall riskieren.

   Marc riss sich zusammen. „Ich meine ... warst du eigentlich schon mal so richtig draußen im Busch, seitdem du hier angekommen bist?"

   Sie schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Aber…"

   „Gut, also, was hältst du von einem spontanen Ausflug?"

   Sie wirkte durchaus interessiert. „Okay, gerne. Wann?"

   „Sofort."

   „Wie jetzt? Jetzt?"

   Täuschte er sich, oder stand sie kurz davor, einen Rückzieher zu machen? Auf jeden Fall verhieß ihr Gesichtsausdruck nichts Gutes.

   „Ja klar, warum denn nicht? Hier kann ich dir auch später noch alles zeigen. Die Station läuft uns nicht weg."

   „Aber der Busch schon, oder wie?", warf sie ironisch ein.

   „Ja, eben. Quatsch, ich meinte natürlich: Nein." Gott, was faselte er da für einen Stuss zusammen? Reiß dich zusammen, beschwor er sich, reiß dich zusammen. Da musst du jetzt durch und dazu braucht es einen kühlen Kopf. Er beschloss, die Risikokarte zu ziehen und auf einen Joker zu hoffen. Wenn Suzanne Nein sagte, dann war es eben so. In dem Fall hatte er zwar keine Ahnung, wie er kurzfristig zu genügend Geld für einen Neuanfang kommen sollte, aber er hatte es dann wenigstens versucht und war fein raus. Im Notfall würde er sich eben alleine und ohne Geld dünne machen. Es gab sicher Schlimmeres. Irgendwo gab es bestimmt einen Job für ihn. „Hör zu“, sagte er scheinbar phlegmatisch, obwohl er total unter Spannung stand. „Wenn du keine Lust hast, dann sag´s einfach."

   „Nein", lenkte sie schnell ein. „Die Idee ist cool. Ich bin dabei. Sagen wir nur schnell unseren Leuten Bescheid, bevor wir abhauen, okay?"

   Auch das noch, bloß nicht! „Wozu sollten wir sie stören? Die beiden haben sicher viel zu besprechen.“ Marc wies nach links in Richtung einer Baumgruppe. „Dort hinten steht der Jeep. Bevor die merken, dass wir weg sind, sind wir auch schon wieder da."

   „Ich weißt nicht.“ Suzanne zögerte. „Ich finde schon, dass wir Bescheid sagen sollten."

   „Und wenn deine Mutter Nein sagt?“

   „Du meinst wegen dir? Kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete Suzanne im Brustton der Überzeugung. „Auch, wenn du es vielleicht nicht glaubst: Sie will die Anhörung abwarten und hofft, genau wie ich, das sich bis dahin entlastende Beweise finden lassen.“

   „Gut, okay.“ Marc entschied, dass es besser war, einzulenken. „Wie du meinst. Du sagst Bescheid und ich organisiere uns inzwischen etwas zu beißen für unterwegs.“ Hoffentlich ging sie darauf ein. Er wollte, nein, er konnte seinem Vater jetzt unmöglich ins Gesicht sehen. Da sein alter Herr sich nicht unbedingt durch Sitzfleisch auszeichnete und er schon seit Tagen darauf brannte, seinem Gast alles zu zeigen, hoffte er, dass die Erwachsenen inzwischen die Terrasse verlassen hatten. Falls nicht… Nun, das Risiko musste er wohl eingehen. Es ließ sich nicht umgehen.

   „Ein Picknick? Au ja, cool.“ Suzannes Augen leuteten erfreut auf, was ihm allerdings prompt ein noch schlechteres Gewissen bescherte, als er es ohnehin schon hatte. Das Mädchen vertraute ihm blind, auch wenn er nicht wusste, womit er das verdient hatte. Und was war er im Begriff zu tun? Scheiße ja, er lockte sie gerade in eine üble Falle. Selbst, wenn er keine andere Wahl hatte, das war Fakt und nicht von der Hand zu weisen.

   Obwohl er sich immer wieder sagte, dass es keine andere Möglichkeit für ihn gab, spürte er, wie sich trotzdem jede einzelne Faser in seinem Innersten vehement gegen die Durchführung des Plans sträubte. Geradezu krampfhaft versuchte er sein Gewissen mit der Tatsache zu beruhigen, dass er schließlich die ganze Zeit über an Suzannes Seite bleiben und auf sie achtgeben würde. Ihr würde nichts geschehen und nach Beendigung der Sache verschwand er dann einfach für immer aus ihrem Leben. Das enthob ihn gleichzeitig der Verantwortung, ihr jemals wieder ins Gesicht blicken und sich ihren berechtigten Vorwürfen stellen zu müssen und das war gut so. Das war sogar verdammt gut, denn er fürchtete, dass er eine solche Situation nicht ertragen könnte. Letztlich konnte es ihm also gleichgültig sein, wenn er Suzannes Vertrauen in ihn jetzt schmählich missbrauchte. Oder?

   „Du bist plötzlich wieder so schweigsam. Hör zu, sag einfach, wenn du doch keine Lust hast. Ehrlich, du musst dich nicht verpflichtet fühlen, mich zu unterhalten.“

   Suzannes Worte rissen Marc aus seinen trüben Gedanken. „Nein, Blödsinn“, antwortete er hastig. „Ich überlege nur gerade, was ich alles aus dem Kühlschrank klauen will.“ Er grinste schief und hoffte, dass er überzeugend rüberkam.

   Sie hatten inzwischen das Haupthaus erreicht und gingen Seite an Seite die Stufen zur Terrasse hinauf, die sie, zu Marcs großer Erleichterung, tatsächlich verlassen vorfanden. Suzanne jedoch blieb verwirrt stehen und schaute sich um.

   „Hm, wollten die beiden nicht hier draußen sitzen?“

   „Haben sie auch“, antwortete Marc und deutete auf das benutzte und auf dem Rattantisch zurückgelassene Geschirr. „Vermutlich war es ihnen zu heiß hier draußen. Komm, ich hab´ `ne Ahnung, wo sie sein könnten.“ Er berührte Suzanne am Arm, betrat vor ihr den Eingangsbereich des Wohnhauses und wies nach links auf eine Tür, die am Ende eines langen Flures zu sehen war. „Ich schätze, dort wirst du sie finden. Das Büro meines Vaters ist der einzige klimatisierte Raum hier weit und breit und gleichzeitig die Buchhaltung. Ich verschwinde schnell mal in die Küche.“

   „Treffpunkt beim Jeep?“

   „In Ordnung.“ Er verspürte einen Kloß im Hals, doch ein Zurückrudern kam jetzt nicht mehr in Frage. „Sagen wir in zehn Minuten?“

   „Ich beeile mich“, versicherte Suzanne und setzte sich in Bewegung.

   Marc nickte lediglich zustimmend und bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung, wurde jedoch nach wenigen Schritten noch einmal aufgehalten, als er halblaut seinen Namen hörte.

   „Ja?“ Er drehte sich fragend um. Suzannes strahlendes Lächeln, das er selbst auf die Entfernung im Halbdunkel des breiten Flures erkennen konnte, versetzte ihm einen Stich. „Was ist?“ Er ertappte sich dabei, dass er sich unwillkürlich wünschte, dass sie es sich im letzten Moment noch anders überlegt hatte. Leider täuschte er sich.

   „Danke“, sagte sie stattdessen. „Ehrlich, ich finde es toll, wie viel Zeit du dir für mich nimmst. Damit hätte nie und nimmer gerechnet.

   „Schon okay“, brummelte er und trollte sich in Richtung Küche. Verdammt, warum musste sie auch immer so nett zu ihm sein? Dadurch fühlte er sich nur noch mieser, als er es ohnehin schon tat.

 

40. Kapitel

 

   Der Kühlschrank erwies sich leider als weniger gut gefüllt, als Marc gehofft hatte. Nun gut, dachte er, dann muss eben der Notfallproviant, den er letzte Nacht schon in den Wagen geschafft hatte, ausreichen. Er packte noch einige Stücke Obst in eine Tüte, packte diese in seinen Rucksack und fragte sich unwillkürlich, inwieweit wohl Mitch und Scott Vorsorge in Bezug auf Vorräte getroffen hatten. Außerdem war nie darüber gesprochen worden, wo die beiden ihre Geisel verstecken wollten? Ein nicht uninteressanter Aspekt, wenn es um die Wasservorräte ging. Verdammt! Hätte er den beiden doch mehr Fragen gestellt. Das mulmige Gefühl, dass er sich gerade blindlings auf ein ziemlich ungewisses Abenteuer einließ, verstärkte sich zusehends. Im Wagen befanden sich bereits ein voller Kanister und 2 Feldflaschen voll Wasser. Ob das wohl ausreichte? Ja, wenn sich in der Nähe des Verstecks ein Wasserloch befand. Falls nicht, nun, dann könnte es eng werden, wenn Mitch und Scott nicht regelmäßig im Versteck vorbeischauten. Kurzentschlossen griff er noch 2 zusätzliche Wasserflaschen und verließ die Küche.

   Nach einer kurzen Stippvisite in seinem Zimmer, wo er seine Shorts gegen eine weite Cargo-Bermuda getauscht und sich wenigstens noch ein T-Shirt unter die Weste gezogen hatte, erreichte er schon knapp fünf Minuten später den vereinbarten Treffpunkt, wo Suzanne ihn bereits erwartete.

   „Wo bleibst du denn?“, empfing sie ihn ungeduldig. Sie saß bei offener Tür mit seitlich aus dem Wagen heraushängenden Beinen auf dem Beifahrersitz des Jeeps und aus ihrem nervös, gespannten Gesichtsausdruck schloss er, dass die Botschafterin offensichtlich noch nicht mit seinem Vater über den ungeratenen Sohn gesprochen hatte. Für einen Moment lang wusste er nicht, ob er deswegen erleichtert, oder lieber doch frustriert sein sollte. Fast wäre es ihm lieber gewesen, wenn man ihm auf diesem Weg, quasi im letzten Augenblick, die Entscheidung noch abgenommen hätte. Doch es sah so aus, als wollte das Schicksal, dass er das Ding durchzog. Also gut, dann würde er sich der Herausforderung eben stellen.

    „Hey, ich bin voll in der Zeit", erwiderte er angesichts ihrer Ungeduld mit einem Schmunzeln. „Was ist? Bist du bereit?“, fragte er, obwohl er bereits ahnte, wie die Antwort ausfiel.

   „Ja, klar. Ich warte nur auf dich.“ Sie grinste unbekümmert. „Los, machen wir eine Safari. – Aber hey, ich will Löwen sehen." Sie zog die Beine in den Wagen, schloss die Tür und zwinkerte ihm zu. „Das ist eine Bestellung, Reiseguard. Dass das klar ist.

   Marc gestattete sich ebenfalls kurz zu grinsen. „Mal sehen, was sich machen läßt. Aber Mylady, nur damit auch das Folgende klar ist: Sie haben die Tour auf eigenes Risiko gebucht. Soll heißen: Versprechen kann ich nichts." Er warf den Rucksack auf den Rücksitz, schwang sich auf den Fahrersitz, startete den Wagen und lenkte ihn zielstrebig vom Gelände der Station in Richtung Buschland.

   Nachdem sie einige Minuten schweigend gefahren waren, registrierte er, dass Suzanne sich zunehmend mehr auf ihn, als auf die Gegend konzentrierte. „Alles in Ordnung? Willst du vielleicht umkehren?“

   „Nein, nein. Alles in Ordnung“, versicherte sie rasch. „Ich wollte nur noch mal… Ich finde das mit der Tour echt nett von dir. Vielen Dank."

   „Schon gut. Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken.“ Er blickte stur nach vorn.

   „Finde ich schon. Dein Vorschlag kam allerdings echt überraschend.“

   „Ich kann halt auch anders. Du kennst mich eben noch nicht."

   „Tja, was soll ich dazu sagen? Es freut mich, dass wir offenbar gerade dabei sind, das zu ändern.“ Er spürte, wie sich Suzannes warmes Lächeln verflüchtigte. „Was ist los? Stimmt was nicht?“

   Toll, offensichtlich hatte sein Gesichtsausdruck ihn verraten. Unmittelbar nachdem er den an sich harmlosen letzten Satz ausgesprochen hatte, war ihm dessen doppeldeutige Bedeutung aufgefallen. Jetzt, wo die Panik langsam wieder von ihm wich, und er etwas ruhiger wurde, fand er den Gedanken, Mitchs Plan umzusetzen, plötzlich gar nicht mehr so prickelnd. Aber was konnte er sonst tun? Nichts! Verzweifelt versuchte er sich einzureden, dass es okay war. Insbesondere da er ja, entgegen des ursprünglichen Plans, bei Suzanne bleiben und sie beschützen würde. Trotzdem: Sein schlechtes Gewissen blieb hartnäckig omnipräsent. Es wollte sich einfach nicht beiseite schieben lassen. Marc sagte sich immer wieder, dass es sein musste, dass ihm keine andere Wahl blieb und sein Ruf ja sowieso schon ruiniert war. Aber das änderte leider nichts an der Tatsache, dass er sich total scheiße dabei fühlte.

   „Marc? Sag doch was“, sprach Suzanne in seine Gedanken hinein. Ihre Stimme verriet, dass sein Verhalten sie verunsicherte. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

   Ja, ich hab´s vor Augen, dachte er. Es heißt Gewissen und es ist verdammt zäh. Laut sagte er: „Es ist Nichts. Ich ...ich überlege nur gerade, wo wir am besten unser Picknick abhalten könnten", redete er sich heraus und hoffte einmal mehr, dass sie ihm glaubte.

   „Ach, mach dir wegen mir da keine Gedanken. Ich bin pflegeleicht.“ Er warf ihr einen Seitenlick zu und sah, wie ihre Augen in dem Augenblick begeistert aufleuchteten. „Ehrlich, das ist mir egal. Halt einfach irgendwo an. Die Gegend ist fantastisch."

   „Ja, allerdings“, stimmte er einsilbig zu. „Das ist sie."

   „Ich kann wirklich gut verstehen, dass du an diesem Land so hängst."

   Nicht schon wieder. Wenn sie jetzt noch wieder vom Erhalt der Station anfing würde er sehr, sehr unfreundlich werden. „Ach ja, glaubst du? Sorry, aber ich denke nicht, dass du das kannst." Die Antwort war schneller heraus, als er sie unterdrücken konnte. Schon während Marc sprach, wusste er, dass er besser geschwiegen hätte.

   Suzanne wandte ihm ihr Gesicht zu. „Hey, was ist los mit dir? Hab' ich mal wieder was falsch gemacht? Dann bitte, sag, was du denkst.“ Sie wirkte verletzt. Kunststück. Er hatte mal wieder ganze Arbeit geleistet.

   „Nein, entschuldige, ich war nur gerade mit meinen Gedanken ganz woanders", versuchte er seine Reaktion abzuschwächen.

   „Schon gut, ich vesteh´ schon.“ Sie grinste. „Du machst gerade mal wieder einen Rückzieher und bemerkst es nicht einmal. Ich sollte mich wohl besser daran gewöhnen, was meinst du?“

   Er verzog sein Gesicht und war insgeheim erleichtert, dass sie sein Verhalten so interpretierte. „Nimm´s bitte nicht persönlich. Ich war noch nie ein großer Redner.“

   „Hm, das kann ich kaum glauben.“ Ihre Stimme klang jetzt neckend.

   „Das wird dir aber jeder bestätigen.“

   „Nun, ich denke, dass ich es besser weiß.“

   Marc stöhnte leise, während er den Wagen nach links auf eine Lichtung steuerte. Dort bremste er ab. „Okay, ich denke, das ist ein guter Platz."

   „Ist das dein Ernst?“ Suzanne blickte sich um. „Keine Löwen?“

   Verrückt. Sie schaffte es immer wieder, ihn zum Lächeln zu bringen. Selbst, wenn es ihm gar nicht nach Lachen zumute war. „Nein, sorry. Keine Löwen. Glaub´ mir, es ist besser so.“

   Suzanne lächelte zurück. „War nur ein Spaß. Mir ist jeder Platz recht. Ehrlich, ich finde es sehr schön hier."

   Marc drehte sich im Sitz und konzentrierte seine Aufmerksamkeit jetzt zum ersten Mal, seitdem sie gestartet waren, voll auf Suzanne. Sie sah wirklich hübsch aus: Das dunkle Haar hatte sie locker am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz gebunden, was ihre, soweit er es beurteilen konnte, nur minumal geschminkten, Gesichtszüge optimal zur Geltung brachte. Ihre Kleidung wirkte wirkte zwar teuer, war aber trotzdem schlicht und dem Anlass angemessen. Sie trug bequeme Bemuda-Shorts aus dunkelblauem Jeansstoff und an den Füßen passend dazu leichte Stoffsneakers in der gleichen Farbe. Als sie sich ihm nun ebenfalls zuwendete verrutschte die weiße, kurzärmelige Hemdbluse, die eindeutig etwas zu groß für sie schien. Auf ihrer bloßen, gebräunten Schulter war der breite Träger eines hellgelben, ärmellosen Tops zu sehen, dessen runder Ausschnitt perfekt Suzannes Schlüsselbeinknochen und Dekolleté betonte. Die Bluse war nur halb zugeknöpft und die unteren Enden hatte Suzanne vor dem Bauch geknotet. Marc staunte, wie jemand gleichzeitig so edel aussehen, und dabei doch ganz natürlich wirken konnte.

   Neulich Abend beim Botschaftsempfang hatte sie fantastisch ausgesehen, aber so, wie sie ihm jetzt gegenüber saß, gefiel sie ihm noch tausendmal besser. Der Gedanke, dass sie sich unter normalen Umständen vielleicht sogar hätten anfreunden können, löste spontan ein leises Bedauern in seinem Inneren aus. So sehr es ihm auch widerstrebte: Marc musste zugeben, dass er sich in Bezug auf Suzannes Charakter gründlich geirrt hatte.

   „Stimmt was nicht mit mir?“, fragte sie leise. „Du starrst mich an.“

   Sein Blick fiel auf Suzannes Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Sie wirkte ruhig, doch ihr ständiges Fingerineinanderkneten verriet ihm, dass sie immer noch verunsichert war. Ein weiterer Charakterzug, der sie sympathisch machte. Auf der einen Seite war sie ein sehr selbstbewusstes Mädchen, das ohne zu zögern für ihre Überzeugungen eintrat und, wenn sie es für nötig hielt, auch für Andere kämpfte. Auf der anderen Seite war ihm schon mehrfach aufgefallen, dass sie sich manchmal durch Kleinigkeiten aus der Fassung bringen ließ. Paradox, aber genau so verhielt sie sich.

   „Marc?“

   „Nein, sorry“, wehrte er eilig ab. „Mach dir keine Gedanken. Es ist alles in Ordnung.“

   „Okay. – Dann … helf´ ich dir jetzt mal beim ausräumen. In Ordnung?", fragte sie scheinbar wieder unbefangen, während sie ausstieg.

   „Lass stecken. Das mach ich schon alleine. Sieh' dich hier ruhig inzwischen ein bisschen um."

   „Wow, wie nett. Da sag ich nicht Nein." Suzanne schnappte sich ihre große Tasche, wühlte darin nach ihrem Smartphone und trottete davon.

   „Hey."

   Sie blieb stehen und drehte sich fragend zu ihm um.

   „Dir ist aber schon bewusst, dass du hier keinen Empfang hast?“

   Sie lachte fröhlich. Der Anflug von Unsicherheit war definitiv wieder verschwunden. „Klar, aber das Teil macht auch richtig gute Fotos. Dafür brauche ich keinen Sendemast in der Nähe.“ Sie richtete den Auslöser spielerisch auf Marc. „Lächeln, dann kriegst du ein Beweisfoto.“

   „Nicht nötig, ich glaube dir.“ Marc hob automatisch einen Arm vor sein Gesicht. „Hey, tu´ mir einen Gefallen. Geh´ nicht zu weit vom Wagen weg, okay? Behalt´ deine Umgebung im Auge und bleib´ in Rufweite.“

   „In Ordnung, Dad“, spottete Suzanne. „Mach dir keine Sorgen. Ich bin schon groß und kann prima auf mich aufpassen."

**********

   Marc verharrte regungslos im Wagen, bis Suzanne endlich außer Sichtweite war. Seine Augen hypnotisierten das Funkgerät. Ein Funkspruch, ein einziger nur und alles geriet unweigerlich ins Rollen. Zögernd streckte er die Hand aus und ließ seine Finger mehrere Sekunden lang unentschlossen über den Knöpfen schweben. Schließlich atmete er einmal tief durch und aktivierte den Sender.

   „Alles Roger“, sprach er mit überraschend fester Stimme in das Funkgerät, bevor er die Verbindung sofort wieder unterbrach. Schließlich erwartete er keine Antwort.

   Es war vollbracht! Er hatte es tatsächlich getan! Marc konnte es selbst kaum fassen! Der Treffpunkt war abgesprochen. Jetzt musste er nur noch abwarten, bis Mitch und Scott hier aufkreuzten und sie über die geänderten Grundvoraussetzungen informieren. Die beiden würden bestimmt nicht begeistert reagieren, aber er dachte nicht im Traum daran, seine dahingehenden Pläne zu ändern. Es würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als die Fakten zu akzeptieren. Er warf einen Blick auf seine Hand, deren unkontrolliertes Zittern sich langsam wieder normalisierte. Es war so verflucht einfach gewesen. Beinahe beängstigend einfach. Einmal einen Knopf drücken und zwei Worte in den Sender sprechen. Ernsthaft: Das war fast schon zu einfach.

   Marc blies die Wangen auf, stieg aus dem Wagen und reckte sich, um die Anspannung in seinem Körper zu lockern. Zeit, das Picknick vorzubereiten. Suzanne hatte noch ein wenig unbeschwerte Zeit verdient, bevor es ernst wurde.

**********

   Fertig. Mit gemischten Gefühlen blickte Marc in Gedanken versunken auf die ausgebreitete Decke zu seinen Füßen.

   „Wow, das sieht ja toll aus.“

   Es gelang ihm gerade noch, ein Zusammenzucken zu unterdrücken. Unbemerkt von ihm war Suzanne zurückgekommen und schaute mit strahlenden Augen auf die Decke zu ihren Füßen, auf die er die mitgebrachten Kleinigkeiten aus der Küche der Station ausgebreitet hatte. Sie ließ sich im Schneidersitz nieder und zupfte an seinem Arm.

   „Komm, setz dich her und lass uns essen."

   Schweigend folgte Marc der Aufforderung und setzte sich Suzanne gegenüber. Die griff bereits tüchtig zu.

   „Hey, was ist los? Du isst ja gar nichts“, sagte sie kauend.

   Marc war der Appetit gründlich vergangen. Nervös blickte er ein ums andere Mal auf seine Armbanduhr. Wie lange mochte es wohl noch dauern bis Mitch und Scott hier ankamen?

   Suzanne griff nach einer Flasche Wasser, hielt aber nach einem Blick in sein Gesicht mitten in der Bewegung inne. „Nun sag schon, was stimmt nicht mit dir?", fragte sie ernst. „Ich seh´ dir doch an, dass da was ist.“

   „Nichts.“ Es gelang Marc trotz aller Bemühungen nicht, Suzanne offen in die Augen zu blicken. „Ehrlich, es ist nichts. Alles in Ordnung.“

   Verdammt nochmmal, was redete er da! Nichts war in Ordnung! Gar nichts! Was zum Teufel hatte er getan? Verrückt! Er musste komplett verrückt gewesen sein, diesen Funkspruch loszulassen. Er musste das wieder in Ordnung bringen. Die Sache geradebiegen. Irgendwie. Ganz egal, was das für Folgen für ihn haben würde. So ging es auf jeden Fall nicht. Er konnte bei diesem Plan einfach nicht mitspielen. Nein, unmöglich!

   „Los, komm!", befahl er wie aus heiterem Himmel, sprang auf und raffte mit beiden Händen hektisch ihre Sachen zusammen. „Lass uns fahren!"

   „Aber… Warum das denn?", fragte Suzanne verwundert. „Wir haben uns doch gerade erst hingesetzt.“

   „Weil ich es sage!", gab er barsch zur Antwort. „Ich bin der Guard, schon vergessen? Ich bin derjenige, der sich hier draußen auskennt. Na los, mach schon. Hilf mir.“

   Suzanne blickte ihn aufs höchste erstaunt und, wenn er ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, mit aufkommender Wut an.

   „Suzanne. BITTE!" Er legte einen fast flehenden Unterton in seine Stimme. „Ich erklär´s dir später, okay?“

   „Okay, wie du meinst."

   Endlich kam sie auf die Füße und war ihm, offensichtlich ziemlich sauer, dabei behilflich, ihre Sachen zusammenzupacken und anschließend wieder im Jeep zu verstauen. Marc beschloss, dass er darauf jetzt keine Rücksicht nehmen konnte. Mit ihrer verständlichen Wut auf ihn würde er sich später auseinandersetzen. Jetzt ging es um jede Minute. Sie mussten hier verschwinden. Sofort, wenn er noch eine Chance haben wollte das Unheil abzuwenden.

   Unauffällig blickte er über die Schulter, ob womögich schon irgendwo eine Staubwolke einen herannahenden Wagen ankündigte. Er gestattete sich ein erleichtertes Aufatmen. Noch war nichts zu sehen.

   „Nun mach schon. Beeil dich“, trieb er Suzanne noch einmal an und als sie schließlich kopfschüttelnd einstieg, drückte er das Gaspedal, kaum dass sie saß, derartig durch, dass sie beide rücklings in die Lehnen gepresst wurden.

   Es war Marc durchaus klar, dass dieser überstürzte Abgang etwas Fluchtartiges an sich hatte, und dass er sich besser schon mal ein paar glaubwürdige Ausreden für später einfallen lassen sollte. Würde er, doch jetzt mussten sie erst einmal hier weg. Er steuerte den Wagen in die entgegengesetzte Richtung immer tiefer in die Wildnis hinein. Eine andere Möglichkeit blieb ihm nicht. Wenn er zurück in Richtung Station fuhr, dann würden sie Mitch und Scott mit an Sicherheit grezender Wahrscheinlichkeit direkt in die Arme fahren. Er konnte nur hoffen, dass die Beiden sich in dem Gelände nicht wirklich gut auskannten. Er hingegen kannte den Busch seit Kindesbeinen. Das konnte den entscheidenden Unterschied machen und das war ihr großer Vorteil. Vielleicht der Einzige, den sie hatten.

   Er musste Suzanne in Sicherheit bringen. Unbedingt! So wird man unversehends vom Kidnapper zum Beschützer, dachte er im Stillen, während Suzanne schweigend neben ihm saß. Je größer der Abstand zwischen dem Jeep und der Lichtung wurde, desto ruhiger wurde auch Marc wieder. Was ihn anging. konnte der Abstand gar nicht groß genug werden.

**********

   Währenddessen erreichten Mitch und Scott mit einem Lieferwagen der Base die Lichtung. Nachdem sie das Fahrzeug in einer mächtigen Staubwolke zum Stehen gebracht hatten, blickten sie sich verwundert um.

   „Was soll das?“, wunderte sich Scott. „Wo zum Teufel stecken die?“

   „Keine Ahnung", erwiderte Mitch. „Bist du sicher, dass das die richtige Lichtung ist?"

   Scott warf einen Kontrollblick auf die Koordinaten. „Klar, wir sind genau richtig. Vielleicht hat der sich ja geirrt und wartet an einer anderen Stelle.“

   Ein plötzlicher Anfall von Wut verzerrte Mitchs gutaussehende Gesichtszüge, als ihm mit einem Mal klar wurde, was passsiert war. „Das denke ich nicht“, knurrte er. „Der Typ ist hier geboren, der kennt sich aus. Nein, ich befürchte eher, der wartet überhaupt nicht auf uns. Der Saftarsch hat vermutlich im letzten Augenblick kalte Füße gekriegt und mit dem Mädchen die Biege gemacht.“

   „So dämlich wird er ja wohl nicht sein. Außerdem … hätten wir dann nicht unterwegs seinem Wagen begegnen müssen?“

   „Nicht unbedingt“, grollte Mitch angefressen. „Was ist, wenn er darauf vertraut, dass wir uns nicht auskennen und erstmal weiter in den Busch gefahren ist? Los, komm, wir schauen uns hier mal was genauer um."

**********

   Etliche Meilen entfernt trat Marc hart auf die Bremse und brachte den Jeep in einer Staubwolke zum Stehen.

   „Und? Was wird das jetzt? Picknick zum Zweiten.", stichelte Suzanne. Sie verstand einfach nicht, warum sie eben so überstürzt hatten einpacken müssen. Marcs Verhalten verwirrte sie zutiefst. Sie war wütend, gekränkt und … aus irgendeinem unerfindlichen Grund auch misstrauisch, realisierte sie, als sie in sich hineinhorchte. Er verhielt sich aber auch zu merkwürdig.

   Marc schüttelte den Kopf. „Nein, kein Picknick mehr. Ich verschwinde nur mal kurz hinter die Büsche, wenn's recht ist. Und dann bringe ich uns zurück zur Station."

   „Bitte, mach, was du willst", antwortete sie spitz, ohne ihn dabei anzusehen. Aus den Augenwinkeln realisierte sie, dass er ausstieg und einen Moment lang unschlüssig neben dem Wagen stehenblieb. „Was ist? Ich dachte, du hast es eilig?“

   „Warte hier auf mich, okay?“, bat er leise. „Bleib im Wagen und rühr´ dich nicht von der Stelle. Zu deiner eigenen Sicherheit.“

   „Ja, klar“, sagte sie bitter. Wer war er, dass er ihr jetzt auch noch Befehle gab? Selbst, wenn er sich jetzt zerknirscht anhörte. Dieses Mal würde sie ihm sein Verhalten nicht so schnell verzeihen, das stand fest. „Keine Sorge, ich hatte bestimmt nicht vor, dir Hilfestellung zu leisten."

   Einen kurzen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Marc noch etwas sagen, doch dann verschwand er, ohne weiter auf ihre Bemerkung einzugehen, im dichten Gestrüpp und sie blieb alleine im Jeep zurück.

**********

   „Hier sind Reifenspuren", sagte Scott zu seinem Kumpel und ging in die Knie, um seine Entdeckung näher zu begutachten. „Ich verwette meinen Arsch, dass die hier waren.“

   Mitch kam näher, bückte sich und begutachtete die Abdrücke auf dem trockenen Boden: „Die sind ganz frisch.“, sagte er danach sauer. „Du hast recht, sie waren hier. Verdammt, ich hätte wissen müssen, dass dieser kleine Scheißer den Schwanz einzieht, wenn´s drauf ankommt.. Aber das hat er nicht ungestraft verbockt, das garantiere ich dir.“

   „Du kannst Spuren lesen?“ Scott schien beeindruckt.

   „Nein, dazu hätten wir einen der Eingeborenen mitnehmen müssen. Aber dass diese Spuren noch nicht alt sind, das sehe sogar ich.“

   „Ich hoffe, du kannst sie auch auf anderem Untergrund verfolgen. Je nachdem, wo der Arsch langgefahren ist, werden die Spuren nicht immer so gut zu sehen sein. Ich bin aber nach wie vor dafür, dass wir die Eingeborenen aus dem Kidnapping raushalten."

   „Absolut“, simmte Mitch zu. „Die Deppen verdienen eh schon genug an uns. Wenn wir sie nicht so dringend bräuchten, würde ich…“ Er ließ das Ende des Satzes offen und machte eine Pause, bevor er weitersprach „Fakt ist, ich will sie so lange wie möglich da raushalten. Es wäre nicht gut, wenn die noch mehr über unsere kleinen lukrativen Nebengeschäfte erfahren. Das könnte für uns zu `nem echten Boomerang werden. Diese Neandertaler wissen eh schon viel zu viel. “

   „Schon klar.“ Scott kicherte. „Neandertaler ist gut.“ Seite an Seite mit Mitch schlenderte er zurück zu ihrem Wagen. „Aber was unternehmen wir, wenn wir die Spur verlieren sollten?“

   „Darüber denken wir nach, wenn es soweit ist“, entschied Mitch. „Lass uns erstmal sehen, wie weit wir kommen. Ehrlich, deine Schwarzseherei geht mir manchmal ganz schön auf den Geist. Wer weiß, vielleicht haben wir ja Glück."

   „Ich mein ja nur, wär´doch schade, wenn uns dieser Goldfisch durch die Lappen ginge."

   „Das wird nicht passieren“, kommentiert Mitch mit fester Stimme. „Wir finden die beiden und dann sind sie reif. Fahr los, aber mach nicht so viel Wind. Fahr vorsichtig, damit wir auch was sehen.“

   Nach etwas mehr als 5 Minuten Fahrt gab Mitch Scott ein Zeichen zum Anhalten. „Ich kann nichts mehr erkennen. Was ist mit dir?“, fragte er ohne große Hoffnung zu haben.

   Scott schüttelte wie erwartet den Kopf: „Verfluchte Scheiße!", fluchte er voller Inbrunst und hämmerte mit der Faust aufs Armaturenbrett. „Wir haben sie verloren. Und jetzt?“

   Mitch war mindestens ebenso sauer und stierte mit zusammengekniffenen Augen angestrengt durch die Windschutzscheibe auf das brach vor ihnen liegende Gelände, wo außer ein paar Wurzeln und trockener Erde nichts zu erkennen war. Doch plötzlich erhellte sich sein Gesichtsausdruck.

   „Was ist los?“, fragte Scott sofort, der seinen Kumpel genau beobachtete. „Nun sag schon.“ Er folgte mit den Augen Mitchs Blicken. „Also, ich seh´ da nix.“

   „Ich auch nicht. Halt die Klappe. Mir ist da gerade ein Gedanke gekommen…“ Mitch streckte eine Hand aus und griff nach dem Funkgerät. „Ist auf jeden Fall einen Versuch wert.“

 

41. Kapitel

 

 

 

   „Ganz ehrlich? Du kannst mich mal, Marc Gilbert“, murmelte Suzanne wütend, als Marc außer Sichtweite war. Sie griff nach ihrer Tasche und wühlte erneut auf der Suche nach ihrem Smartphone darin herum. „Wenn der Ausflug schon so `ne Pleite ist, will ich wenigstens ein paar vernünftige Fotos haben. – Ah, da ist es ja.“ Sie hatte ihr Handy gefunden und legte gerade die Hand an den Türknauf als plötzlich das Funkgerät zu piepsen begann. Sie hielt inne und stutzte.

 

   Es knackte und knarzte ein paar Mal, bevor schließlich laut und deutlich eine ihr unbekannte männliche Stimme aus dem Gerät kam. „Hallo? Hallo, hört mich da draußen jemand? Marc? Bist du da? Marc Gilbert, bitte melde dich."

 

   Die Botschaft verfügte ebenfalls über ein Funkgerät, das Suzanne schon einige Male genutzt hatte, um mit ihrem Freunden auf der Basis in Kontakt zu treten, daher reagierte sie prompt. Sie holte das Gerät aus der Halterung, drückte mit einer Hand den Empfangsknopf, während sie mit der anderen ein wenig an den anderen Knöpfen drehte, um den Empfang zu verbessern.

 

   „Hallo? Hier spricht Suzanne Banks. Wer ist da?“

 

   „Wo ist Marc?“, kam es knatternd aus dem Lautsprecher.

 

   „Er ist gerade nicht in Reichweite, kommt aber gleich zurück. Kann ich was ausrichten? Wer spricht denn dort?“

 

   Nach einer kurzen Pause antwortete die Stimme aus dem Funkgerät: „Hier spricht der nationale Sicherheitsdienst. Es geht darum, dass die angemeldete Route ohne unser Wissen geändert wurde. Hast du eine Ahnng, warum Marc das gemacht hat? Steckt ihr in Schwierigkeiten?“

 

   Einen Moment lang spielte Suzanne mit dem Gedanken, Marc in die Pfanne zu hauen, doch dann entschied sie sich dagegen. „Nein“, sagte sie daher ehrlich. „Machen Sie sich keine Sorgen. Bei uns ist alles in Ordnung. Ich wusste gar nicht, dass man solche Ausflüge anmelden muss.“

 

   „Doch“, kam prompt die Antwort aus dem Gerät. „Wir brauchen euren aktuellen Standort. Nur zur Sicherheit, falls was passiert.“

 

   „Klar, ich verstehe. Ich kann Ihnen da leider nicht weiterhelfen. Ich weiß nicht, wo genau wir gerade sind. Marc müsste aber gleich wieder da sein. Ich sag ihm, dass er sich bei Ihnen melden soll.“

 

   „Das wird nicht nötig sein. – Schau dich mal im Wagen um. Siehst du dort irgendwo einen Kompass?"

 

   Den zu finden war nicht weiter schwer, denn er war direkt neben dem Funkgerät am Armaturenbrett befestigt. „Ja, hier ist einer."

 

   „Sehr gut, lies einfach ab, was du dort siehst. Mit den Angaben kommen wir dann schon zurecht."

 

   Suzanne tat, was von die Stimme von ihr verlangt hatte und fügte abschließend hinzu: „Wenn Marc wieder da ist, wollen wir zurück zur Station von Mr. Gilbert. Reicht Ihnen das?“

 

   „Ja, danke, das reicht. Gut, zu wissen. Schönen Nachmittag noch und gute Fahrt. Over and out.“

 

   „Over and out", antwortete Suzanne, beendete die Verbindung und murmelte leise vor sich hin: „Euch auch einen schönen Tag. Meiner ist gerade … hm … irgendwie merkwürdig.“ Geistesabwesend schaute sie in die Ferne, während ihre Hand nach der Halterung tastete, um die Sprechmuschel des Funkgerätes wieder einzuhängen. „Man könnte auch sagen, er geht gerade den Bach runter.“

 

    „Hey, was zum Teufel tust du da. Finger weg!“ Marcs Worte schnitten scharf wie ein Rasiermesser in Suzannes Bewusstsein und sie zuckte erschrocken zusammen.

 

**********

 

   Marc hatte sich in zweierlei Hinsicht erleichtert. Zum einen war er dem biologischen Ruf seiner Blase gefolgt, und zum zweiten war er danach noch einige Minuten einfach auf und ab gegangen, um seine Nerven etwas zu beruhigen. Anhand von Suzannes Reaktionen war ihm klar, dass er ihr eine Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten liefern musste und genau das gedachte er nach seiner Rückkehr zu tun. Doch zuvor musste er sich unbedingt erst ein wenig sammeln. Runterkommen und nachdenken, wie es nun weitergehen sollte.

 

   Alles in Allem war er deutlich friedfertiger gestimmt, als er sich endlich auf den Rückweg zum Jeep machte. Das änderte sich allerdings umgehend wieder, als er schon von Weitem bemerkte, wie sie im Wageninneren mit dem Funkgerät hantierte. Das konnte nichts Gutes zu bedeuten haben. Noch während er seine Schritte beschleunigte, spürte er, wie die nächste Panikattacke unaufhaltsam auf ihn zurollte.

 

   Seine scharfe Ansprache ließ Suzanne sichtlich zusammenzucken und sofort tat ihm sein unbeherrschter Tonfall leid: „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Nimm´s mir bitte nicht krumm, aber hier draußen kann ein Funkgerät lebenswichtig sein. Es könnte fatale Auswirkungen haben, wenn du es kaputt machst.“

 

   Ihr Blick wirkte verletzt, als sie sich zu ihm umdrehte, doch ihre Stimme hörte sich seltsam kalt an. „Reg dich nicht auf. Ich bin durchaus in der Lage, mit einem Funkgerät umzugehen“, antwortete sie kurz. „Keine Angst, ich mach schon nichts kaputt.“

 

   Er zwang sich, ruhig zu bleiben und hob beschwichtigend beide Hände. „Hey, bitte… Ich konnte ja nicht wissen, dass du damit umgehen kannst.“

 

   „Nein, das konntest du nicht.“ Sie klang etwas besänftigt und musterte ihn mit prüfend zusammengezogenen Augebrauen. „Der nationale Sicherheitsdienst hat sich gemeldet. Du hast in der Hektik vergessen die Routenänderung durchzugeben. Ich habe den Kompass abgelesen und ihnen außerdem mitgeteilt, dass wir uns gleich auf den Rückweg machen wollen. Es ist also alles in Ordnung. Du brauchst nichts mehr zu unternehmen.“

 

   „Was?“ Marc wurde es bei Suzannes Worten ganz übel und er spürte, wie er blass wurde. Das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen wegschwamm, wurde so extrem, dass er sich vorbeugen und mit beiden Händen Halt auf der Motorhaube suchen musste. „Was hast du getan?“, fragte er tonlos mit gesenktem Kopf.

 

   Suzanne verdrehte genervt die Augen. „Ich sagte, ich habe dem nationalen Sicher…“

 

   Sein Kopf fuhr herum und er blitzte sie durch die Windschutzscheibe wütend an. „Scheiße, ich bin nicht taub! Ich hab´ verstanden, was du gesagt hast.“ Er schlug sich mit der flachen Hand auf vor die Stirn. „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Kann man denn noch nicht mal in Ruhe pinkeln gehen?“

 

   Ohne weitere Erklärung schwang er sich hinters Steuer und startete so heftig durch, dass die Reifen prompt durchdrehten und Suzanne hart in den Sitz gedrückt wurde.

 

   „Hey, was machst du denn?“, schrie seine Sitznachbarin erschrocken auf. „Halt sofort an. Ich sagte anhalten! Sag mal, spinnst du jetzt total?!"

 

   „Ich? Der Witz ist gut. Sorry, aber ich lache später!" Marc fuhr so schnell, wie die äußeren Gegebenheiten es gerade noch erlaubten. Dummerweise befanden sie sich in ziemlich unwegsamem Gelände, doch er ignorierte die mangelhaften Stoßdämpfer des Jeeps und drückte das Gaspedal wo immer es ging bis zum Anschlag nach unten. Der Wagen ächszte, hüpfte und sprang über Wurzeln, Äste und Erdhügel. Es war mehr als waghalsig, was er da tat, doch die Panik trieb ihn weiter.

 

   Er riskierte einen schnellen Seitenblick und sah, dass Suzanne große Mühe hatte, sich festzuhalten. Sie schleuderte mehr oder weniger haltlos auf dem Beifahrersitz von rechts nach links. Er erkannte ihren völlig entsetzten Gesichtsausdruck, während sie offensichtlich versuchte, ihre Füße irgendwo im Fußraum zu verankern, um Halt zu bekommen. Sie musste ihn für total verstört halten, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Auch nicht auf ihr Stöhnen, als der Wagen erneut einen unkontrollierten Hüpfer machte und ihre Knie mit dumpfem Knall hart unter das Armaturenbrett knallten. Sie konnte natürlich nicht verstehen, dass er so handelte, aber er tat es für sie beide.

 

   „Verdammt noch mal, Marc. Halt sofort an!“

 

   Er ignorierte den eindeutig hysterischen Unterton in ihrer Stimme, schaute stur nach vorn und schwieg eisern.

 

   „Was soll der Scheiß? Halt an!“

 

   „Gleich“, presste er hervor, während er mit einem halsbrecherischen Manöver einer großen Baumwurzel auswich, die vermutlich einen Achsbruch zur Folge gehabt hätte, wenn er direkt darüber gefahren wäre.

 

   Durch die Schleuderbewegung des Wagens prallte Suzanne mit der rechten Schulter seitlich gegen die Tür und schrie laut auf: „Sofort!“

 

   „Nein!“

 

   „Wenn du nicht sofort anhältst, springe ich raus!“, drohte sie.

 

   „Den Teufel wirst du tun“, knurrte er und machte keinerlei Anstalten, Suzannes Befehl Folge zu leisten.

 

   Plötzlich geschah etwas, was er nicht vorhergesehen hatte. Außer sich vor Wut griff Suzanne ihm ins Lenkrad. Vermutlich wollte sie ihn so zum Anhalten zwingen, doch sie erreichte mit ihrer panischen Aktion leider das Gegenteil, und machte alles nur noch Schlimmer. Marc verriss das Steuer und bekam den Jeep nicht mehr unter Kontrolle. Er versuchte zwar noch gegenzulenken, doch er hatte keine Chance das Unheil noch abzuwenden.

 

   „Festhalten!“, brüllte er laut, während er nach wie vor noch versuchte, die Gewalt über den Wagen wieder zu erlangen. Vergebens.

 

   Der Jeep geriet in Schlingern, brach durch das Geäst eines vertrockneten Busches, rutschte eine Böschung hinunter und eine Schrecksekunde lang dachte Marc, dass sie sich überschlagen würden, doch glücklicherweise krachte das bereits abgehobene Heckteil des Wagens wieder hart nach unten. Nach einigen bangen Sekunden kamen sie endlich mit einem lauten Platschen im schlammigen Ufermorast eines Wasserloches zum Stehen. Ein paar der dort anwesenden Tiere ergriffen darauhin erschrocken die Flucht.

 

   Marc schnappte ein paar Mal heftig nach Luft, da er mit dem Brustkorb heftig auf das Lenkrad geknallt war. „Wow“, sagte er schließlich leise. „Sieht so aus, als hätten wir noch mal Glück gehabt. Alles okay bei dir?“

 

   Von rechts kam keine Antwort und ihn packte ihn die nackte Angst. Bitte nicht, flehte er stumm und schielte vorsichtig zur Seite.

 

   Suzanne lag vornübergebeugt mit dem Oberkörüer auf dem Armaturenbrett und gab keinen Ton von sich. Ein paar kleine Blutstropfen bahnten sich ihren Weg auf den Kunstststoff der Ablagefläche. Zutiefst erschrocken berührte er mit der Hand ihren Arm.

 

   „Suzanne! Ist dir was passiert? Sag doch was. Bist du in Ordnung?"

 

   Mit einem wütenden Aufschrei kam wieder Leben in Suzanne. Über den Schaltknüppel hinweg versuchte sie sich auf ihn zu stürzen. Dabei prügelte sie mit beiden Händen gleichzeitig auf ihn ein.

 

   „Du Scheißkerl!“, schrie sie vollkommen außer sich. „Du vollkommen verblödeter, absoluter, kompletter Vollidiot! Du ... du... Arschloch!"

 

   Es kostete Marc einige Mühe, die überraschende Attacke abzuwehren, doch schließlich bekam er Suzannes Handgelenke zu packen und hielt sie kurzerhand fest. Damit machte er sie allerdings nur noch rasender.

 

   „Lass mich los! Fass mich nicht an! Loslassen sag ich! Sofort, hörst du!"

 

   „Nur, wenn du damit aufhörst, mich zu schlagen! Du bist völlig hysterisch und ich will nicht zurückschlagen müssen!" Marcs Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte. „Bitte, Suzanne. Beruhige dich.“

 

   Seine Ansage schien zu wirken. Suzanne atmete ein paar Mal tief durch und starrte ihn immer noch wütend an. Aber sie stellte wenigstens das Prügeln ein und schrie auch nicht mehr herum. Zu seiner Erleichterung konnte er nun auch erkennen, woher das Blut kam: Ein kleiner Cut über der linken Augenbraue. Nicht weiter schlimm, soweit er es erkennen konnte und es hatte auch schon fast wieder aufgehört zu bluten.

 

   „Sieh' nur, was du angerichtet hast!", warf sie ihm mit zitternder Stimme vor.

 

   „Ich? Wer hat mir denn ins Steuer gegriffen?!", gab er erbost zurück. „Wenn du das nicht getan hättest, wäre überhaupt nichts passiert.“

 

   „Du bist gefahren wie ein Irrer!“, verteidigte sie ihr Handeln. „Ich weiß nicht mal, warum. Ich hatte Angst!"

 

   Scheiße ja, sie hatte recht und irgendwie konnte er sie ja sogar verstehen. „Ich hatte meine Gründe!", antwortete er trotzdem mehr als lahm.

 

   „Ja, mag ja sein. Aber zum Teufel, was für Gründe?! Was kann einen normalerweise besonnenen Menschen dazu veranlassen, so total durchzudrehen?"

 

   „Das würdest du nicht verstehen."

 

   „Versuch's! Erklär´ es mir.“ Dieses Mädchen ließ einfach nicht locker.

 

   „Wozu? Es hätte keinen Sinn!"

 

   „Bitte, Marc. Versuch´s. Versteh´ doch: Ich … ich geb´ mir echt Mühe, keine Angst vor dir zu haben, aber nach allem, was in letzter Zeit geschehen ist und was ich über dich weiß… Und jetzt legst du plötzlich dieses irre Verhalten an den Tag. Es fällt mir einfach schwer…"

 

   „Was du glaubst über mich zu wissen“, verbesserte er stoisch. „Ich sagte doch, du kennst mich nicht mal andeutungsweise.“ In Wahrheit bin ich noch viel schlimmer, als du dir vorstellen kannst, setzte er in Gedanken hinzu. So war es doch. Auch, wenn er das so nicht gewollt hatte: Suzannes Angst vor ihm hatte absolut ihre Berechtigung.

 

   „Versetz´ dich doch mal in meine Situation“, verlangte sie, nun wieder mit fester Stimme. „Ich bin dir hier draußen ausgeliefert und ich sollte dir vertrauen, dass du weißt, was du tust. Aber ganz ehrlich, das kann ich gerade nicht. Willst du wissen, wie ich mich fühle, ja?“ Energisch wischte sie sich mit der Handfläche das Blut von der Stirn, wobei sie einen Großteil lediglich verteilte. „Ich werd´s dir verraten: Beschissen! Ich fühle mich total beschissen! Ich habe Angst und ich hasse es, Angst zu haben! Ich wünschte von Herzen, dass ich nicht mitgekommen, sondern auf der Station geblieben wäre. Ach, was red´ ich. Ich hätte in der Botschaft bleiben sollen. Ja, ich bereue zutiefst, deine Einladung für diesen Ausflug angenommen zu haben.“ Je länger sie sprach, desto lauter wurde sie und in ihrer Stimme klang schon wieder dieser Unterton von aufkommender Hysterie durch.

 

   „Ich versteh´ dich ja, aber glaub mir, ich wusste genau, was ich tue“, antwortete er mit gesenktem Kopf. „Du kannst mir vertrauen.“

 

   „Da bin ich mir nicht so sicher“, gab sie ebenso leise zurück.

 

   Lieber Himmel, sie hat ja recht, dachte Marc wieder. Ihm war klar, dass es nach seiner Harakiri-Aktion noch schwieriger sein würde, ihr Vertrauen zurück zu gewinnen. Er musste unbedingt eine glaubhafte Erklärung für sein Verhalten finden. Schnell, denn eine hysterische Suzanne war definitiv in ihrer Lage noch gefährlicher als eine wütende. „Du blutest“, wich er aus und hob eine Hand an ihr Gesicht. „Lässt du mich mal sehen?“

 

   „Vergiss es!“ Sie spie ihm die Worte förmlich entgegen und drehte ruckartig den Kopf zur Seite. „ Wenn du glaubst, ich merke nicht, was du hier für ein Spiel spielst, hast du dich geschnitten. Was war da eben los? Was sollte das? Ich warne dich: Komm mir jetzt bloß nicht mit irgendeinem Scheiß!“

 

    „Da... Da waren..." Marc kramte verzweifelt in seinem Hirn nach einer passenden Ausrede. „Schlangen", sagte er dann einer plötzlichen Eingebung folgend.

 

   „Schlangen? Was für Schlangen?" Suzanne wirkte konsterniert.

 

   „Ja, ich wollte dich eben nicht beunruhigen, aber da waren eine Menge Schlangen in der Nähe. Ein Nest. Ich hab´s zufällig gefunden, als ich pinkeln war."

 

   „Ach, sehr merkwürdig. Ich habe keine einzige Schlange gesehen." Ihr Misstrauen war förmlich spürbar.

 

   „Vermutlich, weil du im Wagen geblieben bist", blieb er unerschütterlich bei seiner Aussage. „Aber ich hab´ sie gesehen und sie waren ganz in der Nähe. Sie hätten herüberkommen können.“

 

   Suzanne schüttelte zweifelnd den Kopf. „Ich meine, auf der Lichtung hätte ich das ja noch verstehen können. Aber dort? Es sollte doch nur ein kurzer Halt sein."

 

   „Ein kurzer Halt reicht aus. Eine oder mehrere hätten unbemerkt ins Auto kriechen können.“

 

   „Was ist mit deinem guten Verhältnis zu Tieren.“

 

   „Nicht zu Schlangen“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.

 

   „Aber dass du deshalb gleich so durchdrehst…?“

 

   „Ja. Na und! Ich hasse Schlangen." Er zuckte mit den Achseln und  tröstete sich damit, dass wenigstens das nicht gelogen war. Weiteren Diskussionen ging er aus dem Weg, indem er den Wagen verließ und prompt knietief im schlammigen Ufermorast versank. „Oh, Mann. Sieht nicht gut aus.“ Vorsichtig stakste er um den Jeep herum und besah sich die Bescherung von allen Seiten, wobei er mehrfach resigniert mit dem Kopf schüttelte. Danach verkündete er: „Es tut mir leid, aber du wirst wohl aussteigen müssen. Es dürfte ziemlich schwierig werden, die Karre aus dem Morast zu ziehen. Falls wir es überhaupt schaffen. Aber pass bitte auf, wo du hintrittst. Hier scheint eine Untiefe zu sein. Der Boden ist sehr sandig und rutscht stellenweise weg."

 

   Einigermaßen verwundert registrierte er, dass Suzanne seiner Aufforderung ohne Widerrede nachkam, und wortlos durch den Morast ans Ufer stapfte. Dort setzt sie sich auf einen großen Stein und sagte kritisch: „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du den Wagen da wieder rauskriegst?“

 

   „Ich will´s zumindest versuchen.“ Marc angelte hinten aus dem Jeep ein dickes Tau, warf Suzanne ein Ende zu und knotete das andere um die Hinterachse. Daraufhin kämpfte er sich ebenfalls durch den Schlamm bis ans Ufer, nahm Suzanne das zweite Ende wortlos wieder aus der Hand und stieg damit soweit die Böschung nach oben bis das Tau straff in seinen Händen lag. Danach knotete er sich das zweite Seilende fest um den Bauch und stemmte sich mit all seiner Kraft und seinem Gewicht dagegen. Der Plan war klar. Er hatte die vage Hoffnung, das Auto vielleicht auf diese Weise aus dem Schlamm ziehen zu können obwohl ihm im Grunde sein gesunder Menschenverstand sagte, dass hier ohne Winde nichts auszurichten war.

 

   Er zurrte und zerrte, doch der Jeep bewegte sich nicht einen Millimeter nach vorn. Das einzige Ergebnis seiner verzweifelten Mühen war lediglich, dass er plötzlich auf dem schlammigen Untergrund den Halt verlor und der Länge nach rücklings in die Böschung knallte. Als er daraufhin Suzanne auf ihrem Stein leise kichern hörte gab ihm das den Rest.

 

   „Wie wäre es, wenn du mal mit anpacken würdest?", blitzte er Suzanne frustriert und wütend an.

 

   „Wenn ich einen Sinn darin sähe, jederzeit", antwortete sie immer noch lachend.

 

   „Wenn du `ne bessere Idee hast, immer her damit“, forderte er.

 

   „Hab´ ich. Über Funk Hilfe rufen", sagte sie ruhig.

 

   War ja klar. „Nein", erwiderte er kurz.

 

   „Nein? Wieso nicht?“

 

   „Weil es nicht geht."

 

   „Aha. Und warum bitteschön soll das nicht gehen?"

 

   „Ach, halt einfach die Klappe und lass mich arbeiten, okay? Diskutieren bringt uns nicht weiter.“ Marc rappelte sich zurück auf die Füße und startete einen neuen Versuch.

 

   „Na, ich muss schon sagen, du bist echt reizend“, konstatierte Suzanne, erhob sich aber trotzdem, kletterte die Böschung hinauf zu Marc und hielt ihm die offene Handfläche hin.

 

   „Danke“, sagte er schlicht, reichte die Verlängerung des Seilendes an Suzanne weiter und nachdem sie sich das Tau genauso wie er um den Bauch geschlungen hatte, war er ihr schließlich dabei behilflich, das Ende fachgerecht zu verknoten.

 

   „Auf dein Kommando?“, fragte sie ruhig.

 

   Er nickte. „Auf Drei. Eins. Zwei. Und Drei, los!“                 

 

   Sie kämpften mit allem, was sie hatten, doch so sehr sie sich auch abmühten: Der Jeep bewegte sich nach wie vor kein Stück von der Stelle. Marc suchte nach einem dicken Ast und versuchte diesen zusätzlich als Hebel unter den Reifen einzusetzen, doch schließlich musste er einsehen, dass es keinen Sinn machte. Völlig durchnässt gab er total gefrustet auf.

 

   „Es hat keinen Sinn. Lass gut sein. Die Mistkarre steckt fest!"

 

   „Was ist, wenn du ziehst, während ich Gas gebe? Wer weiß, vielleicht klappt es ja dann."

 

   Marc überlegte. Was hatten sie zu verlieren? Nichts. Das Schlimmste, was passieren konnte war, dass sich der Jeep noch tiefer in den Schlamm grub. „Okay, einen Versuch ist es wert“, entschied er. „Ich wusste gar nicht, dass du mit einem Auto umgehen kannst?"

 

   „Nicht wirklich, aber du kannst mir ja zeigen, was ich tun soll."

 

   Die Antwort klang nicht besonders ermutigend, doch Marc verkniff sich jeden Kommentar. „Na gut, komm.“ Er schwang sich auf den Fahrersitz, trat die Kupplung durch, legte den Rückwärtsgang ein und zog die Handbremse. Zuletzt rutschte er rüber auf die Beifahrerseite. „Steig ein.“

 

   Nachdem Suzanne seiner Aufforderung nachgekommen war erklärte er ihr: „Du trittst die Kupplung, das linke Pedal. fest durch. Auf mein Kommando lässt du sie ganz langsam hochkommen und gibst gleichzeitig mit dem rechten Pedal etwas Gas. Nicht zuviel, nur ein wenig. Mit viel Gefühl. Verstanden?"

 

   „Ich bin nicht blöde“, antwortete sie, während sie hochkonzentriert auf die Pedale im Fußraum des Jeeps starrte, über die bereits die trübe Brühe des Wasserlochs schwappte. „Ich denke, das kriege ich hin. Was mache ich damit, wenn´s los geht?“ Sie zeigte auf die Handbremse.

 

   „Lösen", antwortete er trocken. „Du gehst damit bitte genauso langsam und kontrolliert um, wie mit Gas und Kupplung.“ Er überprüfte noch einmal die Lage des Astes, bevor er zurück zu seinem Tauende ging. Er knotete es wieder fest um seinen Bauch und gab das Startzeichen für Suzanne: „ Okay, los geht´s. Nur die Ruhe, du machst das schon.“

 

   Er beobachtete aus dem Hintergrund, wie Suzanne einmal tief Luft holte, bevor sie den Zündschlüssel drehte. Steif aufgerichtet saß sie auf dem Fahrersitz und wirkte extrem angespannt. Marc war überzeugt davon, dass sie so etwas noch nie gemacht hatte. Umso größer war seine Hochachtung, dass sie hier so mit ihm an einem Strang zog. Insbesondere, wenn man bedachte, was er ihr zuvor zugemutet hatte. Drei Versuche waren nötig, bis der Jeep endlich ansprang. Er wartete geduldig ab und verlor kein Wort darüber.

 

   „Super. Jetzt ganz langsam die Kupplung kommen lassen und dabei Gas geben", rief er aufmunternd zu ihr rüber. „Aber denk dran, nur ein bisschen. Und vergiss die Handbremse nicht, sonst ist alles umsonst."

 

42. Kapitel

 

   Mit vornübergebeugten Oberkörpern hingen Mitch und Scott über der Motorhaube und studierten eine darauf ausgebreitete Landkarte.

   „Verdammt noch mal“, stöhnte Scott entnervt. „Das scheiß Teil so ist unübersichtlich wie ein Irrgarten. Verrückt, wo doch hier eigentlich so gut wie nichts ist.“

   „Das ist es ja“, antwortete Mitch sauer. „Deshalb sieht ja auch alles auf der Karte gleich aus.“ Seine Augen wanderten von rechts nach links. „Die könnten überall sein.“ Er knallte die flache Hand auf die Karte, und hinderte sie so daran, wegzufliegen. „Scheiß Wind. Wenn er wenigstens kühl wäre.“

   „Mit `nem Handy-Navy wär´s kein Problem“, maulte Scott weiter.

   „Glaubst du vielleicht, die haben hier über Nacht irgendwo plötzlich ein paar Handymasten aufgestellt? Extra für uns, du Schlaukopf? Nein, vergiss das Handy-Navy. Mann, wir sind Soldaten, wir werden ja wohl so `ne dämliche Karte lesen können.“

   Scott warf seinem Kumpel einen schnellen Seitenblick zu. Mitch hörte sich nicht nur an, wie eine gereizte Kobra, er verhielt sich auch so. Wie immer in solchen Momenten hielt er sich vorsichtshalber zurück.

   „Ich denke…“ Mitch kniff die Augen zusammen, beugte sich noch ein Stückchen tiefer über die Karte und zeigte schließlich mit dem Zeigefinger auf eine Stelle. „…dass wir uns exakt hier befinden.“

   Scott blickte auf die Stelle und schaute sich dann nach allen Richtungen um. „Hm, könnte sein.“ Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und seufzte: „Mann, ist das heiß. Ich hasse diese ganze Afrika-Scheiße. Wieso hab´ ich mich bloß freiwillig für diesen Auslandseinsatz gemeldet?“

   „Wegen der Kohle und weil es hier vergleichsweise ungefährlich ist“, antwortete Mitch trocken. „Weil du ein Feigling bist und keinen Bock auf den Irak, Afghanistan oder sonstige Krisengebiete hattest. Glotz nicht so blöd, ist doch so.“

   „Ach, halts Maul, Mensch.“ Scott war jetzt sichtlich sauer auf seinen Kumpel. „Was kümmern dich meine Beweggründe? Gehen wir mal davon aus, dass du recht hast und wir jetzt hier sind…“ Er warf einen Blick auf den Zettel worauf Mitch die Koordinaten notiert hatte und studierte dann wieder die Karte. „…dann müssten die beiden nach den Angaben des Mädchens jetzt ungefähr dort sein.“ Seine Hand bewegte sich nach links und er markierte eine weitere Stelle mit seinem Finger. Er blickte hoch und seufzte tief. „Das ist ein ganz schönes Stück abseits der gängigen Fahrtrouten. Und ganz schön weit von hier entfernt. Die müssen `nen ordentlichen Zahn draufgehabt haben, wenn sie schon so weit gekommen sind.“

   „Na und“, konterte Mitch. „Immerhin wissen wir dank der naiven Tussi, wo die beiden sind. Und dass sie sich jetzt auf den Rückweg machen wollen“, setzte er vielsagend hinzu. „Das bedeutet, wenn wir jetzt gedanklich eine Linie zwischen diesem Punkt hier und der Station ziehen und uns irgendwo dazwischen positionieren, müssten sie uns quasi direkt in die Arme fahren. Alles, was wir tun müssen, ist eine strategisch günstige Stelle für uns finden, um ihnen den Weg abzuschneiden. Sie sollten nicht schon aus der Ferne sehen können, dass wir sie erwarten.“

   „Nichts einfach als das.“ Scott richtete sich auf, streckte den Rücken durch und grinste zufrieden. „Oder?“

   „Genau.“ Mitch faltete die Karte zusammen und legte sie zurück ins Handschuhfach. „Das kriegen wir hin. Na los, komm. Machen wir uns auf den Weg, bevor uns die beiden doch noch durch die Lappen gehen.“

   Bevor Scott in den Wagen stieg, holte er noch eine Flasche Wasser aus der auf dem Rücksitz stehenden Kühlbox und nahm einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche. „Fahr“, knurrte er während er vorne einstieg und einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett warf. „Ich hab´ nachher Dienst und will nicht schon wieder zu spät zur Ablösung kommen. Der General hat mich eh schon auf dem Kieker. Außerdem will ich so schnell wie möglich aus dieser scheiß Hitze raus.“

   „Da wirst du dich wohl noch ein Weilchen gedulden müssen“, antwortete Mitch stoisch, während er den Wagen in Bewegung setzte. „Wenn wir die Beiden haben, müssen wir sie erst noch ins Versteck bringen und dafür sorgen, dass sie Niemanden informieren können. Dank dieses Feiglings müssen wir uns jetzt immerhin um zwei Geiseln kümmern.“

   Das leise Stöhnen, das seitlich von ihm laut wurde, zeigte Mitch, was sein Kumpel davon hielt. Er beschloss, von jetzt an ein wachsames Auge auf seinen Freund zu haben. Dessen Wankelmütigkeit und ständiges Herumnörgeln waren keine guten Zeichen. Außerdem soff Scott in letzter Zeit eindeutig zu viel. Mitch war klar, dass eine gewisse Unterstützung bei der Durchführung des Plans einige Dinge für ihn vereinfachte, aber im Notfall würde er das auch alleine hinkriegen. Falls Scott also vorhatte, plötzlich einen Rückzieher zu machen, oder ihm in den Rücken zu fallen, würde er tun, was getan werden musste. Es stand einfach zu viel auf dem Spiel.

**********

   Marc riskierte einen schnellen Blick über die Schulter nach hinten, doch er verzichtete darauf, Suzanne noch zusätzlich anzutreiben. Sie saß zwar mit dem Rücken zu ihm, doch er konnte erkennen, wie verkrampft ihre Hände das Lenkrad hielten. Alleine diese Geste und die Tatsache, dass sie kerzengrade im Sitz saß, verrieten ihm, dass sie sich alle Mühe gab zu tun, was Marc von ihr verlangte. Zunächst allerdings tat sich gar nichts, außer dass der Motor des Jeeps mehrmals laut und gequält aufheulte und eine Menge Matsch nach hinten in Marcs Richtung aufgewirbelt wurde. Er spürte, wie die Flatschen auf seinen Rücken und seine Waden klatschten, doch leider spürte er nichts davon, dass der Jeep sich bewegte. Dabei hing er mit seinem ganzen Gewicht so fest im Tau, dass er kaum noch atmen konnte. Das Seil schnitt schmerzhaft in seine Bauchmuskeln, doch so sehr er sich auch mühte, es tat sich rein gar… Hoppla! Vor lauter Überraschung wären ihm fast die Beine weggerutscht.

   „Es klappt nicht", rief Suzanne ihm über die Schulter hinweg zu und er hörte die leise Verzweiflung, die daraus klang. „Es funktioniert nicht.“

   „Doch! Mach weiter!", brüllte er zurück, denn er bemerkte, dass der Wagen sich hinter ihm minimal in seine Richtung bewegte. Er drehte sich vorsichtig um, damit die Spannung nicht nachließ. Als er wieder mit dem Gesicht zum Wagen stand, lehnte er sich nach hinten und zog und zerrte derartig an dem Tau bis er dachte, es würde ihm die Arme ausreißen. Mit den Füßen stemmte er sich dagegen und versuchte verzweifelt festen Halt zu bekommen, damit er nicht womöglich im entscheidenden Moment wieder wegrutschte. „Suzanne! Nicht aufgeben jetzt! Lass die Kupplung kommen! Weiter! Nicht so schnell! Du kannst das! Mach langsam! Er bewegt sich! Er kommt!"

   Sie waren ganz dicht davor, ihr Ziel zu erreichen. Marc spürte es in jeden Knochen und mobilisierte seine letzten Kraftreserven. Das Blut hämmerte in seinem Kopf, das Tau bohrte sich tief in sein Fleisch, die Oberarme brannten höllisch und seine Beine zitterten inzwischen wie Espenlaub. „Du machst das gut. Sehr gut“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

   In diesem Augenblick passierte es. Suzannes erschrockener Aufschrei wurde noch übertönt von dem lauten Platschen als der Jeep plötzlich wieder einen mächtigen Satz nach vorn machte und noch tiefer ins Wasser hineinrutschte als zuvor. Sie musste vom Pedal abgerutscht sein, doch Marc blieb keine Zeit, um länger darüber nachzudenken. Durch den plötzlichen Ruck wurde er unsanft nach vorn gerissen und knallte bäuchlings in die Böschung. Mit einem erstickten Schmerzensschrei blieb er liegen und musste sich erst einmal einen Moment lang sammeln. Er fühlte, wie maßlose Enttäuschung Besitz von ihm ergriff und für einen kurzen Moment lang gestattete er sich dieses Gefühl. Die ganze Mühe, die Schmerzen, dieser immense Riesenkraftakt. Alles umsonst. Es war zum heulen. Mit Suzannes Ausrutscher hatte sich ihre Ausgangslage sicherlich noch einmal verschlechtert, aber wer war er, dass er ihr deswegen einen Vorwurf machen konnte?

   „Marc?“

   A pro pos: Er musste sich ein Bild von der Lage machen. Den Kopf in den Sand zu stecken brachte sie nicht weiter. Marc hob vorsichtig den Kopf an und registrierte auf den ersten Blick, wie der Wagen ganz langsam, beinahe wie in Zeitlupe, immer tiefer absackte. Verdammt! Es war Zeit zu handeln! Höchste Zeit!

   Ohne Rücksicht auf seine Knochen, und spätestens seit dem Sturz spürte er jeden einzelnen, sprang er ruckartig auf und knotete eilends das Tau um seinen Bauch auf. Mit zwei Sprüngen hechtete er bis ans Ufer.

   „Suzanne, komm nach hinten. Schnell! Du musst raus aus dem Wagen! Da ist eine Untiefe. Beeil dich, der Boden gibt nach! Die Karre versinkt im Schlamm!“ Er stand jetzt hinten am Heck des Jeeps und hielt Suzanne eine Hand hin. „Na los, mach schon! Ich weiß nicht, wie lange wir hier noch stehen können.“

   Suzanne kletterte eilig über die Sitze nach hinten. Sie packte Marcs Hand, sprang mit einem Satz aus dem Wagen und registrierte gleich darauf, dass Marc recht hatte. Als ihre Füße den Boden berührten, war es, als wäre sie auf Treibsand gelandet. Prompt rutschte sie weg und fiel mit einem erschrockenen Ausruf seitlich ins Wasser. Marc hatte glücklicherweise ihre Hand festgehalten half ihr wieder auf die Füße. „Sieh zu, dass du ans Ufer kommst. Warte dort auf mich. Aber pass auf, wo du hintrittst. Sei vorsichtig.“

   „Was ist mit dir?“

   Mühsam zerrte er an seinen Oberschenkeln. „Ich komm´ gleich nach. Geh´, mach schon!“ Endlich! Es gelang ihm seine Füße, die innerhalb der kurzen Zeit bereits bis über die Knöchel eingesunken waren, aus dem zähen Untergrund zu befreien. Eilends zog er sich über die Heckkante in den Jeep hinein. Mit jeder Sekunde sank der Wagen tiefer und aus Erfahrung wusste er, dass man nicht vorhersehen konnte, wann das stoppte. Ob es überhaupt stoppen würde. Manche dieser Untiefen gingen metertief hinunter, bevor der Untergrund wieder fest und stabil wurde. Den Wagen mussten sie verloren geben, das war ihm klar. Jetzt hieß es zu retten, was zu retten war! Er griff nach dem Rucksack mit den Vorräten und drehte sich suchend nach Suzanne um, die in etwa sechs bis sieben Metern Entfernung mitten in der Uferböschung auf ihn wartete.

   „Pass auf", rief er ihr zu. „Ich werde dir jetzt einige Sachen zuwerfen! Versuch sie zu fangen, so gut es geht!"

   Suzanne nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte und Marc schickte seinen Rucksack schwungvoll auf die Reise. Es folgten die Schlafsäcke, Suzannes große Umhängetasche, zwei Feldflaschen voll Wasser, der Kanister, der Verbandskasten sowie eine Decke. Nach und nach warf er die Sachen rüber zu Suzanne, die sie überraschend geschickt auffing und sofort, den Schwung ausnutzend, weiter die Böschung hinaufschleuderte. Hektisch blickte er sich im Wagen um. Was konnte ihnen sonst noch nützlich sein? Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, denn der Wagen sackte zusehends tiefer. Das war ihm auch ohne Suzannes drängendes Rufen klar. Verdammt, sie machte ihn nervös.

   „Marc? Du musst da raus! Jetzt! Komm her zu mir! Mach schnell, du verdammter Idiot! Beeil dich!“

   „Ja, gleich!"

   „Marc, bitte!" Ihre Stimme bekam einen hysterischen Unterton und ein Blick nach hinten zeigte Marc, dass sie ihm mit hektischen Handzeichen zu verstehen gab, dass er den Wagen verlassen sollte. Scheiße, sie hatte recht. Das Wasser strömte bereits ins Wageninnere und ließ ihn noch schneller sinken. Höchste Zeit, dass er hier raus kam. Er wusste, wenn der Wagen endgültig unterging, würde sich ein Strudel bilden, der ihn im schlimmsten Fall mitziehen und nicht loslassen würde.

   Trotz dieses Wissens öffnete er noch das Handschuhfach und warf einen schnellen Blick hinein. Es war so gut wie leer, bis auf einen von Charlies Flachmännern, die sein Großvater an allen möglichen und unmöglichen Orten versteckte. Marc wusste selbst nicht warum, aber er griff danach und verstaute das Teil in der seitlichen Beintasche seiner Hose. So. Er blickte sich ein letztes Mal um. Noch was, oder war er durch?

   „Verdammt noch mal! Marc! Lass mich hier nicht im Stich!“

   Suzannes Stimme klang jetzt endgültig verzweifelt und holte ihn mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück. Er hatte sich geschworen auf sie aufzupassen. Wie konnte er da so leichtsinnig sein?

   „Schon gut. Ich komme!" Mit einem kräftigen Ruck riss er den Kompass vom Armaturenbrett und sprang danach mit einem großen Satz über die Heckklappe aus dem Wagen. Zur Sicherheit setzte er die Füße gar nicht erst auf den Boden, sondern schwamm mit ein paar kräftigen Kraulbewegungen ans Ufer. Bis auf die Haut nass stand er schließlich triefend neben Suzanne. Schweigend sahen die beiden Seite an Seite fassungslos zu wie der Jeep noch tiefer sank, bis am Ende nur noch ein kleines Stückchen der hinteren Ladeklappe aus dem Wasser ragte. Das war's dann wohl.

**********

   Weder Marc, noch Suzanne vermochte später zu sagen wie lange sie da nebeneinander gestanden und auf das Wasser gestarrt hatten. Marc war der erste, der sich wieder rührte.

   Er ließ sich rücklings in die Böschung fallen und sagte laut und vernehmlich: „SHIT!"

   „Ja.“ Suzanne setzte sich neben ihn und zog die Beine an, umschlang sie mit den Armen und legte ihr Kinn auf die Knie. Sichtlich deprimiert schaute sie auf den traurigen, kaum noch sichtbaren Rest des Jeeps. „Fast hätten wir es geschafft..."

   „Ja, du sagst es. Leider nur fast. Die Karre ist abgesoffen. Unwiderruflich.“  Er stieß ein bitteres Lachen aus. „Im wahrsten Sinne des Wortes."

   Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Tut mir echt leid, dass ich es vermasselt habe."

   „Das braucht es nicht."

   „Aber ich bin schuld. Ich bin vom Pedal gerutscht."

   „Du kannst aber mit ziemlicher Sicherheit nichts dafür. Ich denke, es lag an dieser fucking Untiefe. Durch das Chaos, das wir durch den Aufprall verursacht haben ist der ohnehin fragile Boden weiter in Bewegung geraten und letztlich bist du dadurch abgerutscht. Wär´mir genauso passiert.“

   „Nett von dir, dass du das sagst.“

   „Nett… Ich weiß nicht.“ Marc richtete sich auf und blickte versonnen wieder aufs Wasser. „Wenn es überhaupt jemandem leid tun sollte, dann wohl eher mir“, setzte er mehr zu sich selbst hinzu.

   „Wieso das?", fragte Suzanne verwundert.

   „Na ja, das wäre vermutlich alles nicht passiert, wenn ich nicht diese…“ Er stockte kurz. „…diese bescheuerte Angst vor Schlangen hätte.“ Innerlich atmete er auf. Beinahe hätte er sich verraten. Zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Pass auf, was du sagst, ermahnte er sich stumm.

   „Gegen seine Ängste ist man machtlos."

   „Du hast ja keine Ahnung“, erwiderte er düster. „Aber in einem Punkt kann ich dich beruhigen: Ich werde dich definitiv nicht im Stich lassen. Danke übrigens.“

   „Wofür?“

   „Dafür, dass du eben noch diesen Satz gesagt hast. Dass ich dich nicht im Stich lassen soll.“ Er grinste sie schief von der Seite an. „Ich hatte schon fast die Befürchtung, dass du dir wirklich Sorgen um mich machst.“

   „Und wenn?“ Sie begegnete seinem Blick überraschend ernst.

   Er machte eine abwehrende Handbewegung. „Lass gut sein. Sollte ein Scherz sein. Wie auch immer: Ich werde mich auf jeden Fall darum kümmern, dass du sicher heimkommst. Mach dir keine Sorgen.“

   „Ja, schon gut. Ich hab´s kapiert.“ Suzanne zuckte mit den Schultern und richtete ihren Blick wieder geradeaus. „Also gut, was tun wir jetzt? Hast du `ne Idee?"

   „Na, was wohl? Laufen." Auch er wendete seinen Blick wieder ab. „Hab´ hier noch nie `nen Bus vorbeikommen sehen. Ist `ne ruhige Gegend.“

   „Sehr witzig. – Wie weit ist es bis zur Station?"

   „Ziemlich." Er machte eine kurze Pause. „Und ehrlich gesagt, es ist nicht ganz ungefährlich. Wir haben uns ziemlich weit von der Station entfernt."

   „Wie weit?"

   „Suzanne…“ Beim bloßen Gedanken, ihr die Wahrheit sagen zu müssen, stöhnte er innerlich auf.

   „Marc? Wie weit?“

   „Na ja, ich schätze, es sind circa zwei Tagesmärsche", gestand er leise.

   „Was? Zwei Tage?! Ernsthaft?" Suzanne riss entsetzt die Augen auf. „Gott, meine Mutter wird mich umbringen. Sie sorgt sich schon um mich, wenn ich mich mal `ne Viertelstunde verspäte. Das gibt einen Aufstand der sich gewaschen hat, soviel steht fest.“

   Marc zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich nicht wohl in siener Hautl, denn der Rückweg war vermutlich auch an einem Tag zu bewältigen. Vorausgesetzt, man nahm den direkten Weg. Aber das konnten sie leider nicht. Wenn sie den Soldaten nicht in die Arme laufen wollten, mussten sie Umwege in Kauf nehmen. Eine Tatsache, die nicht von der Hand zu weisen war, über die er Suzanne aber schlecht informieren konnte. „Dann sollten wir uns wohl besser langsam auf den Weg machen“, schlug er leise vor.

   Suzanne, die gerade in Augenschein nahm, was er ihr eben alles zugeworfen hatte, ging auf seine Bemerkung nicht ein. „Immerhin sind wir ganz ordentlich für so einen Marsch ausgerüstet, oder?“

   „Na ja ... geht so. Es ist eher eine Notfallausrüstung", antwortete er teils ausweichend, teils der Wahrheit entsprechend.

   „Man könnte fast meinen, du hättest mit einem Notfall gerechnet…“

   „Was?“ Wachsam studierte er ihre Gesichtszüge, doch sie erwiderte seinen Blick absolut arglos. Es schien zumindest so. „Wie meinst du das?“

   „So, wie ich es sage. Ich meine, die Schlafsäcke und das ganze Zeugs hier. Das sieht fast so aus, als hättest du mit Problemen gerechnet."

   „Nein, Quatsch, bestimmt nicht“, reagierte er eine Spur zu schnell. So kam es ihm zumindest vor, doch Suzanne reagierte Gott sei Dank nicht darauf. „In dieser Gegend muss man vorsichtig sein. Sonst könnte es sein, dass man im Ernstfall aufgeschmissen ist. Das Gebiet ist riesig. Deshalb haben wir immer was im Wagen, wenn wir rausfahren.“

   „Und? Hast du schon einmal einen Notfall wie diesen erlebt?"

   „Nein. Gott sei Dank nicht." Wenigstens das war die volle Wahrheit. In so einer Scheiße hatte er noch nie gsteckt.

   „Hör zu, ich hab´ nachgedacht und ich finde, dass wir vielleicht besser beim Wagen bleiben sollten. Unsere Eltern werden doch sicher nach uns suchen. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass meine Mutter einen Hubschrauber organisiert. Soweit ich weiß, gibt es einen auf der Basis."

   „Klar werden sie nach uns suchen, aber sie werden den Wagen aus der Luft nicht sehen. Es schaut doch nicht viel mehr als die Heckklappe raus. Und wenn der Boden noch mehr nachgeben sollte, wird auch die bald verschwunden sein. – Nein, ich finde, wir sollten das Gepäck aufteilen und uns auf den Weg machen, in Ordnung?"

   „Gut, wie du meinst.“ Suzanne schien sich in ihr Schicksal zu ergeben. Sie beugte sich wieder vor und legte ihre Stirn auf die Knie. „Es gefällt mir zwar nicht, aber verrmutlich hast du recht“, murmelte sie.

   „Glaub mir, ich wünschte, ich sähe eine andere Möglichkeit.“ Marc griff nach dem Rucksack mit den Vorräten, packte die Wasserflaschen und Charlies Flachmann hinein, schüttete den Verbandskasten aus und verstaute dessen Inhalt in einem Seitenfach. Den leeren Kasten schleuderte er ins Wasser. Danach schnürte er noch die Decke und einen der Schlafsäcke oben auf dem Rucksack fest. „Den Kanister werde ich tragen, aber du müsstest zusätzlich zu deiner Tasche noch den zweiten Schlafsack nehmen. Kriegst du hin, oder?“

   Sie nickte. „Ich bin nicht aus Zucker. Ich kann auch noch den Kanister übernehmen.“

   „Nicht nötig. Warte kurz, ich bin gleich wieder da", bat er, spazierte ein Stück die Böschung entlang bis dorthin, wo das Ufer ebener wurde und beinahe flach ins Wasser mündete. Dabei schoss ihm kurz durch den Kopf, dass ihr Glück nur aufgrund von wenigen Metern gescheitert war. 50 Meter weiter seitlich und es wäre so gut wie nichts passiert. Sogar der Untergrund war hier fest und machte nicht den Eindruck, als würde er unter seinen Füßen nachgeben. Er stieg bis zu den Oberschenkeln ins Wasser und säuberte sich, so gut es eben ging, vom Schlamm, der überall an ihm klebte und bereits hart wurde.

   Während er sich wusch kreisten seine Gedanken unaufhörlich. Mitch und Scott würden nicht aufgeben, soviel war sicher. Damit verbot sich der direkte Weg zurück zur Station automatisch. Sie mussten Haken schlagen, eventuell große Umwege in Kauf nehmen, so lästig das auch war. Irgendwie musste es ihm gelingen, einen Weg zu finden, der sie nicht direkt in die Arme der Soldaten führte. Gut, dass er eben noch an den Kompass gedacht hatte, bevor der Jepp abgesoffen war. Der würde ihnen sicherlich gute Dienste leisten.

   Seine einzige Sorge war, dass Suzanne womöglich unterwegs schlapp machte. Dass sie bemerkte, dass er den Rückweg manipulierte, glaubte er nicht. Sie hatte ihm vor der Abfahrt noch einmal bestätigt, dass sie seit ihrer Ankunft noch nicht tief im Busch gewesen war. Er wertete es als Vorteil für sich, dass sie sich nicht auskannte. Selbst, wenn sie noch wütend auf ihn sein sollte … was den Rückweg anging würde sie ihm vertrauen, da war er sich sicher. Was ihre Kondition anbelangte, allerdings nicht. Aber was das anging, würde er schon bald mehr wissen…

   Marc holte tief Luft, beugte sich vor und tauchte seinen Kopf unter Wasser, um auch den restlichen Matsch aus seinen Haaren zu entfernen. Er tauchte auf, schüttelte sich kräftig und ging zurück zu Suzanne, die sich am Rand der Böschung ebenfalls gewaschen hatte und nun geduldig bei ihren Sachen auf ihn wartete. Er legte den Rucksack an, griff nach dem Kanister, und sagte, während er einen Blick auf den Kompass warf: „Okay, wenn du soweit bist, dann könnten wir uns auf den Weg machen.“ Er hob den Kopf und blickte sinnend in die Ferne. Er hatte sich für eine Route entschieden, aber das Bewusstsein, dass das, was nun vor ihnen lag, mit Sicherheit kein Zuckerschlecken würde, drückte schwer auf sein Gemüt und seine Stimmung.

   „Es nützt ja nichts, nicht wahr?“ Suzanne folgte seinen Blicken und griff nach ihrem Gepäck. „Da lang? Okay, gehen wir.“

 

43. Kapitel

 

   Nach einem ausführlichen Rundgang über die Station führte John Gilian zurück auf die Terasse und deutete auf den frisch gedeckten Kaffeetisch.

   „Bitte, setzen Sie sich. Charlie wird auch gleich dazu kommen. Kaffee?“

   „Sehr gerne.“ Noch völlig überwältigt von den ganzen neuen Eindrücken nahm Gilian Platz und beobachtete stumm, wie John nacheinander Kaffee in die bereitstehenden Tassen füllte.

   „Kuchen?“

   Sie nickte lächelnd. Er ist nervös, stellte sie fest und registrierte gleichzeitig überrascht, dass diese Tatsache sie seltsamerweise mit einer seltsam wärmenden Zufriedenheit erfüllte. John wählte den Platz ihr gegenüber, setzte sich und lehnte sich sichtlich angespannt zurück. Er schlug die langen Beine übereinander und versuchte offensichtlich krampfhaft seine Nervösität zu verbergen, was ihm aber nur zu einem gewissen Grad gelang. Er wusste offensichtlich nicht, wohin mit seinen Händen, die er abwechselnd ineinander verschränkte, nur um sie gleich darauf wieder zu lösen. Sie konnte sich nicht helfen, er wirkte zwar ein wenig linkisch, aber sie fand ihn trotzdem höchst charmant.

   „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

   „Natürlich. Was sollte denn nicht in Ordnung sein?“

   „Ich weiß nicht“, erwiderte er zögernd. „Sie sagen seit einer Weile gar nichts mehr. Was halten Sie denn nun von unserer Station.“ Mit den Händen vollführte er eine ausschweifende Bewegung, die sowohl das Haus, die Nebengebäude, wie auch die Käfige und das Land drumherum einschloss. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen und wirkte so neugierig wie ein kleiner Junge, der am Weihnachtsmorgen vor seinen Päckchen saß und ungeduldig auf das Okay seiner Eltern wartete. „Wie gefällt es Ihnen?“

   Gilian hatte schon lange niemanden mehr getroffen, der ihr auf Anhieb so sympathisch gewesen war. Doch Sympathie allein würde in diesem Falle nicht ausreichen, das lag klar auf der Hand. Es würde für sie sehr schwierig werden, die Mittel, die Johns Station so dringend für den Fortbestand benötigte, durchzusetzen. McAllister hatte viele gute Kontakte und überall seine Finger drin. Aber das war es nicht allein: Selbst sie erkannte, bei allem Positiven, wofür die Station stand, dass sie kaum wirkliche Vorteile für die Amerikaner bot. Unwillkürlich seufzte sie.

   „Es gefällt ihnen nicht", reagierte John prompt und sein enttäuschter Gesichtsausdruck sprach Bände. „Was…“

   „Doch schon", fiel sie ihm hastig ins Wort. „Ich finde es wunderschön hier. Ehrlich, was Sie und ihr Team hier aufgebaut haben, verdient allerhöchsten Respekt.“

   „Ernsthaft?“ Forschend lagen seine Blicke auf ihrem Gesicht.

   „Ja, sicher. Ehrlich, ich kann mir nicht vorsrtellen, dass das irgendjemandem nicht gefällt.“

   „Ich seh´s Ihnen an, es gibt ein `Aber´, nicht wahr?“ Johns Stimme klang deprimiert und enttäuscht.

   Gilian seufzte erneut: „Ja, ich will ehrlich zu Ihnen sein: Es wird nicht einfach werden, Zuschüsse für ihr Projekt in Washington loszueisen."

   „Die Zuschüsse?“ John strich sich über den Kopf und wirkte fast ein wenig verwirrt. „Daran hatte ich im Moment gar nicht gedacht."

   Erstaunt blickte sie ihn an. Auch Charlie, der inzwischen hinzugekommen war und mit am Tisch saß, zog überrascht die Augenbrauen hoch, wie sie aus dem Augenwinkel bemerkte.

   „Aber … ich dachte deshalb wäre ich hier."

   John lehnte sich wieder zurück und rubbelte sich erneut durchs Haar, dieses Mal mit beiden Händen. Plötzlich wirkte er fast so verlegen wie an jenem Abend beim Botschaftsempfang. „Ja, natürlich ... äh, ich meine auch.“ Er gab sich einen Ruck und setzte sich wieder gerade hin: „Nein … das ist nicht der Grund. – Nicht ausschließlich", fügte er nach einer Pause leise hinzu.

   Gilian war verwirrt, und dass sich in ihrem Magen gerade jede Menge Schmetterlinge breitmachten, vereinfachte die Situation nicht gerade. „Ja, aber... Mr. Gilbert, ich verstehe nicht ganz."

   John hob abwehrend beide Hände in die Höhe: „Halt, stopp! Entschuldigen Sie, Mrs.Banks, Sie haben recht. Ich höre mich schon wieder an wie ein Idiot. Es scheint, das passiert mir in letzter Zeit leider häufiger. Natürlich geht es mir auch um das Geschäftliche. Von den Zuschüssen hängt immerhin das Fortbestehen unserer Station ab. Was ich eigentlich sagen wollte, ist: Ich hätte sie auch ohne diesen Aspekt hierher eingeladen. Zuschüsse hin oder her: Wenn es Ihnen hier gefällt, sind Sie uns jederzeit willkommen. Was den heutigen Tag angeht… Nun ja, ich hatte gedacht, Sie machen sich erst einmal ein erstes Bild und wir reden dann ein anderes Mal weiter. Nicht hier. Ich... Ich hatte es leider noch nie gut drauf an diesem Ort über geschäftliche Dinge zu reden. Ehrlich, da können Sie Charlie fragen: Wahrscheinlich geht es hier auch deswegen mit Allem so bergab. Das sollte ich wohl besser nicht sagen, oder? Na ja, egal. Als meine Frau noch lebte hat sie sich um das alles gekümmert, verstehen sie? Den Papierkram, die Buchhaltung und alles, was zum Geschäft gehört. Nach ihrem Tod wurde es dann … zusehends schwierig.“ Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.

   Gilian konnte nicht anders, sie musste einfach lächeln: „Wow, das nenne ich mal eine Ansprache“, sagte sie sanft, nachdem John seinen Appell beendet hatte. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

   Über Johns Gesicht huschte ebenfalls ein Lächeln und er bat: „Lassen Sie uns einfach einen netten Tag gemeinsam verbringen. Stellen Sie Fragen, soviel Sie möchten und ich werde so gut wie möglich antworten. Bilden Sie sich in aller Ruhe eine Meinung. Aber bitte, lassen Sie uns heute nicht mehr über das Geschäftliche reden, okay?“

   „In Ordnung, abgemacht“, antwortete Gilian.

   „Sehr gut.“ John wirkte zufrieden und wandte sich nun an seinen Schwiegervater. „Charlie, würdest du bitte noch mal nach dem kleinen Bonobo sehen? Ich habe ihn heute Morgen vom Tropf genommen und er muss unbedingt trinken. Da Marc ja nun unterwegs ist…“

   „Gib´ dir keine Mühe. Ich versteh´ schon.“ Charlie erhob sich und grinste wissend. „Bin schon weg.“

   „Danke dir.“ John zerknüllte eine Serviette und warf sie Charlie hinterher. Nachdem sein Schwiegervater außer Sichtweite war sagte er grinsend zu Gilian: „Tut mir leid, Mrs. Banks. Sie müssen entschuldigen, das Benehmen bleibt hier draußen leider manchmal auf der Strecke. Aber wir hatten auch noch nie eine leibhaftige Botschafterin hier."

   „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich bin durchaus nicht so stockkonservativ, wie alle denken. Ehrlich, mir liegen die unkomplizierteren und unkonventionelleren Menschen deutlich mehr als ... als..." Auf der Suche nach dem passenden Ausdruck hielt sie inne.

   „...als die Generals dieser Welt?", half John aus und versuchte Gilians Blick einzufangen.

   „Ja, genau. Sowas in der Art. Ist eigentlich sogar ziemlich zutreffend“, sagte Gilian, hielt den Blickkontakt und fügte lächelnd hinzu. „Sehen Sie, jetzt sind wir quitt, denn das hätte ich eigentlich auch nicht sagen sollen.“

   „Keine Sorge, von mir erfährt keiner was.“ John stockte.

   Gilian fragte sich unwillkürlich, was jetzt wohl folgen würde. Dabei stellte sie wieder einmal fest, wie gerne sie sich mit John unterhielt. Es machte ihr Spaß, Zeit mit ihm zu verbringen. Es war ihm womöglich gar nicht bewusst, aber er war charmant auf eine etwas tapsige, aber durchaus angenehme Art und Weise. Und sie fand ihn amüsant. Wenn John seinen trockenen Humor aufblitzen ließ, fand sie ihn sogar beinahe unwiederstehlich. „Sie wollten noch etwas sagen“, forderte sie ihn zum weiterreden auf.

   „Na ja… es ist nur… Ich finde nur, für eine Frau, die das unkonventionelle angeblich so liebt, führen Sie ein ziemlich konventionelles Leben.“

   „Nur, wenn ich arbeite“, widersprach sie und zwinkerte ihm zu. „Da komme ich nicht drum herum. Stand so in der Stellenbeschreibung.“ Verdammt, was tue ich hier eigentlich, schoss es ihr gleich darauf durch den Kopf. Flirte ich etwa? Mit einem Mann, den ich kaum kenne?

   „Aha, verstehe.“ Er grinste. „Und was machen Sie so in Ihrer Freizeit?"

   „Oh, das haben Sie doch neulich gesehen", antwortete sie lachend. „Ich verwüste die Küche. Gregory meint, darin bin ich ganz großartig. Der Kuchen hat übrigens grauenhaft geschmeckt. Alle haben sich strikt geweigert, davon zu essen. Zu guter Letzt haben wir ihn weggeworfen."

   „Das tut mir leid.“ John schmunzelte. „Und ernsthaft?"

   „Ernsthaft?" Gilian dachte nach. „Interessiert Sie das wirklich?"

   „Sonst hätte ich nicht gefragt." John wirkte jetzt völlig entspannt. Er hatte sich zurückgelehnt, die Hände vor dem Bauch gefaltet und die langen Beine ausgestreckt. Seine Augen musterten sie ruhig, ließen aber ehrliches Interesse erkennen, während er auf ihre Antwort wartete.

   „Ich weiß gar nicht so recht“, gestand sie etwas verwirrt, nachdem sie kurz nachgedacht hatte. „Früher war ich jahrelang nur Ehefrau und Anhängsel meines Mannes."

   „Höre ich da Bitterkeit?"

   „Nein, gar nicht. Es war halt so, und es war auch überhaupt nicht schlimm, denn mein Mann und ich führten eine gute Ehe. Als er so plötzlich starb, setzte ich mir in den Kopf, seinen Traum zu verwirklichen. Wir wussten damals schon, dasss er langfristig für diesen Posten hier vorgesehen war und nach seinem Tod setzte ich alles daran, fit für diesen Posten zu werden. Glauben Sie mir, es gehört schon mehr dazu der Botschafter zu sein, als nur dessen Ehefrau. Es war ein hartes Stück Arbeit und ich musste innerhalb kurzer Zeit eine Menge lernen, aber letztlich habe ich es geschafft. Suzanne zog dauerhaft zu mir, und jetzt versuchen wir in unserer Freizeit zu einer halbwegs normalen Familie zusammenzuwachsen. Damit sind wir ziemlich gut ausgelastet.“ Sie lachte kurz über ihre eigene Formulierung. „Suzanne war früher immer nur in den Ferien zu Hause – wo auch immer das gerade war. Ich weiß nicht, wie meine Tochter das sieht, aber ich denke, wir mussten uns beide erst einmal auf diese neue Zweisamkeit einstellen. Ich für meinen Teil musste zum Beispiel zu meinem Erschrecken feststellen, dass sich meine Kleine sehr viel weiter entwickelt hat, als in meiner Vorstellung. Sie ist längst kein Kind mehr und der Dickkopf, den sie sich im Laufe der Zeit angeeignet hat, ist beachtlich. Im Grunde genommen wissen wir eigentlich sehr wenig voneinander“, schloss Gilian nachdenklich und klemmte sich etwas verlegen die Haare hinter die Ohren. „Wow, jetzt haben ich Ihnen einen viel größeren Einblick gegeben, als ich wollte.“

   Ihre letzte Bemerkung überging John geflissentlich. Stattdessen fragte er: „Machen Sie sich Sorgen deswegen? Ich meine, wegen Suzannes Entwicklung.“

   „Nein. Nein, das nicht. Sie ist ein tolles Mädchen. Die beste Tochter, die ich mir wünschen konnte. Ihre Ansichten und Reaktionen sind nur manchmal ziemlich überraschend für mich. Aber Suzanne geht es umgekehrt sicherlich ähnlich. Wir genießen auf jeden Fall, dass wir jetzt kontinuierlich Zeit miteinander verbringen können. Im Moment lernen wir uns noch jeden Tag ein wenig mehr kennen.“ Unbewusst lächelte sie: „Eigentlich läuft es sogar überraschend gut.“

   Gilian stand auf und ging zum seitlichen Ende der Terrasse. Dort stützte sie sich mit beiden Händen auf dem Geländer ab und blickte gedankenverloren in die Ferne. „Wissen Sie...", sprach sie zögernd weiter. „...mein Mann liebte Afrika über alles. Er hat in seiner Jugend mal drei Jahre hier gelebt. `Das wird unsere letzte Station', sagte er immer. `Dort werden wir endlich eine ganz normale Familie sein.´ Jetzt sind wir hier, ohne ihn, und leben seinen Traum. Das fühlt sich irgendwie merkwürdig an. Falsch, verstehen Sie? Und doch … finde ich es wunderbar hier.“

   „Ich glaube nicht, dass Sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben müssen. Ich bin sicher, Ihr Mann wäre stolz darauf, was Sie alleine auf die Beine gestellt haben. Wann ist er gestorben?“

   John musste unbemerkt so dicht hinter sie getreten sein, dass Gilian jetzt sogar den Luftzug seiner sehr leise ausgesprochenen Worte so dicht an ihrem Ohr spürte, dass sie prompt eine Gänsehaut bekam.

   „Vor dreieinhalb Jahren. Er brach während eines Empfangs zusammen und ist noch vor Ort in meinen Armen an einem Herzinfarkt gestorben. Es ging alles sehr schnell."

   „Ich… Das tut mir leid."

   Gilian drehte sich um und lächelte andeutungsweise. „Nett, dass Sie das sagen, aber es ist lange her. Es war schwer, aber das Leben geht schließlich weiter. Aber wem sag´ ich das…“ Die Gänsehaut wollte einfach nicht weichen, was wohl auch daran lag, dass ihr die plötzliche Nähe zu John durch ihre Drehung noch deutlicher bewusst wurde. Automatisch rieb sie sich über die Arme.

   „Sie frieren“, stellte John fest und schaute auf sie herunter. „Haben Sie eine Jacke mit, oder soll…“

   „Nein“, fiel sie ihm schnell ins Wort und wich ein wenig zur Seite aus, um wieder etwas Abstand zwischen sie zu bringen. „Es ist alles in Ordnung. Es ist nur so, dass ich es nicht gewöhnt bin, über diese sehr privaten Dinge zu reden.“ Sie ging zurück zum Tisch und setzte sich wieder. Diese Position gab ihr die nötige Sicherheit, dass John ihr nicht wieder unabsichtlich zu nah kommen konnte. „Ich habe das noch nicht oft getan“, gab sie dann zu.

   „Ich verstehe“, nickte er und setzte ich ebenfalls wieder. „Ich kenne das Gefühl. Mir geht es ähnlich.“

   „Ja? Wie lange ist Ihre … wie lange sind Sie schon alleine?“, stellte sie dann die Frage, die sie schon die ganze Zeit hatte stellen wollen.

   „Joyce starb vor zehn Jahren an einem Schlangenbiss. Marc war gerade acht geworden.“

   „Ein Schlangenbiss? Aber das verstehe ich nicht. Wie konnte das passieren? Sie haben doch hier all diese Seren. Ich hab´ sie doch eben im Labor selber gesehen.“

   John schüttelte den Kopf. „Damals noch nicht. Wie gesagt, es ist 10 Jahre her. Heute sind wir heute bedeutend besser ausgestattet. Jedenfalls gab es damals nicht das, was wir so dringend gebraucht hätten. Man hatte uns ein verletztes Tier gemeldet und Joyce fuhr daraufhin alleine raus in den Busch, um es zu bergen und falls nötig, mit zur Station zu bringen. Die Schlange muss irgendwie unbemerkt ins Führerhaus des Jeeps gekrochen sein, während sie nach dem verletzten Tier sah. Sie lag im Fußraum und als meine Frau einstieg…“ Gilian beobachtete, wie sein Blick plötzlich leer wurde und er durch sie hindurch zu schauen schien. Er faltete die Hände, knackte mit den Knochen und zuckte schließlich mit den Schultern. „Joyce hat die Schlange erschossen und es mit letzter Kraft noch irgendwie geschafft, nach Hause zu kommen. Aber der Schock, das Adrenalin, die übermächtige Anstrengung … das alles hat dazu geführt, dass das Gift sich noch schneller in ihrem Körper ausbreiten konnte. Als sie hier ankam war ihr Zustand schon sehr bedenklich. Wir hatten die tote Schlange und daher wussten wir genau, was wir brauchten. Charlie hat sich sofort auf den Weg ins nächste Krankenhaus gemacht. Leider war es schon zu spät für Joyce als er endlich mit dem Antiserum zurück kam.“ Er presste die Lippen zusammen und schüttelte schließlich den Kopf, als wolle er die unangenehmen Erinnerungen abschütteln. „Wie auch immer, das alles ist ebenfalls lange her. Allerdings hat Charlie das nie wirklich überwunden.“

   Impulsiv beugte Gilian sich vor und legte tröstend eine Hand auf Johns Hände, die immer noch krampfhaft gefaltet auf dem Tisch lagen. „Ich bin sicher, Charlie hat so schnell gemacht, wie er konnte“, sagte sie leise.

   „Natürlich hat er das.“ Johns Augenbrauen fuhren in die Höhe und er entzog sich ihr abrupt, indem er sich zurücklehnte. „So hatte ich das nicht gemeint. Das Problem ist nur, dass er seitdem mehr trinkt als gut für ihn ist. – Oh weh, noch etwas, was ich besser nicht hätte sagen sollen“, setzte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.“

   „Er macht sich sicher Vorwürfe, auch, wenn sie unbegründet sind. Das ist durchaus verständlich. Schließlich kam er zu spät und Ihre Frau ist gestorben."

   „Ach, Sie wissen es gar nicht? Joyce war nicht nur meine Frau. Sie war auch Charlies einziges Kind“, eröffnete John ihr tonlos.

   „Oh Gott, das wusste ich wirklich nicht. Dann war es also doppelt tragisch. Wie furchtbar. Was ist mit ihren Sohn? Wie hat er das alles verkraftet?“

   „Ganz gut soweit“, antwortete John ein wenig überraschend für Gilian. „Na ja, nicht direkt, aber inzwischen schon. Marc brauchte `ne Weile, um sich zu fangen. War aufsässig, in sich gekehrt, immer im Wechsel. Es war nicht einfach mit ihm, aber irgendwann hatte er sich gefangen. Trotzdem schickte ich ihn später vorübergehend für zwei Jahre zu Verwandten in Amerika, was allerdings ein grober Fehler war.“ Er verzog das Gesicht. „Er kam überhaupt nicht zurecht. Nachdem er die dritte Schule verschlissen hatte, haben Charlie und ich ihn schließlich zurück nach Hause geholt. Das ist jetzt drei Jahre her. Seitdem läuft es eigentlich überraschend gut, um Ihre Worte zu benutzen.“

   Gilian zuckte zusammen und blickte John forschend an. „Ernsthaft?“, rutschte er ihr unwillkürlich heraus.

   „Ja, na ja, es gibt natürlich die obligatorischen Reibereien zwischen den Kids von der Base und den einheimischen Jugendlichen, zu denen mein Sohn sich zählt. Aber das sind Kleinigkeiten. Nicht der Rede wert.“ John hob den Kopf und blickte Gilian fragend an. „Sie wirken irgendwie verwundert“, stellte er fest. „Warum?“

   „Ich? Verwundert? Nein, ich…“ Gilian hatte sich unwillkürlich die Frage gestellt, ob John sich nur ihr gegenüber so verhielt, oder ob er tatsächlich nichts von den Problemen seines Sohnes ahnte. „Sie irren sich. Ich hatte mich nur gerade gefragt, wann die Kinder wohl zurück kommen?“, wich sie aus und fragte sich sofort, ob das die richtige Reaktion gewesen war. Es war zumindest eine ehrliche Reaktion, sagte sie sich gleich darauf, denn nach dem, was John ihr eben erzählt hatte und wenn sie sich in Erinnerung rief, was sie bislang über Marc Gilbert wusste, wünschte sie sich die Rückkehr der Jugendlichen tatsächlich dringend herbei. Inzwischen bereute sie längst, ihrer Tochter so leichtfertig die Erlaubnis für diesen Ausflug gegeben zu haben.

 

44. Kapitel

 

   Marc schritt zügig voran. Nachdem er mit Suzanne im Schlepptau das Wasserloch verlassen hatte, waren sie zunächst eine ganze Weile über offenes Gelände durch die sengende Hitze marschiert, bevor sie jetzt endlich ein wenig Schutz vor der immer noch unbarmherzig vom Himmel brennenden Sonne in einem Teilabschnitt des Busches fanden, der sich durch dichtes, wenn auch verdörrtes Gestrüpp, auszeichnete. Da es sehr lange nicht geregnet hatte, war der völlig ausgetrocknete Boden bereits stellenweise derart durch Wurzeln aufgeworden, dass sie permanent darauf achten mussten, dass sie nicht stolperten und hinfielen.

   Er behielt die nähere Umgebung peinlich genau im Auge, während er gleichzeitig konzentriert auf Suzannes Schritte hinter ihm achtete. Obwohl er ein ordentliches Tempo vorlegte, schaffte sie es immer noch, mit ihm Schritt zu halten. Ihre Atemgeräusche dicht hinter ihm verrieten jedoch, dass es sie inzwischen einige Mühe kostete. Er rechnete es ihr hoch an, dass sie sich bis jetzt noch nicht beschwert hatte.

   Auch, wenn nach wie vor Niemand zu sehen war … die Angst, dass ihnen die beiden Soldaten womöglich irgendwo im Nacken sitzen und auf sie lauern könnten trieb Marc, trotz seines nicht unbeträchtlichen Gepäcks, immer weiter voran. Schließlich war es soweit. Er spürte es mehr, als das er es sah. Suzanne war abrupt hinter ihm stehen geblieben.

   „Wenn du weiter so ein Tempo vorlegst, sind wir wahrscheinlich doch schon heute Abend an der Station“, rief sie ihm hinterher und es war ihrer Stimmlage deutlich anzuhören, dass mehr als genervt war. „Das ist es, was du willst, nicht wahr? Mich so schnell wie möglich wieder abliefern.“

   Augenblicklich blieb er stehen und wartete bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Kaum war das geschehen, ging er weiter – dieses Mal jedoch deutlich langsamer als zuvor.

   „Besser so?", fragte er knapp über die Schulter.

   „Geht schon", kam offensichtlich verärgert die Antwort. 

   Marc entgegnete nichts mehr. Da er jedoch nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen wollte, reduzierte er die Geschwindigkeit nochmals ein bisschen und war froh, dass sie von jetzt an tapfer den Anschluss hielt.

**********

   Es hatte Mitch und Scott eine Menge Zeit gekostet, bis zum Wasserloch zu kommen. Es war relativ einfach gewesen, die Stelle zu finden, zu der Suzanne ihnen die Koordinaten genannt hatte. Da sie jedoch den Ort längst verlassen vorgefunden hatten, war es von dort aus schwierig gewesen, den Reifenspuren des Jeeps weiter zu folgen. In dem unwegsamen, ausgedörrten Gelände verloren sie mehrfach die Spur und hatten daher zunächst mehrfach die falsche Route eingeschlagen. Frustriert hatten sie ihren Kompass zu Hilfe genommen, waren immer wieder zum vorherigen Ausgangspunkt zurückgekehrt und letztlich war es ihnen tatsächlich gelungen, den Spuren bis zum Wasserloch zu folgen. Jetzt standen sie am Ufer und blickten sichtlich frustriert auf die kaum noch sichtbaren Reste des Jeeps.

   „Und wieder sind sie über alle Berge", deklarierte Mitch düster. „Ich schwöre, wenn ich den Knaben in die Finger kriege, dann Gnade ihm Gott. Den mach ich so was von fertig."

   „Wenn...", konstatierte Scott knapp und trat gegen eine Wurzel. „Dazu müssten wir das Arschloch erstmal finden.“

   „Sie können noch nicht weit sein.“ Mitch blickte sich um. „Schließlich sind sie jetzt zu Fuß unterwegs."

   „Ja, aber in welche Richtung?", fauchte Scott. „Den Fußspuren zu folgen dürfte bei dem Untergrund genauso schwierig sein, wie den Reifenspuren. Wenn nicht sogar noch schwerer. Schließlich sind die beiden leichter als ein Auto.“

   „Es wäre toll, wenn du zur Abwechslung auch mal was Produktives beisteuern würdest, anstatt immer nur zu meckern“, schoss Mitch zurück. „Du gehst mir damit tierisch auf den Sack.“

   „Ist doch wahr“, maulte Scott weiter, während er einen Blick auf seine Armbanduhr warf. „Na toll! Zum Schichtwechsel schaffe ich es jetzt schon wieder nicht rechtzeitig.“

   „Ist mir scheißegal“, reagierte sein Kumpel immer noch gereizt. „Also gut, denken wir nacg.Wir wissen immerhin, dass sie nicht den direkten Weg genommen haben. Sonst wären sie uns direkt in die Arme gelaufen.“

   „Ja, falls sie nicht an uns vorbei sind, während wir mal wieder auf `nem falschen Kurs waren. Wir hätten beim ursprünglichen Plan bleiben, und uns irgendwo sicher positionieren sollen. Dann hätten wir sie vielleicht schon. Aber nein, du musstest ja unbedingt…“

   „Ach, halts Maul“, zischte Mitch, der nicht zugeben wollte, dass Scott hier ausnahmsweise mal recht hatte. „Nein, ich bin sicher, dass der Arsch geringfügig vom Kurs abgewichen ist und Umwege macht. Trotzdem werden sich die beiden konsequent auf die Station zubewegen.“

   „Ja, oder er geht auf Nummer sicher und macht einen Riesenbogen. Immerhin kennt der Kerl sich hier aus.“ Scott ging ein paar Schritte, den Kopf gesenkt und die Augen permanent auf den Boden gerichet. „Sieh dich um, Mitch. Man kann kaum etwas erkennen. Sie könnten überall sein – lass uns zurückfahren: Es wird bald dunkel und du weißt, wie schnell es hier stockfinster wird, wenn die Dämmerung erstmal eingesetzt hat. Ich hab´ echt keine Lust, mich auf dem Rückweg auch noch zu verfahren."

   „Womöglich hast du Recht.“ Man sah Mitch deutlich an, wie unzufrieden er mit der Entwicklung der Geschehnisse und wie schwer ihm dieses Eingeständnis gefallen war. Plötzlich hellten sich seine Züge wieder auf. „Hey, mir kommt da gerade eine Idee. Es wird dich freuen, wir fahren zurück. Wenn wir nur schnell genug sind, können wir die Geschichte mit der Entführung nämlich trotzdem verkaufen."

   „Woran denkst du?", fragte Scott interessiert.

   „Ganz einfach: Die beiden werden auf jeden Fall `ne Weile brauchen, bis sie wieder auf der Station aufschlagen. Vor allem, weil sie weiter versuchen werden, uns aus dem Weg zu gehen. Wir hingegen fahren jetzt schnurstracks zurück, rufen bei ihrer Mutter an und tun so, als hätten wir die beiden. Wir legen den Zeitpunkt für die Lösegeldübergabe möglichst knapp und kassieren die Kohle noch bevor die beiden zurück sind."

   Scott's Augen leuchteten auf: „Ich muss schon sagen, du bist genial.“

   „Ich weiß", antwortete Mitch bescheiden.   

   „Aber was machen wir, wenn die beiden irgendwann aufkreuzen? Sie kennen schließlich die Wahrheit.“

   Mitch verzog unwillig das Gesicht. „Musst du eigentlich alles madig reden? Ich würde vorschlagen, dass wir uns darüber den Kopf zerbrechen, wenn es so weit ist. Jetzt sollten wir erstmal  machen, dass wir hier wegkommen. Schließlich hast du Dienst, nicht wahr?"

**********

   „Ich finde, jetzt könnten die Beiden aber wirklich lamgsam kommen.“ Gilian wurde immer unruhiger.

   John schien ihre Nervösität zu spüren, auch wenn er sie sicherlich nicht nachvollziehen konnte. Trotzdem versuchte er ihre Bedenken zu zerstreuen, was Gilian ihm hoch anrechnete.

   „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte er jetzt beruhigend. „Der Jeep war vollgetankt, und Marc kennt das Gelände da draußen wie seine Westentasche. Dort gibt es nicht viel Verkehr.“ Er lächelte. „Damit will ich eigentlich nur zum Ausdruck bringen, dass eigentlich nicht viel passieren kann. Das sind junge Leute, sie werden einfach nur die Zeit vergessen haben. Wenn sie eine Panne gehabt hätten, hätte Marc uns längst per Funk informiert.“

   Gilian stand trotz seiner tröstenden Worte voller Sorge auf der Terasse und blickte hinaus in den Busch. Seitdem die beiden Jugendlichen überfällig waren, fragte sie sich permanent, was sie eigentlich alles über Marc Gilbert wusste. Die Erkenntnis war eher ernüchternd, denn alles, was sie von dem Jungen wusste, ließ ihn nicht unbedingt in einem positiven Licht dastehen. Sicher, Suzanne war auf seiner Seite und ihre Tochter besaß eine gute Menschkenntnis, aber auch sie konnte sich schließlich mal irren.

   Bislang hatte sie es vermieden mit John über Marcs Probleme in der Schule und die bevorstehende Anhörung über die in seinem Schließfach gefundenen Drogen zu reden. Sie hatte den schönen Nachmittag nicht durch solche Themen kaputtmachen wollen. Doch inzwischen bereute sie ihre Entscheidung zutiefst. Welcher Dämon hatte sie bloß geritten, dass sie ihr einziges Kind mit diesem merkwürdigen Eigenbrötler zusammen hatte losfahren lassen? Es war doch sonst nicht ihre Art, so bodenlos leichtsinnig und gedankenlos zu handeln. Was, wenn Marc beschlossen hatte, Suzanne als Druckmittel für was auch immer zu benutzen?

   „Hey..." John Gilbert war unbemerkt von Gilian neben sie an das Geländer getreten und legte sachte seine Hand auf ihren Unterarm. „Was kann ich tun, um Sie zu beruhigen? Ich seh´ doch, dass Sie sich Sorgen machen.“

   Gilian antwortete nicht sofort. Für einen Moment lang erlaubte sie es sich, die beruhigende Wärme, die von Johns Hand ausging, zu genießen. Allerdings war sie auch Realistin genug zu erkennen, dass das eine Vogel-Strauß-Taktik war. Es änderte nichts an der Tatsache, dass die Kinder bereits lange überfällig waren. Sie wandte John ihr Gesicht zu und schüttelte andeutungsweise den Kopf. „Ich fürchte, nichts.“

   „Sie werden sehen: Ihre Sorge ist unbegründet. Wenn die beiden gleich hier aufkreuzen, sollten wir ihnen besser nicht verraten, dass Sie sich Sorgen gemacht haben. Die Beiden würden uns auslachen, oder schlimmer noch, sie werden sich bevormundet vorkommen. Meine Erfahrung sagt, dass ist so ziemlich das Übelste, was man Jugendlichen antun kann. Darauf reagieren sie sehr allergisch. Mein Sohn auf jeden Fall.“

   Seine letzten Worte nötigten Gilian endlich ein Lächeln ab. John hatte anscheinend trotz der ganzen Misere immer noch uneingeschränktes Vertrauen zu seinem Sohn. Und auch Suzanne hielt ja auch zu Marc, wie sie wusste. Bislang hatte ihre Tochter noch immer einen guten Instinkt bewiesen. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Vielleicht machte sie sich ja wirklich grundlos Sorgen? Trotzdem, sie wurde dieses beunruhigende Gefühl einfach nicht los.

   „Was ist? Was denken Sie? Warum sehen Sie mich so an?" Er lächelte andeutungsweise. „Hey, da kann man ja Angst bekommen.“

   Gilian zuckte zusammen. „Nichts. Ehrlich, es ist nichts. Ich finde nur … John…“ Unbewusst benutzte sie die persönliche Anrede. „…es fängt schon an zu dämmern. Es wird jetzt sehr schnell dunkel sein.“

   „Tja, schade.“ John stellte sich neben sie, stützte sich auf das Geländer und folgte ihren Blicken die sich irgendwo im Busch verloren. „Offensichtlich kann ich rein gar nichts tun, um Sie zu beruhigen.“ Seine Stimme klang seltsam mutlos, gemischt mit einem Hauch Enttäuschung. „So glauben Sie mir doch, wenn der Wagen eine Panne…“

   „Was ist, wenn das Funkgerät kaputt ist?“, warf Gilian schnell ein.

   „Okay, ich seh´ schon, wir müssen was tun.“ John stieß sich entschlossen vom Geländer ab und richtete sich zu seiner vollen Länge auf. „Vorschlag, wenn es Sie beruhigt, fahren wir den Beiden entgegen. Wäre das für Sie in Ordnung?“

   „Und wie.“ Gilian blickte ihn dankbar an. „Das wäre auf jeden Fall beruhigender, als gar nichts zu tun."

   „Aber Sie erklären den Beiden dann später, warum wir ebenfalls in den Busch gefahren sind“, grinste John schief.

   „Kein Problem.“ Gilian ging zurück zum Tisch und griff nach ihrer Tasche. „Alles, was Sie wollen. Können wir?“

   „Also gut, wie Sie wollen. Gehen Sie schon mal vor. Der Wagen steht hinterm Haus. Ich sag´ nur noch schnell Charlie Bescheid, dann komme ich nach.“

**********

   „Da kommt jemand.“ Scott deutete durch die Windschutzscheibe nach vorn auf eine Staubwolke, die sich ihrem Wagen rasch näherte.

   „Das seh´ ich selber“, knurrte Mitch. „Wer zum Teufel fährt um diese Zeit noch raus in den Busch? Am besten, du lässt mich reden.“

   „Ja, ja, ich weiß. Du bist der große Macker hier“, maulte Scott leise vor sich hin.

   „Schnauze“, fauchte Mitch kurz.

   Der andere Wagen war inzwischen näher gekommen und bremste direkt neben dem der Soldaten ab.

   „Nanu, Botschafterin Banks.“ Mitchs Überraschung war echt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihnen um diese Zeit noch jemand hier draußen begegnen würde. „Was tun Sie denn hier? Mr. Gilbert.“ Er tippte sich grüßend an die Stirn.

   „Das gleiche könnten wir Sie fragen“, konterte John Gilbert knapp.

   „Wir? Oh, das ist kein Geheimnis. Wir mussten einen Wagen der Base nach einer großen Reparatur probeweise wieder einfahren. Das funktioniert hier draußen besser, als auf unserem Gelände. Schließlich müssen unsere Wagen geländetauglich sein. Aber jetzt wird es Zeit, dass wir zurückkehren. Im Dunkeln sind wir hier draußen aufgeschmissen.“

   „Hören Sie … sind Sie vielleicht unterwegs einem anderen Wagen begegnet?“, mischte sich die Botschafterin ein.

   „Einen anderen Wagen? Nein. Wieso? Was ist los? Ist was passiert? Können wir irgendwie helfen?“ Fragend ließ Mitch seine Blicke zwischen John und Gilian hin- und herschweifen.

   „Nein, nein, alles in Ordnung“, antwortete John schnell und startete den Wagen wieder. „Sehen Sie lieber zu, dass Sie zurück zur Base kommen. In einer halben Stunde ist es dunkel. Nicht, dass Sie sich noch verfahren.“ Seine Tonlage ließ keinen Zweifel daran, dass der letzte Satz sarkastisch gemeint war.

   „Tja, na dann… Viel Glück bei was-auch-immer-Sie-tun. Botschafterin Banks…“ Mitch nickte kurz verabschiedend und fuhr los. Nach einigen Sekunden sagte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Alles in Ordnung. Das ich nicht lache. Sie sind auf der Suche. Das bedeutet, dass die beiden definitiv nicht ungesehen an uns vorbei gekommen sind.“

   „Hoffentlich finden sie sie nicht“, unkte Scott.

   „Bestimmt nicht. Sobald die beiden eine Staubwolke sehen, werden sie auf Tauchstation gehen. Dafür wird Gilberts Sohn schon sorgen. Nein, sei unbesorgt. Es ist alles im grünen Bereich. Wir ziehen das Ding genauso so durch, wie besprochen.“

**********

   Im anderen Wagen blickte Gilian John fragend an: „Warum wollten Sie den beiden nicht sagen, worum es geht?“

   „Wer sagt denn, dass ich das nicht wollte?“, gab John die Frage zurück.

   „Es kam mir so vor. Ich finde, Sie waren sogar ziemlich unfreundlich zu den Beiden.“

   „So? Finden Sie? Na ja, ich hab´s nicht so mit den Typen von der Base. Außerdem wollte ich vermeiden, dass es womöglich Gerede gibt.“

   „Das könnte es jetzt erst recht geben“, gab Gilian zu bedenken.

   „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Hören Sie, wenn wir heute noch weitersuchen wollen, sollten wir los, solange wir noch ein wenig Tageslicht haben. Immerhin wissen wir jetzt, welche Richtung wir ausklammern können. Was meinen Sie?“

   „Ja, ja, natürlich suchen wir weiter. Bitte … fahren Sie.“

 

45. Kapitel

 

   Marc hielt so überraschend inne, dass Suzanne um ein Haar auf ihn aufgelaufen wäre. Im letzten Augenblick blieb sie abrupt stehen und schaute ihn fragend an.

   „Was ist los? Warum bleibst du stehen?"

   Er wies mit einer Hand nach oben. „Die Dämmerung setzt ein. Wir sollten uns nach einem Lagerplatz umsehen, bevor es ganz dunkel ist."

   Suzanne wurde hellhörig. „Einen … Lagerplatz?"

   „Ja, klar. Oder hast du vor, die ganze Nacht durchzulaufen?", antwortete er trocken, während er sich umschaute und die Gegend sondierte.

   „Wenn ich wüsste, dass ich dich dann morgen früh von der Backe hätte, würde ich das glatt tun", blitzte Suzanne ihn wütend an. Die scheinbar stoische Ruhe, mit der Marc sich in die Situation ergab, regte sie maßlos auf. Es war zwar vermutlich der richtige Weg mit Allem umzugehen, denn ändern konnten sie die Lage ja doch nicht, doch so oft sie sich das auch sagte, bei ihr wollte das einfach nicht funktionieren.

   „Vergiss es“, schüttelte Marc den Kopf. „Ich kann mir durchaus vorstellen, dass der Gedanke verlockend für dich ist, aber den Gefallen kann ich dir leider nicht tun. Zu gefährlich.“

   „Schon klar. Aber wieso erst großartig umsehen? Lass uns einfach hierbleiben. Ist doch letztlich scheißegal, wo wir unser Lager aufschlagen.“

   „Nein, die Stelle hier ist nicht gut. Wir sollten uns einen Ort suchen, der mehr geschützt liegt", kommentierte Marc ihren Vorschlag und ging weiter. Als sie ihm nicht gleich folgte, sagte er über die Schulter. „Na, komm´ schon. Ich hab´ da ´ne Idee, wo wir über Nacht bleiben können. Wenn ich mich recht entsinne, ist es nicht mehr weit.“

   Suzanne zuckte mit den Schultern, so als sei es ihr gleichgültig, was sie täten und setzte sich, genauso wie Marc, wieder in Bewegung. Nach einer Weile blieb er wieder stehen und blickte sich sorgältig um. Suzanne tat es ihm gleich und folgte seinen Blicken, Überrascht stellte sie fest, dass die umliegende Landschaft sich unbemerkt von ihr verändert hatte. Um sie herum war nun dichter Busch und vor ihnen lag eine kleine Lichtung. Unfassbar, dass sie das nicht bemerkt hatte. Sie war so sehr mit ihren Gedanken und ihrer Wut beschäftigt gewesen, dass sie alles um sich herum komplett ausgeblendet hatte.

   Sie schätzte die Fläche der Lichtung auf etwa zehn Quadratmeter, umgeben von schützendem Buschwerk. Der Untergrund war zwar staubig, aber er schien ohne Wurzeln und einigermaßen eben zu sein. Bedächtig trat sie vor bis in die Mitte der kleinen Fläche und registrierte erstaunt, dass es dort, nur wenige Meter von ihrem vorherigen Standpunkt entfernt, beinahe kühl war. Lediglich von oben schien ein wenig Licht hinein. Marc hatte recht. Der Ort war perfekt für einen Lagerplatz. Er bot Sichtschutz für alle vier Himmelsrichtungen und gleichzeitig würden sie vermutlich hören, falls sich ungebeten wilde Tiere nähern sollten. Aber…

   „Okay." Marc kam näher und stellte sein Gepäck ab. „Das ist die Stelle, die ich meinte. Hier bleiben wir.“  

   „Ich will ja nicht meckern, aber hier findet uns garantiert niemand. Ich meine, inzwischen suchen sie doch sicher schon nach uns.“

   „Nicht nachts. Mach dir keine Sorgen. Falls deine Mam tatsächlich einen Suchtrupp organisiert hat, werden die auch bald Pause machen. Es wäre zu gefährlich.“

   Wortlos ließ Suzanne sich mitsamt ihrer Sachen auf den Boden sinken. Mit gemischten Gefühlen schaute sie Marc dabei zu, wie er schweigend den Lagerplatz vorbereitete. Er breitete die Decke aus, rollte einen der Schlafsäcke aus und legte ihn auf die Decke. Seine Bewegungen waren ruhig und kontrolliert. Als er nach dem zweiten Schlafsack griff, schrillten plötzlich alle Alarmglocken in ihrem Kopf gleichzeitig. Es war verrückt, aber anstatt froh darüber zu sein, dass sie sich endlich gleich ausstrecken und sich ausruhen konnte, berührte sie die Vorstellung, dass sie und Marc hier draußen gemeinsam die Nacht verbringen würden, irgendwie merkwürdig.

   „Was tust du da?", fragte sie leise, eigentlich nur um das Schweigen zu unterbrechen, das seit einigen Minuten unangenehm in der Luft hing.

   „Was wohl? Ich mache unser Bett", antwortete er kurz.

   „Unser … Bett?"

   Er streifte sie mit einem kurzen Blick über die Schulter. „Na ja, ich weiß, es ist nicht gerade das Ritz, aber es wird schon gehen."

   „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich da neben dir schlafe?", sprudelte sie heraus und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen.

   „Was denn? Was glaubst du, was passiert? Du nimmst doch sicher die Pille, oder etwa nicht?“ Marcs Stimme klang verärgert und provozierend, doch anscheinend machte sie ein so entsetztes Gesicht, dass er gleich darauf abwehrend beide Hände hob, um seine unglückliche Bemerkung abzuschwächen. „Hey, guck nicht so. Keine Angst, nichts wird passieren. Ich werd´ dir schon nichts tun. Wir haben zwei Schlafsäcke, also mach bitte kein Drama draus. Falls du es allerdings vorziehen solltest, ohne Decke direkt auf dem harten Boden zu liegen, so ist das deine Sache. Wir haben morgen einen harten Tag vor uns, und ich werde auf jeden Fall auf der Decke schlafen, nur damit das klar ist."

   Suzanne griff sich wortlos den zweiten Schlafsack und breitete ihn anschließend mindestens drei Meter vom Lagerplatz entfernt, am Rande der Lichtung, wieder aus.

   Marc zuckte mit den Schultern: „Wie du willst", sagte er lakonisch. „Aber jammere mir bloß morgen nicht die Ohren voll, dass dir die Knochen wehtun.“ Er öffnete seinen Rucksack und kramte darin herum: „Hast du Hunger?"

   Suzanne realisierte jetzt erst, wie hungrig sie tatsächlich war. Immerhin hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. „Und wie."

   „Gut, Also, wir haben noch Kekse, ein paar belegte Brote, Obst und Schokolade. Was möchtest du haben?"

   „Von jedem etwas."

   Er strich sich die Haare zurück. „Hör zu, ich will dich nicht bevormunden oder so was, aber wir sollten uns die Vorräte einteilen. Ich meine, so fürchterlich viel haben wir nicht und falls noch etwas passieren sollte..."

   „Wie meinst du das?", hakte Suzanne schnell ein. „Was sollte denn noch passieren?“

   „Ich weiß nicht“, wich er aus. „Hier draußen kann `ne Menge passieren. – Jederzeit."

   Suzanne schluckte. Das war zwar nicht die Antwort die sie erhofft hatte, aber sie sah ein, dass er Recht hatte. „Okay“, lenkte sie ein. „Gib´ mir einfach, was du für richtig hältst.“

   Marc nahm für jeden eine Scheibe Brot und etwas Obst heraus.

   „Nein, lass mal.“ Suzanne verzog das Gesicht. „Das Brot reicht“, sagte sie, obwohl ihr Magen eindeutig gegen diese Entscheidung rebellierte.

   Mit drei Schritten überbrückte Marc die Distanz zwischen ihnen und hielt ihr, trotz ihrer Ablehnung, beides hin. „Nimm, ist schon in Ordnung.“

   „Mag sein, aber ich mag keine Pfirsiche“, erläuterte sie kopfschüttelnd.

   „Sie sind aber gut gegen Durst", erklärte er geduldig und nach kurzem Zögern nahm sie ihm schließlich beides ab.

   Er schlenderte zurück zur Decke, ließ sich im Schneidersitz nieder und wickelte sein Brot aus der Folie. Mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper biss er hinein und schien Suzanne völlig vergessen zu haben. Suzanne beobachtete ihn still und fragte sich, was er wohl dachte. Über sie? Über die Situation, in der sie sich befanden? Über alles. Leider konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht richtig erlkennen, da sein Profil durch die nach vorn fallenen Haare halb verdeckt wurde.

   Sie wandte sich wieder ihrer kargen Mahlzeit zu und drehte und wendete den Pfirsich in ihren Händen, befühlte ausgiebig noch einmal die ungeliebte, etwas pelzige Oberfläche des Obstes, die bei ihr immer ein leichtes Ekelgefühl hervorrief, bevor sie sich schließlich überwand und hineinbiss.

   „Gar nicht mal so übel", erklärte sie unmittelbar darauf kauend, erstaunt über sich selbst. „Im Ernst, früher hab´ ich bei Pfirsichen immer kotzen müssen."

   Mit dieser Bemerkung brachte sie Marc zum ersten Mal seit Stunden zum lachen. Er ließ es sie zwar nicht sehen, aber sie hörte sein leises Glucksen und sah, wie seine Schultern ein paar Mal leicht zuckten. Suzanne schmunzelte still. Sie musste es Marc ja nicht auf die Nase binden, aber sie mochte es, wenn er lachte. Ihr gegenüber zeigte er es selten, doch wenn er es tat, lachte nicht nur sein Mund, sondern auch seine Augen. Das war es, erkannte sie in diesem Augenblick. Das war es, was sie an Benjamin so störte. Ben lachte immer nur mit dem Mund. Sein Lächeln erreichte niemals seine Augen. Und außerdem zeigte sich auf seiner Wange nicht so ein reizvolles Grübchen, wenn er lächelte. Ein Grübchen, das sie jetzt zu gerne noch einmal sehen wollte. Sie brauchte unbedingt etwas, das ihre Laune hob.

   „Hey. Lachst du mich etwa aus?", fragte sie gespielt entrüstet, um Marc aus der Reserve zu locken. Es funktionierte, wie sie gleich darauf feststellte. Er drehte sich zu ihr, und ließ sie tatsächlich das Grübchen noch einmal kurz sehen. Sehr gut. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund freute sie sich, dass sie in der Lage dazu war, ihn zum Lächeln zu bringen.

   „Nein, im Gegenteil“, antwortete er jetzt immer noch lächelnd. „Ich finde, du hältst dich ziemlich tapfer.“ Er zwinkerte kurz. „Für eine Amerikanerin. – Hier, fang." Er warf die Feldflasche zur ihr rüber: „Trink einen Schluck, und dann sollten wir uns langsam hinlegen, und versuchen zu schlafen. Wie gesagt, wir haben morgen einen harten Tag vor uns."

   Nachdem Suzanne ein wenig getrunken hatte, goss sie sich etwas Wasser in die Handfläche, und versuchte sich damit wenigstens den gröbsten Staub vom Gesicht zu wischen. Besser eine Katzenwäsche als gar nichts. Doch, wie sollte es anders sein? Marc stoppte sie schon im Ansatz.

   „Nicht. Hör auf damit. Ist egal, wie wir aussehen. Wir wollen doch keinen Schönheitspreis gewinnen. Wasserlöcher sind in dieser Gegend rar."

   Ihm mochte es ja egal sein, wie er aussah; ihr ganz sicher nicht. „Kann ich dir eigentlich auch irgendwas recht machen?" Eine unüberhörbare Schärfe hatte sich zurück in ihre Stimme gestohlen und erinnerte sie wieder daran, dass sie im Grunde eigentlich immer noch sauer auf Marc war. Dass er andauernd an ihr herumnörgelte machte die Sache nicht besser. Bei Gott, sie war wirklich wütend auf ihn, und sie hatte jedes Recht dazu. immerhin hatte er sie mit seiner blöden Furcht vor Schlangen erst in diese absurde Lage gebracht. Schlangen…? Sie wurde einfach das Gefühl nicht los, dass da mehr dahinter steckte. Dass Marc ihr nicht alles gesagt hatte. Mit irgendetwas hielt er hinter dem Berg. Das spürte sie.

   „Wir sollten unsere Energie nicht mit Streiten vergeuden“, sagte er ruhig. „Das bringt nichts.“ Er drückte sich nach oben. „Ich verschwinde noch mal kurz in die Büsche. Wenn du willst, lass ich dich vor.“

   „Nein, danke“, sagte sie spitz. „Ich werde ganz bestimmt nicht hier draußen in der Wildnis pinkeln.“

   „Soweit ich weiß hat hier in der Gegend noch niemand Dixi-Klos aufgestellt. Was bedeutet, dass auch du schon sehr bald hier draußen pinkeln wirst. Ich schätze, spätestens morgen früh. Aber bitte, es ist deine Blase und deine Entscheidung.“ Er wendete sich ab. „Ich bin gleich wieder da.“

**********

   Je dunkler es wurde, desto schweigsamer wurde Gilian Banks auf dem Beifahrersitz des 2. Jeeps der Station.

   „Hey, machen Sie sich bitte nicht verrückt", versuchte John, der ahnte wie es in ihr aussah, sie zu beruhigen. „Der Busch ist Marcs Heimat. Selbst, wenn die beiden eine Panne gehabt hätten und nun hier draußen irgendwo campieren müssen, wird er mit der Lage zurechtkommen. Es gibt absolut keinen Grund, sich Sorgen zu machen.“ Wen willst du hier eigentlich beruhigen, fragte er sich kaum, dass er die Worte ausgesprochen hatte? Warum konnte er nicht einfach zugeben, dass auch er längst schon in Sorge über den Verbleib der beiden Jugendlichen war.

   „Was glauben Sie, haben wir den richtigen Weg genommen?", fragte Gilian leise und die Sorge war ihr deutlich anzuhören, auch ohne, dass er einen Seitenblick auf sie warf.

   John schwieg eine Weile, dann fällte er eine Entscheidung und antwortete ehrlich. „Ich will Ihnen nichts vormachen. Die beiden könnten hier draußen überall sein. Wir haben keine Ahnung, welche Route sie genommen haben. Wenn Sie so wollen machen wir gerade eine Fahrt ins Blaue“, gestand er ebenso leise, wie Gilian zuvor ihre Frage gestellt hatte.

   „Das dachte ich mir.“ Gilian nickte. „Danke für ihre Aufrichtigkeit. Können wir trotzdem noch ein bisschen weiterfahren? Bitte."

   „Sicher, kein Problem", antwortete John geduldig.

   „Danke“, wiederholte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme.

   „Dafür nicht." John verschwieg Gilian nach wie vor wohlweislich, wie es in ihm aussah. Er hatte sich bewusst für eine eine absolut gängige Route durch die Wildnis entschieden. Im Grunde war er sich sicher gewesen, dass Marc diesen Weg gewählt hätte, wenn er Suzanne die Gegend zeigen wollte. Dass sie unterwegs nicht auf die Kids getroffen waren, beunruhigte ihn zutiefst. „Sie werden sehen", sagte er schließlich, wohl auch um sich selbst zu beruhigen. „Wenn wir nach Hause kommen warten die beiden wahrscheinlich schon auf uns und lachen sich kaputt."

   „Hoffentlich haben Sie recht", meinte Gilian sichtlich bedrückt.

   Circa eine halbe Stunde später – es war mittlerweile stockdunkel geworden – hielt  John kurz an, stieg aus und starrte von einer kleinen Anhöhe aus angestrengt in die undurchdringliche Dunkelheit.

   „Können Sie etwas erkennen?", fragte Gilian gespannt vom Wagen aus.

   „Nein, leider nicht. Es ist zu dunkel." Frustriert ging er zurück zum Wagen: „Es tut mir wirklich leid, Ihnen das sagen zu mssen, Mrs. Banks, aber es hat keinen Zweck mehr, heute noch weiter nach den beiden zu suchen. Bitte, das müssen Sie einsehen."

   „Ja. Aber vielleicht..."

   John ging rüber zur Beifahrerseite, bückte sich und blickte Gilian durch das Fenster eindringlich an: „Wenn wir jetzt noch weiterfahren besteht die Gefahr, dass uns auf dem Rückweg der Sprit ausgeht. Dann stecken wir auch noch fest. Das wollen Sie doch nicht wirklich, oder?“

   „Nein.“ Gilian strich sich eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. „Sie haben Recht. Kehren wir um. Wahrscheinlich warten die beiden wirklich schon bei der Station auf uns."

   John schlug sich gegen die Stirn: „Verdammt! Das ich daran nicht schon eher gedacht habe." Eilig ging er um den Wagen herum, stieg ein und griff nach dem Funkgerät. Mit einem Seitenblick streifte er Gilian. „Gleich wissen wir mehr."

   Über Funk rief er Charlie und der brachte ihre vagen Hoffnungen wie Seifenblasen zum platzen. Gilian, die mitgehört hatte, sah ihn fragend an:

   „Und nun?"

   „Ich habe keine Erklärung." Er zuckte resigniert mit den Achseln.

   „Aber denken Sie inzwischen nicht auch, dass den beiden etwas passiert sein muss?"

   „Ich … ich will Sie nicht beunruhigen."

   „Ich bin erwachsen", erinnerte sie ihn sanft.

   „Ja, ich weiß", grinste er schief. „Ich kann nur nicht damit umgehen. – Was machen wir nun? Fahren wir zurück?"

   „Ja, aber eine Frage möchte ich Ihnen zuvor gerne noch stellen."

   „Sicher, gerne.“ Er ging um den Wagen zurück, stieg ein und griff nach dem Zündschlüssel. „Fragen Sie mich, soviel Sie möchten.“

   „Nein“, sagte sie schnell und legte ihre Hand auf seinen Unteram. „Ich habe nur eine Frage, die mir wirklich auf der Seele brennt und ich möchte Ihnen bei Ihrer Antwort ins Gesicht sehen können. Bitte.“

   „Okay…“ Verwundert hob er die Augenbrauen und wandte sich Gilian zu. „Ich höre…?“

   „Ich wüsste gerne… Inwieweit vertrauen Sie Ihrem Sohn?"

   „Wie?" Überrascht blickte er in ihr Gesicht. „Das ist Ihre Frage? Natürlich vertraue ich meinem … was...“ Er stutzte. „Ach so, ich verstehe. Sie haben Angst, dass...“ Er lächelte leicht. „Na ja, dafür kann ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Marc ist ein ganz normaler Teenager. Aber keine Sorge: Ich bin mir sicher, dass er ein `Nein´ akzeptieren kann."

   „Oh…“ Gilian wirkte plötzlich leicht verlegen. „Nein, darauf wollte ich nicht hinaus."

   „Was denn dann? Ehrlich, ich verstehe nicht."

   Gilian seufzte tief: „Das kann ich mir denken, das heißt, ich merke es schon die ganze Zeit über an Ihrem Verhalten.“ Sie seufzte wieder.

   „Wissen Sie was? Langsam machen Sie mir Angst mit Ihren kryptischen Andeutungen.“ Er grinste schief, um seine Beunruhigung zu verbergen.

   „Ja, nein. Das wollte ich nicht, aber John…“ Ein Ruck ging durch ihren Körper, und die Art und Weise, wie sie sich straffte, zeigte John, dass Gilian einen Entschluss gefasst hatte. „…ich muss Ihnen etwas sagen."

    Einerseits war er froh darüber, aber gleichzeitig ahnte er irgendwie, dass ihm nicht gefallen würde, was er gleich zu hören bekam. Trotzdem antwortete er: „Das klingt verflixt ernst."

   „Es ist ernst. Ich fürchte, es könnte sogar ziemlich ernst sein.“

   Gilian erzählte ihm nun eine Zusammenfassung dessen, was sie von den Vorkommnissen in der Schule und der daraus resultierenden Suspendierung Marcs wusste. „Es tut mir leid", endete sie schließlich und sah ihren Nachbarn an.

   Der hatte plötzlich nichts Jungenhaftes mehr an sich. Im fahlen Mondlicht wirkte John als sei er binnen Minuten um Jahre gealtert. Fassungslos erwiderte er Gilians Blick: „Das ist ein schlechter Scherz, kommen Sie, das kann unmöglich Ihr Ernst sein? Sie haben da sicher etwas in den falschen Hals bekommen."

   „Leider nicht", kam leise die Antwort. Und gleich darauf noch eine Nuance leiser: „Ehrlich, ich wünschte es wäre so."

   „Aber… Aber das hätte Marc mir doch…“ John stockte für ein paar Sekunden und stieß dann den angehaltenen Atem aus. „Okay, gehen wir mal davon aus, es stimmt. Was schließen Sie dann jetzt daraus?"

   „Ich weiß nicht – sagen Sie es mir. Was soll ich daraus schließen?"

   John schwieg, seine Züge zur Maske erstarrt.

   „Ich fand einfach, Sie sollten es wissen."

   „Ja, danke. Da haben Sie sicher recht.“ Er startete den Motor und wehrte mit einer Handbewegung Gilians Hand ab, die sie tröstend wieder auf seinen Arm legen wollte. „Nein, lassen Sie das. Bitte. Es wird Zeit, lassen Sie uns fahren.“

 

46. Kapitel

 

 

   Während der gesamten Rückfahrt sprach John kein einziges Wort mehr. Gilian schien genauso bedrückt wie er, denn auch sie schwieg hartnäckig. In diesem Moment war es ihm egal … es war ihm sogar lieber so. Sie hätte sowieso nichts sagen können, um ihn aufzumuntern. Ihr Bericht hatte ihn völlig verstört. So wie im Augenblick hatte er sich seit Joyces Tod nicht mehr gefühlt. Es war, als befände er sich in einer Art Schockzustand. So gern er zuvor mit Gilian losgefahren war, jetzt begrüßte er es, als endlich die Station in Sicht kam. Er musste dringend nachdenken. Allein.

 

   Auf der Terrasse wurden sie bereits von Charlie erwartet.

 

   „Gibt's was Neues?", erkudigte John sich beim Näherkommen überflüssigerweise bei seinem Schwiegervater und Freund, wobei seine Stimme tonlos und seltsam uninteressiert klang. Wie erwartet schüttelte Charlie verneinend den Kopf. John nickte grimmig, strich seine Haare zurück und drehte sich zu Gilian um: „Mrs. Banks, Charlie wird Sie nach Hause bringen. Wer weiß, vielleicht erfahren Sie ja in der Botschaft etwas, das Licht ins Dunkel bringt."

 

   „Willst du das nicht lieber selbst erledigen?“, fragte Charlie und blickte sichtlich unbehaglich von einem zum Anderen. „Ich übernehme die Tiere.“

 

   „Nein.“ John hörte selbst, wie barsch er sich anhörte und schwächte seine Ablehnung ab. „Ich habe noch etwas anderes zu erledigen. Bitte übernimm du das, okay?“

 

   „Aber...", kam von Gilian, die bisher schweigsam neben ihnen gestanden hatte, ein zaghafter Einwand, den John allerdings direkt im Ansatz unterbrach.

 

   „Bitte, Mrs. Banks. Lassen Sie es gut sein. Es war ein langer Tag. Ich schaue morgen bei Ihnen vorbei, in Ordnung? Gute Nacht."

 

   „In Ordnung“, antwortete sie leise und extem reserviert. „Gute Nacht. Und vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht und die Zeit genommen haben." Gilian stieg in den anderen Wagen, in den Charlie inzwischen bereits eingestiegen war und auf sie wartete.

 

   John blieb kurz stehen und beobachtete, wie Gilian die Handkurbel an dem alten Wagen benutzte, um das Fenster herunter zu drehen. Ihre Züge hinter der schmutzigen Scheibe wirkten niedergeschlagen, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Ruckartig wandte er sich ab und ging mit schnellen Schritten auf das Haupthaus zu.

 

   „John?"                       

 

   Verdammt! Gilians Stimme hielt ihn zurück „Ja?“ John drehte sich auf dem Absatz um, blieb aber auf der Stelle stehen. Die Gedanken in seinem Kopf überstürzten sich bereits und er musste sich regelrecht zwingen, seine Aufmerksamkeit auf Gilian zu konzentrieren, die ihren Kopf durch das offene Autofenster zwängte und deren Mimik verzweifelt wirkte.

 

   „Ich... es tut mir so leid. Sie müssen mir glauben. Ich wollte nicht..."

 

   „Schon gut. Bitte melden Sie sich über Funk, falls es Neuigkeiten in der Botschaft geben sollte. Danke." John wartete eine eventuelle Antwort nicht ab, sondern betrat jetzt endgültig mit hängendem Kopf die Stufen, die zur Terrasse hinauf führten.

 

**********

 

   Als Marc zu dem provisorisch eingerichteten Lagerplatz auf der Lichtung zurückkehrte war Suzanne bereits in ihren Schlafsack gekrochen und lag mit dem Rücken zu seiner Lagerstätte. Er konnte nicht erkennen, ob sie bereits schlief, oder nur so tat, aber das spielte für ihn im Moment eh keine Rolle. Er war stehend k.o. und wollte seine müden Knochen ebenfalls nur noch so schnell wie möglich ausstrecken und schlafen. Kraft schöpfen für den nächsten Tag, der mit Sicherheit anstrengend werden würde.

 

   Er verstaute rasch sorgfältig die restlichen Vorräte, krabbelte in seinen Schlafsack, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Allerdings war an ein direktes Einschlafen dummerweise nicht zu denken. Er konnte den Gedanken, wie er Suzanne die ganze Zeit über hinterging, einfach nicht aus seinem Kopf bekommen. Seine Lüge stand zwischen ihnen, soviel war klar. Suzanne schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte und es lag nur an ihm, Klarheit zu schaffen. Doch was, wenn er es tat? Er befürchtete, dass die Stimmung zwischen ihnen nach einem Geständnis endgültig kippte. Für ihre aktuelle Situation nicht gerade erstrebenswert.

 

   Es war wichtig, dass sie zusammenhielten, dass Suzanne ihm vertraute. Er ahnte, wenn er ihr die Wahrheit sagte, konnte er das Thema Vertrauen wohl ein für allemal abhaken. Wie er es auch drehte und wendete, er konnte nichts tun, um die allgemeine Stimmungslage zu verbessern.

 

   „Autsch“, hörte er leise Suzannes Stimme hinter sich.

 

   Er drehte sich um, stützte sich auf seinen Ellbogen, und versuchte in der stärker werdenden Dunkelheit etwas zu erkennen. „Was ist los?“

 

   „Nichts, mich hat nur irgendwas gezwickt. Wahrscheinlich eine Mücke", bekam er ebenso leise zur Antwort. „Schlaf weiter.“

 

   „Okay.“ Doch Marc verharrte in der gleichen Position. „Suzanne?“

 

   „Ja?"

 

   „Willst du nicht doch rüber auf die Decke kommen? Ich beiße nicht“, bot er ihr noch einmal an. Er überwand sich und gestand leise: „Ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn du in meiner Nähe wärst. Ich … ich bin ein absolut sicherer Mückenschutz. Ich mein´s ernst, mich hat noch nie was gestochen. Ehrlich.“

 

   Nach einer kurzen Pause antwortete sie zu seiner Erleichterung: „Okay. Achtung, ich komme.“

 

   Gleich darauf überraschte sie ihn ein weiteres Mal, indem sie sich mitsamt Schlafsack in seine Richtung rollte, bis sie schließlich mit Schwung in der Dunkelheit gegen ihn prallte.

 

   „Ups, sorry, tut mir leid", kicherte sie leise.

 

   „Schon gut", antwortete er gutmütig. Er grinste in der Dunkelheit, rückte bereitwillig ein Stück zur Seite und machte Platz.

 

   „Weißt du was?", flüsterte sie.

 

   „Was denn?" Unwillkürlich flüsterte Marc ebenfalls, obwohl das natürlich totaler Blödsinn war, denn er war sich sicher, dass sie während der Nachtstunden nicht auf zweibeinige Gegner achten mussten.

 

   „Ich habe mich gerade dazu entschlossen das Ganze als eine Art Abenteuer zu sehen. So wie `ne Art Exclusiv-Safari."

 

   „Gute Idee“, antwortete er, während sich sofort sein schlechtes Gewissen zurückmeldete.

 

   „Oder ist es gar eine Art Krimi?", setzte sie nach, stützte sich nun ebenfalls auf und versuchte im fahlen Mondlicht, das dünn in die Lichtung einfiel, seinen Blick einzufangen.

 

   Der Moment der Wahrheit war da und Marc fühlte plötzlich fast so etwas wie Erleichterung. „Was meinst du?“, forschte er vorsichtig. „Glaubst du, ich habe dir etwas zu beichten?“

 

   „Ich weiß nicht. Sag´ du es mir."

 

   Suzannes Stimme klang ganz normal, fast schon sachlich. Auf keinen Fall aber wütend. Aber schließlich hatte er keine Ahnung, was sie vermutete. Ganz sicher nicht das, was er ihr zu sagen hatte. Soviel stand fest. Der Kloß, der sich gerade in seinem Hals bildete war jetzt schon beachtlich  groß und er schien unaufhörlich weiter wachsen zu wollen.

 

   „Hast du wirklich solche Angst vor Schlangen?", hakte Suzanne nach, als er stur schwieg. „Oder wolltest du mir damit nur Angst machen?"

 

   „Nein, nein, ich wollte dir keine Angst einjagen. Ich habe tatsächlich einen Riesenhorror vor Schlangen. – Aber … das war nicht der wahre Grund, warum wir so schnell dort weg mussten..."

 

   „Ich hab´s geahnt. Was ist? Verrätst du mir den wahren Grund?"

 

   Inzwischen lagen sie dicht nebeneinander, jeder seitlich auf einen Ellbogen gestützt und die Gesichter einander zugewandt. Marc zögerte und wusste doch im gleichen Augenblick, dass er Farbe bekennen würde. Dass er Farbe bekennen musste. Er schluckte trocken, denn der Kloß in seinem Hals ließ nichts anderes mehr zu.

 

   „Der wahre Grund ist…“ Er räusperte sich. „Es war, als du mir sagtest, dass du über Funk unsere Position durchgegeben hast.“

 

   „Ja, das ist mir aufgefallen. Aber warum? Ich meine, der nationale Si…“

 

   „Suzanne, es gibt keinen nationalen Sicherheitsdient“, fiel Marc ihr mit Nachdruck ins Wort. „Die Typen, die uns angefunkt hatten, sie sind…“ Verdammt, das Geständnis fiel ihm deutlich schwerer als gedacht. „Es war besser, ihnen aus dem Weg gehen.“

 

   „Was willst du damit sagen? Dass sie mich verarscht haben, um unsere Position rauszubekommen? Dass sie hinter uns her sind?“

 

   Er nickte. „Genau das.“

 

   „Aber wieso? Wieso sind sie hinter uns her? Was wollen sie von uns? Oder von dir? Hast du Ärger mit ihnen?"

 

   „Nein. – Ja.“ Marc realisierte plötzlich überdeutlich, dass es ihm längst nicht mehr egal war, was Suzanne von ihm dachte. Er ließ sich auf den Rücken fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, um den forschenden Blicken aus großen blauen Augen ausweichen zu können. Während er in den Himmel starrte, ließ er beinahe nebenbei die Bombe platzen. So kam es ihm zumindest im Nachhinein vor. „Diese Typen ... sie ... na ja, sie ... sie wollten dich entführen und von deiner Mutter Geld erpressen."

 

   Endlich war es heraus. Marc war froh, dass er Suzannes Gesichtsausdruck in diesem Augenblick nicht sehen musste. Er konnte sich die Fassungslosigkeit, die sie nach seinem Geständnis fühlen musste, lebhaft vorstellen. Er fühlte sich auch so schon beschissen genug, da musste er sich nicht auch noch ihrer stummen Anklage aussetzen. Die Pause, während der Suzanne einige Male schwer ein- und ausatmete, schien endlos zu dauern.

 

   „Und du … du wusstest davon?“, antwortete sie endlich tonlos. „Von dieser … geplanten Entführung?“

 

   „Ja. Ich habe die Typen angefunkt, während du dich an der Picknickstelle umgesehen hast“, gestand er leise. „So war es abgemacht.“

 

   „Aber … aber das heißt ja ... das bedeutet ..." Suzanne Stimme klang gepresst, so als hätte sie plötzlich den dicken Kloß im Hals.

 

   Marc hoffte und betete, dass sie nicht anfing zu weinen. Weinende Mädchen gehörten zu den Dingen, mit denen er überhaupt nicht umgehen konnte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. „Ja, ganz richtig. Du hast recht. Das bedeutet, dass ich da mit drinhänge. Also, ursprünglich hing ich da mit drin. Ich hab´s mir dann aber anders überlegt und daher mussten wir die Picknickstelle so schnell räumen. Wenn du ihnen nicht später unsere neue Position durchgegeben hättest, wäre gar nichts passiert. Der Wagen wäre noch in Ordnung und wir wären schon längst wieder zurück.“

 

   „Ach, jetzt bin ich auch noch selbst schuld, dass wir hier in der Scheiße sitzen, oder wie?“, fauchte Suzanne.

 

   „Nein, nein, natürlich nicht“, versicherte Marc eilig „So hab´ ich das icht gemeint. Ich hab´ einfach nicht damit gerechnet, dass die uns anfunken … ausgerechnet in dem Moment … und dass du zum Funkgerät greifst. Mein Plan war es, dich so schnell wie möglich zurück zur Station zu bringen und dann abzu…“ Er unterbrach sich und wischte sich mit beiden Händen durch´s Gesicht. „Scheiße, als ich dich da mit dem Funkgerät in der Hand sah bin ich in Panik geraten. Daher bin ich auch so losgeprescht. Suzanne, wir dürfen ihnen nicht in die Arme laufen. Auf keinen Fall. Die sind zu zweit und ich fürchte, wir hätten keine Chance gegen sie. Ich bin sicher, sie werden nach uns suchen. Verstehst du, deshalb konnten wir auch nicht beim Wagen bleiben. Wir müssen jetzt Umwege nehmen, uns abseits der gängigen Routen halten. Unser einziger Vorteil ist, dass ich mich in der Gegend besser auskenne als die beiden.“

 

   „Weißt du was? Immer, wenn du so lange Reden schwingst, kommt nur Scheiße aus deinem Mund“, resümierte Suzanne bitter.

 

   „Wie bitte?“, fragte Marc überrascht.

 

   „Du hast mich schon verstanden.“ Ihre Stimme klang tonlos und gepresst, als sie jetzt ruckartig wieder etwas Abstand zwischen sie brachte. „Du gibst dann immer Dinge von dir, die ich nicht hören will. Du lügst und betrügst. Ich … scheiße Mann, ich hatte mich über deine Einladung echt gefreut. Auf den Ausflug, darauf, dass du endlich mal etwas zugänglicher schienst. Und jetzt? War alles nur fingiert! Ein mieser Plan, nur um mich blöde Kuh in die Falle zu locken!“

 

   „Korrekt“, gestand er bedrückt. „Außer der Teil mit der blöden Kuh.“

 

   Suzanne ging gar nicht auf seinen Einwurf ein, sondern schimpfte weiter. „Gott, was bin ich doof! Echt, du kannst stolz auf dich sein! Hast mich genau richtig eingeschätzt. Naiv, wie ich bin, bin ich euch geradewegs in eure scheiß Falle gegangen!“

 

   „Hey, hör auf. Bitte. Mittlerweile weiß ich selbst, wie bescheuert das Ganze war. Es kommt mir total surreal vor, dass ich mich darauf eingelassen habe. Aber … schon als ich dich auf der Station gefragt habe, ob du mitkommst, hatte ich gehofft, dass du ablehnst. Ehrlich.“

 

   „Na und? Soll mich das jetzt trösten, oder was? Weißt du eigentlich, wie beschissen sich das anhört?“, fauchte sie wütend.

 

   „Okay Vermutlich hast du recht.“ Marc drehte sich wieder auf die Seite. Der Mond hatte eine Wolkenlücke gefunden und schien jetzt hell genau in die Mitte der Lichtung. Suzannes Gesichtsausdruck war im Lichtschein gut zu erkennen, und was er sah machte Marc nicht gerade Mut. „Na ja, auf jeden Fall…“, sprach er zögernd weiter. „...als ich die Typen angefunkt hatte, merkte ich plötzlich, dass es nicht das war, was ich wollte. Ich konnte das Ding einfach nicht durchziehen. Ich meine, ja, ich brauche Geld, viel Geld, aber nicht so. Leider war es da bereits zu spät“, schloss er resigniert. „Es tut mir leid. Ehrlich, sehr sehr leid.“

 

   Marc rechnete nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Suzanne seine Entschuldigung annahm. Und es sah ganz danach auch, denn sie schwieg störrisch so lange, dass ihm ganz übel wurde. Plötzlich jedoch sagte sie schnippisch. „Ah, wieder ein Bocken Neuigkeit für die infantile Kuh. Du brauchst also Geld? Was für eine Überraschung. Na los, sag schon, wofür wolltest du deinen Anteil verwenden? Für die Station? Steckt dein Vater hinter allem?“

 

   „Mein Vater?“ Marc lachte bitter auf. „Um Himmels Willen, nein. Der wird mich wahrscheinlich umbringen wenn das alles rauskommt."

 

   „Für Drogen?“

 

   „Nein. Hey, mit der Drogengeschichte in der Schule hab' ich echt nichts zu tun. Ich hab´ keine Ahnung, wer das Zeug vertickt."

 

   „Warum denn dann, zum Teufel! Warum machst du so was?“, schrie sie unvermittelt los. „Rede, verdammt! Ich hab´ ein scheiß Recht das zu erfahren, oder nicht?! Ich will wenigstens wissen, warum ich hier so in der Kacke sitze!"

 

   „Okay, schon gut. Wenn du es unbedingt wissen willst. Ist ja jetzt eh schon egal“, resignierte er. „Ich hab´ Spielschulden bei den Typen. Hohe Schulden. Und jetzt verlangen sie die Kohle zurück. Alles auf einmal. Sie haben mich in der Hand, so einfach ist das."

 

   „Wow. Du bist ein Spieler.“ Sie musterte ihn kritisch. „Damit hätte ich allerdings nicht gerechnet."

 

   „Was soll ich dazu sagen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin Realist und rechne nicht mit den Zuschüssen. Daher wollte ich Geld für die Station gewinnen. Na ja, der Plan ging ziemlich nach hinten los."

 

   „Woher hattest du überhaupt das Geld zum Spielen? Geklaut?“

 

   „Nein, nicht direkt.“ Er erzählte Suzanne, wie er auf nicht ganz legale Art und Weise sein Collegegeld lockergemacht und komplett verspielt hatte. Auch, dass er danach trotzdem mit Schuldscheinen weitergespielt hatte. „Plötzlich kamen sie an und wollten ihr Geld zurück. Als ich sagte, ich hätte nichts, rückten sie mit ihrem Plan heraus. Ich hab´ mich geweigert und gesagt, sie sollen sich zum Teufel scheren. Ehrlich, ich wollte da nicht mitmachen.“ Wieder ein Schulterzucken. „Das Ergebnis meiner Weigerung ist an meinem Gesicht abzulesen. Trotzdem wollte ich es darauf ankommen lassen.“

 

   „Das hast du aber nicht. Du hast mich eingeladen, du bist mit mir da raus gefahren und du hast ihnen das Zeichen gegeben. Es waren deine Entscheidungen.“ Suzannes Worte waren eine einzige deprimierende Anklage und ihre Stimme zitterte vor Wut und Enttäuschung, als sie sie aussprach. „Du, und niemand anders hast das alles getan.“

 

   „Ja. Ja, verdammt. Du hast ja recht“, flüsterte er, ohne zu wissen, warum er schon wieder flüsterte. „Das war ich. Und ich bereue es. Sehr.“ Er machte eine Pause und überlegte, ob es überhaupt Sinn machte, weiter zu reden. Doch er konnte nicht anders, er musste wenigstens versuchen, ihr seine Beweggrüne darzulegen. „Während unserer Unterhaltung auf der Station wurde mir urplötzlich klar, dass deine Mutter über die Drogengeschichte und die Suspendierung Bescheid weiß und dass sie vermutlich meinen Dad darauf ansprechen wird … versteh´ doch, da sind bei mir alle Sicherungen durchgebrannt. Bisher konnte ich noch alles geheim halten. Ich bin über achtzehn, das bedeutet, die Schule musste meinen Dad nicht informieren. Er hat im Moment eine Menge Stress und fährt daher zurzeit selten selber in die Stadt. Na ja, ehrlich gesagt, hab´ ich gehofft, ich komme noch eine Weile damit durch. War vielleicht naiv, aber … ich hab´ den Mund gehalten. Ich wollte Zeit gewinnen, um nach einer Lösung zu suchen. Dann fällt mir ein, dass deine Mutter mein kunstvolles Lügengebäude zum Einsturz bringen wird und prompt drehe ich komplett durch. Ich bin wahrlich nicht stolz drauf, aber hey, Überraschung, wer hätte das gedacht, ich bin gerade noch rechtzeitig zur Besinnung gekommenn.“ Er hörte, dass er in den Zynismus abglitt und holte einmal tief Luft. „Die Ironie an der Geschichte ist, dass ich dich just in dem Moment, als ich dachte, ich hätte wieder alles im Griff, mit dem verdammten Funkgerät in der Hand erwische. Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Den Rest kennst du.“  

 

   Suzannes Antwort bestand aus einem angewiderten Schnauben, bevor sie sich abwandte und ihm den Rücken zudrehte.

 

**********

 

   Gregory wunderte sich ganz offensichtlich, als Gilian alleine in die Botschaft zurückkehrte, doch sie hüllte sich bewusst in Schweigen. Das Verhalten ihres lhres langjährigen Bediensteten machte deutlich, dass es nichts Neues über den Verbleib der Jugendlichen gab. Sie war sich sicher, wenn irgendeine Nachricht, welcher Art auch immer, eingegangen wäre, hätte Gregory sie umgehend informiert.

 

   Gilian war bewusst, dass der Mann sich sicherlich seinen Teil dachte, aber sie dankte Gott ausnahmsweise einmal dafür, dass Gregory zu sehr Butler war, um indiskret nachzufragen. Natürlich würde sie die Entwicklung nicht ewig vor ihm zurückhalten können, aber für den Moment war sie einfach nur dankbar, dass sie nicht reden musste. Sie ignorierte gekonnt die nachdenklichen und eindringlichen Blicke ihres Angestellten, schob Kopfschmerzen vor und zog sich umgehend auf ihr Zimmer zurück.

 

   Großer Gott, in ihrem Kopf tobte ein Chaos und ihre Emotionen spielten komplett verrückt. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie das Verschwinden der beiden Jugendlichen einordnen sollte. Es musste etwas dahinter stecken, das war klar. Nur was? Das wüsste sie zu gerne, denn sie wollte nicht unnötig die Pferde scheu machen. Schließlich konnte es für das Fernbleiben von Suzanne und Marc auch immer noch eine ganz simple Erklärung geben; auch wenn ihr Gefühl ihr etwas anderes suggerierte.

 

  Gilian ließ sich auf ihr Bett fallen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Womöglich würde sie sich ja gar nicht so große Sorgen machen, wenn sie nicht über Marcs Probleme in der Schule informiert gewesen wäre. Ganz sicher nicht. Aber so? Schuldig, oder nicht schuldig. Wer konnte schon mit Gewissheit sagen, was in dem Jungen momentan vorging? Selbst wenn er unschuldig war, konnte es sein, dass er sich zu einer Verzweiflungstat hinreißen ließ und dazu womöglich ihre Tochter benutzen wollte.

 

   John hatte von alldem nichts gewusst hatte. Er war zutiefst und ehrlich erschüttert gewesen, als sie ihm von Marcs Problemen berichtet hatte und sie meinte auch gespürt zu haben, dass das unerschütterliche Vertrauen in seinen Sohn zumindest einen Riss bekommen hatte. Eine Tatsache, die nicht unbedingt beruhigend auf sie wirkte.

 

   Sie überlegte allen Ernstes, ob sie nicht besser doch die Polizei benachrichtigen sollte, verwarf den Gedanken aber nach kurzem Nachdenken wieder. Schon allein, weil sie zu diesem Zweck den Bürgermeister hätte aufwecken müssen. Es bestand die Gefahr, dass in diesem Fall auch der General Wind davon bekommen hätte, und dessen Kavallerie war das Letzte was sie jetzt brauchte.

 

   Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Gilian sich wieder sehr einsam und alleine. Wie schön wäre es jetzt, mit Jemandem reden zu können, dachte sie. Diesen Nervenkrieg mit einem Freund oder einer Freundin an ihrer Seite teilen zu können, und vielleicht sogar Hilfestellung oder auch nur Rückendeckung bei den zu treffenden Entscheidungen zu haben. Das Entscheidungen getroffen werden mussten stand außer Frage, aber wie so oft, würde sie diese alleine treffen müssen.

 

   Sie spürte, wie sich erste stumme Tränen den Weg über ihr Gesicht bahnten. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, dachte sie verzweifelt, während sie sich mit den Fingerspitzen die Schläfen massierte. In ihrem Kopf und hinter ihren Augen tobte inzwischen ein Tornado, der immer heftiger wurde. Wenn die Beiden nichts spätestens bis morgen Mittag zurück sind, werde ich die Behörden informieren, so oder so. Ich warte bis morgen Mittag … und keine Sekunde länger.

 

**********

 

   Seit Marcs Geständnis waren mehrere Minuten vergangen. Suzanne drehte sich und riskierte einen vorsichtigen ersten Seitenblick. Allerdings hätte sie das auch offen tun können, wie sie gleich darauf feststellte. Marc bekam überhaupt nichts mit. Er lag flach auf dem Rücken und starrte stumm mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in das Stück Sternenhimmel, das über der Lichtung zu sehen war. Suzanne hätte gerne etwas gesagt, das eisige Schweigen unterbrochen, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie brachte kein einziges Wort über die Lippen Zu groß war ihre Angst, dass ihr die Stimme versagte und Marc das mitbekommen würde. Den Triumph, ihn zu allem Überfluss auch noch merken zu lassen, wie sehr ihr sein Geständnis zusetzte, wollte sie ihm nicht gönnen. Mit einigem hatte sie gerechnet, aber mit dem, was sie zu hören bekommen hatte, ganz bestimmt nicht. Die Enttäuschung nagte abgrundtief in ihr und sie versuchte immer noch, die Fassung zurückzugewinnen.

 

   „Sag doch wenigstens etwas", bat Marc schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, leise. Vermutlich hielt er ihr anklagendes Schweigen nicht mehr aus. Geschieht ihm recht, dachte sie bodenlos frustriert. „Beschimpf mich – mach mich meinetwegen fertig – aber bitte, sag irgendetwas."

 

   Suzanne wappnete sich und holte einmal tief Luft, bevor sie sich traute zu antworten. „Fertigmachen? Wozu denn? Du bist doch schon fertig", sagte sie schließlich nach außen hin völlig emotionslos und war stolz auf ihre Beherrschung. „Du steckst ganz schön in der Scheiße, mein Lieber."

 

   „Wem sagst du das", kam es von der anderen Seite und dann nach einer Pause: „Aber ich kann das Alles nicht ungeschehen machen. Ich kann dir nur noch einmal versichern, dass es mir leid tut. Unendlich leid.“

 

   „Ja, verdammt. Und mir erst.“

 

   „Wir … sollten jetzt wirklich schlafen. Morgen wird…“

 

   „Ja, ja, ich weiß schon. Morgen wird ein harter Tag“, fauchte sie heftig und drehte sich brüsk von ihm weg auf die andere Seite. „Vergiss es.“

 

 

47. Kapitel

 

   Was zum Teufel war das? Irgendjemand oder irgendetwas rüttelte zwar sachte, aber verdammt hartnäckig an ihrem Arm.

   „Ey, was soll das?“, murmelte Suzanne verschlafen, schlug die Augen auf und bemerkte Marc, der links neben ihr kniete und beinahe hektisch seine Hand zurückzog, als ihre Blicke sich trafen.

   Seine Reaktion bewirkte, dass ihr augenblicklich sein Geständnis wieder einfiel. Unwillkürlich versteifte sie sich. An seinen Augen konnte sie sehen, dass er es registrierte, doch er sagte kein Wort, schlimmer noch, er ignorierte es schlicht, was sofort die Wut in ihrem Inneren wieder auflodern ließ. Es war ihm offensichtlich völlig gleichgültig, was sie fühlte. Gott, wie hatte sie bloß in diese Situation geraten können? Sie ärgerte sich maßlos über Marc, ja, aber auch über sich selbst. Über ihre verdammte Gutgläubigkeit. Hätte man sie nach seinem Geständnis am Abend zuvor gefragt, sie hätte geschworen, kein Auge zu zu bekommen, doch, auch wenn es sie überraschte, irgendwann im Laufe der Nacht war sie eingeschlafen.

   Muss wohl an den Strapazen liegen, sagte sie sich, während sie ihn stumm musterte und sich fragte, wie es jetzt wohl weiterging. Merkwürdigerweise war sie eher gespannt darauf, als dass sie sich davor fürchtete.

   Marc räusperte sich vernehmlich. „Alles in Ordnung bei dir?“, fragte er dann leise, so als fürchtete er, dass jedes Wort von ihm eines zuviel sein könnte.

   „Lass das mal meine Sorge sein“, ging sie bewusst nicht auf seine Frage ein. Sie würde ihm garantiert nicht auf die Nase binden, dass sie sich wie gerädert fühlte. „Sag mir lieber wie spät es ist?“, forderte sie stattdessen und war stolz auf sich, dass sie es fertigbrachte, ihre Stimme möglichst normal und vor allen Dingen kühll klingen zu lassen.

   „Gleich halb Sechs“, antwortete er. „Wir müssen los.“

   „Was? Jetzt schon?“ Suzanne war ehrlich entsetzt. „Bist du irre?“

   Marc wies mit einer Hand nach oben. „Die Sonne ist bereits aufgegangen. Es wird sehr schnell heiß werden.“     

   Mit den Augen folgte sie seiner Handbewegung. Er hatte recht. Es klarte zusehends auf, und so wie der Himmel aussah, würde dieser Tag wie so viele Tage werden, seitdem sie hier angekommen war. Trocken, sonnig und sehr, sehr heiß. „Erzählst du mir, was du jetzt vorhast?“, erkundigte sie sich, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.     

   „Warum nicht?“ Er zuckte gleichmütig mit den Achseln und überraschte sie mit seiner Erwiderung. „Ich werde dafür sorgen, dass du heil zurück zur Station kommst. Auf Umwegen zwar, aber das ist auch schon alles. Sobald du in Sicherheit bist, werd´ ich mich vom Acker machen und irgendwo, wo mich keiner kennt, komplett neu anfangen.“

   „Aha.“ Suzanne blicke ihn zweifelnd an. „Und du meinst das klappt? So ohne Schulabschluss und Geld und überhaupt?"

   „Wird schon“, antwortete er zuversichtlicher, als er sich fühlte. „Wenn du mir nach unserer Rückkehr ein bisschen Zeit gibst und nicht sofort die Kavallerie auf mich hetzt…“ Als sie auf seinen forschenden Blick hin nicht reagierte zuckte er erneut mit den Achseln und fragte kurz: „Können wir?“

   „Nein“, antwortete sie mit fester Stimme. „Noch nicht. Ich möchte erst noch ein paar Dinge klarstellen.“

   „Suzanne, bitte. Können wir das nicht…?“

   „Nein, verdammt. Das können wir nicht. Ich will erst wissen, warum.“

   „Warum was?“

   „Ich will wissen, warum du die Sache nicht durchgezogen hast. Warum hast du abgebrochen? Vorher gehe ich keinen Meter mit dir.“

   „Oh Gott…“ Marc ließ sich im Schneidersitz vor ihrer Decke nieder und wischte sich mit beiden Händen durchs Gesicht. „Glaub mir, das hab' ich mich selber schon zig-mal gefragt seitdem wir unterwegs sind. Keine Ahnung, vielleicht bin ich ja einfach zu feige. Es wäre `ne saubere Sache für mich gewesen. Sie hätten mir eins übergezogen, damit ich nicht in Verdacht gerate, und später, nachdem das Lösegeld gezahlt und du wieder frei gewesen wärst, wäre ich zumindest schuldenfrei gewesen. Wer weiß, vielleicht wäre sogar noch etwas übrig geblieben? Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich den Überblick über meine Schuldscheine schon vor `ner Weile verloren…“ Er stockte und biss sich kurz auf die Unterlippe. „Aber nach dem Funkspruch spürte ich ... es  ging nicht ... ich … ich konnte dich einfach nicht ins offene Messer laufen lassen."

   „Hab´ ich schon kapiert. Aber warum nicht?" Es war Marc deutlich anzusehen, dass ihn ihre Hartnäckigkeit nervte, aber das war Suzanne im Augenblick scheißegal.

   „Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich die Typen kaum kenne. Ich weiß nicht, aber die Vorstellung, dass ... dass sie dir womöglich doch... dass sie ihr Versprechen nicht halten … dass sie…“ Er unterbrach und räusperte sich wieder laut. „Sagen wir einfach, ich bin `ne verdammte Niete in allem, was ich tue."

   „Was ist mit Ben? Hängt der da mit drin?“

   „Ich wünschte, ich könnte anders antworten, aber Nein, Ben hat nichts damit zu tun.“

   „Die Sache neulich Abend…“, folgerte sie nachdenklich. „Ich denke, das war ... wohl euer erster Versuch?" Kaum ausgesprochen realisierte sie wie verbittert sie sich anhörte. „Dass ich zuvor den Streit mit Ben hatte, passte vermutlich sehr gut in eure Pläne. Als du dann gesehen hast, was sie mir antun wollten…“

   „Nein“, unterbrach er sie impulsiv. „So war das nicht.“ Na prima, zum ersten Mal zeigte er Emotionen. „Ich kam da wirklich nur zufällig vorbei."

   „Verarsch mich nicht! Das kann kein Zufall gewesen sein“, antwortete sie zornig. „Du hast gesagt, du wärst auf dem Weg nach Hause gewesen, aber die Station liegt in einer völlig anderen Richtung. Du fuhrst aber stadteinwärts.“ Jetzt, wo sie darüber nachdachte wurde ihr das erst jetzt so richtig bewusst. Verdammt, warum hatte sie das nicht eher stutzig gemacht? Angriffslustig blitzte sie ihn an. „Warum zum Teufel solltest du so spät in Richtung Stadt unterwegs gewesen sein, wenn du nicht wusstest, was da lief? Ich warne dich, versuch ja nicht mich für blöd zu verkaufen.“

   Marc seufzte tief und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. War ja klar, dass Suzanne irgendwann auf solche Gedanken kommen musste. „Ich hatte zufällig mitbekommen, wie du dich mit Ben auf dem Parkplatz des Zentrums gestritten hast. Es schien…“ Er zögerte kurz, als überlegte er, wie viel er sagen sollte. „…ganz schön heftig zu sein. Als er dich nach eurem Streit alleine losziehen ließ dachte ich, es wäre besser, ein bisschen auf dich aufzupassen. Arschlöcher gibt es überall. Auch hier.“

   „Warum?“

   Marc zog die Stirn kraus. „Sagte ich doch gerade. Weil es überall…“

   „Sorry, aber ich kann dir nicht glauben“, sagte sie brüsk.

   Es war Marc nicht anzumerken, ob ihre Worte ihn trafen, oder ob ihm ihre Reaktion völlig gleichgültig war. Er räumte lediglich ein: „Tja, was soll ich dazu sagen? Schade, aber so war es nun mal. Na ja, fast“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Ich war tatsächlich schon auf dem Weg zur Station, als ich plötzlich so ein komisches Gefühl bekam. Es ließ sich nicht abstellen und schließlich konnte es einfach nicht mehr ignorieren.“ Wieder folgte eine Pause, bevor er weitersprach. „Mein Vater hatte damals auch so ein merkwürdiges Geühl, als meine Mutter von der Schlange gebissen wurde. Er hat es ignoriert und bitter bereut. Das wollte ich nicht auch tun müssen. Daher bin ich umgedreht.“

   Verrückt, irgendwie fühlte Suzanne sich durch diese Erklärung nur noch mehr verletzt. „Gut", sagte sie schließlich tonlos. „Belassen wir es dabei.“

   „Glaubst du mir denn?“

   „Das ist nicht mehr wichtig.“ Es entstand eine längere Pause. Als Suzanne endlich weiterredete, klang ihre Stimme zwar immer noch völlig emotionslos, doch das was sie sagte, machte Marc Mut:

   „Okay, es nützt ja alles nichts. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht ob du `ne Niete bist … aber du bist anscheinend kein Krimineller. Darum: Danke, dass du mich nach Hause bringst."

   „Ich..."

   Sie unterbrach ihn schon im Ansatz und diesmal klang ihre Stimme scharf und  eiskalt: „Nein! Kein Wort mehr. Bitte! Ich weiß, ich bin hier draußen auf dich angewiesen, aber ich ertrag´ dein Gesülze und deine Lügen nicht mehr. Bis wir auf der Station ankommen, sollten wir die Konversation nur auf das Allernötigste beschränken!“

   „In Ordnung", gab er gepresst zur Antwort. „Wie du willst.“

**********

   John kam es vor, als würde er aus einem bösen Traum erwachen. Doch als er an diesem Morgen in die Küche trat, genügte ein Blick in Charlie's besorgtes Gesicht, und er wusste sofort, dass er nicht geträumt hatte.

   Suzanne und Marc waren verschwunden. Das wiederum bedeutete, dass vermutlich auch alles stimmte, was Gilian Banks ihm gestern über seinen Sohn berichtet hatte. Zutiefst niedergeschlagen nahm er sich einen Kaffee und setzte sich zu seinem Partner an den Tisch. Trotzdem erkundigte er sich: „Irgendwelche Neuigkeiten aus der Botschaft?“

   „Nein.“ Charlie schüttete den Kopf und musterte ihn kritisch, bevor er fragte: „Was genau ist eigentlich los? Da liegt doch noch mehr im Argen. Raus mit der Sprache. Hast du dich mit der Lady gestritten?“

   „Nein, das nicht. Aber…“ John holte tief Luft. „Hör zu, ich muss dir etwas sagen… Es geht um Marc…"

   „Schieß los“, antwortete Charlie knapp. „Was hat der Junge angestellt?“

   „Wie kommst du darauf, dass er was angestellt hat?“

   Charlie zuckte mit den Schultern. „Ich vermute schon seit `ner Weile, dass er Schwierigkeiten hat. Worum geht´s?“

   John berichtete Charlie von den Problemen seines Enkels und beobachtete, wie sich dessen Pupillen besorgt weiteten, je länger sein Bericht dauerte.

   „Was wirst du jetzt unternehmen?", fragte er, nachdem John fertig war.

   „Ich werde in die Schule fahren und sehen, ob ich Mr. Roscoe erwische. Wer weiß, vielleicht stellt sich ja doch alles nur als ein Irrtum heraus."

   „Und falls nicht?"

   John zuckte hilflos mit den Achseln.

   „Glaubst er hat `ne Dummheit gemacht – weil ihm diese Drogenge-schichte über den Kopf gewachsen ist?"

   „Ich kann´s mir nicht vorstellen. Marc und Drogen - das passt nicht zusammen. Irgendwas stimmt da nicht." John stand auf und nahm den Autoschlüssel von der Anrichte. „Ich muss los. - Sollten die beiden wider Erwarten hier auftauchen … funk mich bitte sofort an. Ich nehme das mobile Funkgerät mit. Kümmerst du dich bitte um die Tiere?"

   „Natürlich. Mach´ dir keine Sorgen. Ich bin sicher, das wird sich klären."

   John lächelte traurig und hob eine Hand zum Abschied. Zu gerne hätte er seinem Schwiegervater geglaubt, aber sein Bauchgefühl sagte ihm etwas anderes.

**********

   Marc fühlte sich paradoxerweise ungemein erleichtert. Die Wahrheit war heraus und obwohl er sich mit seinem Geständnis bei Suzanne vermutlich bis in die nächste Steinzeit unbeliebt gemacht hatte, war er froh darüber. Dieser Druck, ihr kaum noch in die Augen blicken zu können, war beinahe unerträglich gewesen und auch wenn er jetzt – wo alles heraus war – nur noch Misstrauen, Enttäuschung und Feindseligkeit aus ihren Gesichtszügen lesen konnte, fühlte er sich trotz alledem besser als zuvor. Er machte sich nichts vor; dass sie ihm verzeihen würde, war so wahrscheinlich, wie ein Schneesturm in der Sahara, aber das war halt der Preis, den er für seine Blödheit zahlen musste.

   Jede Aktion zieht eine Reaktion nach sich und die meisten Reaktionen sind einigermaßen vorhersehbar, wenn man zuvor gründlich nachdenkt. Das war etwas, das sein Vater immer predigte und jetzt wurde ihm wieder einmal bewusst, dass sein alter Herr verdammt richtig mit dieser Weisheit lag. Wenn er zuvor doch nur ein wenig nachgedacht hätte…

   Auch Suzanne hatte recht, wenn sie sagte, dass es alles nichts nützte. Das Kind war in den Brunnen gefallen und seine Aufgabe war es nun, dafür zu sorgen, dass es nicht ertrank. Was bedeutete, dass er aufpassen musste, dass die Soldaten sie nicht doch noch fanden. Jetzt, wo es wieder hell wurde, würen die beiden sich vermutlich wieder auf die Suche machen. Er glaubte nicht daran, dass die beiden ihren Plan so einfach aufgaben. Seine oberste Priorität lag daher klar auf der Hand: Suzanne so schnell wie möglich heil zurück zur Station bringen. Er trug von jetzt an die volle Verantwortung für ihr Wohlergehen. Er allein.

   „Was glotzt du so?“, fragte sie barsch. „Wolltest du nicht los?“

   Ein verbittertes Lächeln huschte über seine Züge, als er sich kurz darüber wunderte, als wie angenehm er ihre Nähe immer noch empfand. Schmink dir das ab, Junge, sagte er sich im Stillen. Sollte da jemals eine Möglichkeit bestanden haben, so hast du sie dir schon im Vorfeld gründlichst versaut.

**********

   Nach ihrer harschen Ansage war Marc wortlos aufgestanden und machte sich daran, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzuräumen. Suzanne schälte sich aus ihrem Schlafsack, stand auf und streckte sich. Obwohl sie geschlafen hatte, fühlte sie sich wie zerschlagen, was sie aber um nichts in der Welt vor Marc zugegeben hätte. Im Nachhinein war sie allerdings froh, wenigstens auf der Decke gelegen zu haben.

   „Frühstück?", erkundigte sich Marc über die Schulter.

   „Was ist mit dir?“

   „Später."

   „Dann warte ich auch“, entschied sie.

   „Wie du willst.“ Er reichte ihr die Feldflasche rüber. „Hier, trink einen Schluck."

   Sie nahm die Flasche von ihm entgegen und trank gierig, während sie sich fragte, woher dieser höllische Durst kam. Liegt vermutlich am Staub sagte sie sich, während sie die Flasche an Marc zurückgab, der sie sorgfältig verschloss und in den Rucksack packte.

   „Trinkst du nichts?"

   „Hab´ eben schon.“ Täuschte sie sich, oder wich er ihrem Blick aus, während er nach dem Schlafsack griff und ihn mit ein paar geübten Griffen zusammenrollte? „Wie sieht´s aus? Können wir?", fragte er dann.

   „Sicher, ich müsste nur vielleicht noch…" Suzanne wies auf einen dichten Busch in der Nähe und ging über Marcs unwillkürliches Schmunzeln großzügig hinweg.  

   „Natürlich. Kann ich mir denken. Ich warte hier.“

   Sie war ihm dankbar, dass er sie nicht noch großartig auf den diesbezüglichen Dialog vom Vorabend hinwies. Das Ganze war ihr auch so schon peinlich genug. Sie verschwand hinter dem Busch und war zwei Minuten später wieder zurück. „Von mir aus können wir“, verkündete sie kleinlaut.

   Marc nickte nur und marschierte, mit dem Kompass in der Hand, voran. Suzanne folgte ihm so gut sie konnte. Der Weg, den er einschlug, führte durch unwegsames Gelände und so musste sie permanent darauf acht geben, dass sie nicht über irgendwelche Wurzeln stolperte. Nachdem, was sie jetzt wusste, vermutete sie, dass ihm viel daran lag, so lange wie möglich im Schutz des dichten Busches zu bleiben.

   Sie hatte selbst gefordert, dass sie die Konversation auf ein Minumum beschränken sollten. Warum störte es sie dann jetzt, dass Marc tatsächlich kein Wort mehr sagte? Nur von Zeit zu Zeit warf er einen kurzen Blick über die Schulter, wie um sich zu vergewissern ob sie immer noch hinter ihm war.

 

 

48. Kapitel

  

 

   Das Gespräch mit Mr. Roscoe konnte John im Nachhinein nur als ernüchternd bezeichnen. Alles, was Gilian ihm gestern über Marcs Probleme in der Schule erzählt hatte, stimmte bis ins Detail. Wie zum Teufel hatte ihm das entgehen können? Er gab sich die Antwort gleich selber: Marc hatte jeden Morgen wie gewohnt die Station verlassen und das war ihm Zeichen genug, das alles in bester Ordnung war. Er selber war viel zu sehr mit der Station und den Verwirrungen, die das Erscheinen der neuen Botschafterin in ihm hervorgerufen hatte, beschäftigt gewesen, als das er sich die Zeit genommen hätte, irgendetwas zu hinterfragen. Ein Fehler, der sich jetzt offensichtlich bitter rächen sollte. Er zermarterte sich den Kopf, wohin Marc jeden Morgen aufgebrochen sein könnte, doch es wollte ihm keine Erklärung einfallen. Er musste unbedingt mit Tom reden, vielleicht wusste der ja etwas oder hatte zumindest eine Ahnung. Immerhin lag die Suspendierung, wie er jetzt wusste, schon einige Tage zurück und irgendwo musste Marc ja seine Zeit verbracht haben, während Charlie und er selbst ihn in der Schule wähnten.

 

   Schweren Herzens machte John sich anschließend wie versprochen auf den Weg in die Botschaft, wo er zu seiner Überraschung offenbar schon erwartet wurde. Gregory nahm ihn an der Tür in Empfang und führte ihn umgehend in das Arbeitszimmer der Botschafterin. Als der Butler die Tür für John öffnete fuhr Gilians Kopf wie elektrisiert von den Papieren, mit denen sie beschäftigt war, hoch. In ihrem Blick erkannte er gleichermaßen Bangen und Hoffen, doch er konnte nur bedauernd mit den Schultern zucken und den Kopf schütteln.

 

   „Es tut mir leid“, sagte er und verzichtete auf die üblichen Begrüßungsfloskeln. „Ihrer Reaktion nach zu urteilen vermute ich, dass Sie auch nichts Neues für mich haben.“

 

   Gilian Banks wirkte bernächtigt. Dunkle Schatten langen um ihre Augen, denen auch der fröhliche Glanz gänzlich abhanden gekommen war. Ansonsten sah sie genauso aus, wie John sie kennengelernt hatte, doch das registrierte er mehr am Rande. Sie nickte ihrem Angestellten kurz zu, der sich daraufhin diskret entfernte. Erst dann antwortete sie: „Nein, ich wünschte, es wäre anders. Haben Sie Ihren Schwiegervater eingeweiht?“

 

   „Ja.“ Mit einigen wenigen langen Schritten durchquerte John das Zimmer, blieb vor dem Schreibtisch der Botschafterin stehen und trat, plötzlich aus irgendeinem unerfindlichen Grund verlegen werdend, von einem Fuß auf den anderen. „Charlie meldet sich umgehend, wenn sich etwas Neues ergibt“, sagte er schließlich leise.

 

   „Weiß er, dass er die Botschaft direkt anfunken kann? Dass wir ein Gerät hier haben?“ Gilian war die Nervösität anzuhören.

 

   „Ja, keine Sorge. Außerdem habe ich das mobile Gerät dabei. Wo auch immer ich bin, er kann mich erreichen. – Haben Sie die Polizei benachrichtigt?", stellte John dann die Frage, die ihm akut auf der Seele brannte.

 

   „Nein, erstmal nicht. Aber..."

 

   „Danke.“ Er fiel ihr erleichtert ins Wort. „Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar wenn wir es vorläufig noch dabei belassen könnten."

 

   „Was ist mit dem Bürgermeister? Ich weiß, er ist hier vor Ort gleichzeitig die polizeiliche Instanz, aber ich finde schon, dass wir zumindest ihn einweihen sollten", wandte Gilian ein. „Vielleicht kann er die Angelegenheit ja zunächst noch diskret behandeln.“

 

   John dachte darüber nach und nickte schließlich zustimmend. „In Ordnung. Ich hatte sowieso vor, mit Tom zu reden und ich kann ja schlecht von ihm verlangen, dass er seinen Vater hintergeht. Aber bitte, lassen Sie uns das Militär raushalten. Ich..."

 

   „Darf ich Sie etwas fragen?", unterbrach Gilian Banks ihn ungeduldig.

 

   „Natürlich", antwortete John.

 

   „Es geht um Ihren Sohn.“

 

   Er machte eine frustrierte Handbewegung. „Schon gut. Sie hatten Recht. Ich war eben in der Schule und Roscoe hat alles bestätigt."

 

   „Das dachte ich mir, aber darum geht es mir nicht. Warum glauben Sie hat Marc das getan? Was trauen Sie ihm zu? Wie weit wird er gehen?"

 

   „Das waren drei Fragen.“ Aus Johns lapidarer Feststellung klang eine kalte Schärfe. „Ich versichere Ihnen, dass Marc niemals jemandem etwas antun würde. Diese Drogengeschichte möchte ich auch erst aus seiner Sicht hören, bevor ich ihn dafür verurteile."

 

   „Weswegen ist er in Amerika von den Schulen geflogen?"

 

   „Weil er sich nicht anpassen konnte. Er hatte schlicht Heimweh. Nicht wegen irgendwelcher... Delikte." Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Hören Sie, Mrs. Banks. Ich kann mir durchaus vorstellen, wie das Ganze für Sie aussehen muss, aber Sie kennen meinen Jungen nicht. Er ist... Marc ist... auf keinen Fall kein schlechter Kerl", schloss er leise.

 

   „Hm, Suzanne sagt das auch."

 

   „Ich wünschte, Sie würden ihn besser…" John wurde bewusst, was die Botschafterin gerade gesagt hatte. Er stutzte und schaute sie überrascht an. „Was?“

 

   Gilian nickte. „Ja, so ist es. Suzanne ist auf Marcs Seite."

 

   „Damit hätte ich jetzt allerdings nicht gerechnet.“

 

   „Glauben Sie mir, ansonsten hätte ich meine Tochter nicht alleine mit Ihrem Sohn losfahren lassen. Aber aus irgendeinem Grund vertraut sie Marc. Warum weiß ich auch nicht."

 

   „Sie wird wissen, warum.“ John machte eine kurze Pause, bevor er bitter weitersprach: „Anscheinend wussten hier alle außer mir über diese Sache Bescheid. Warum zum Teufel haben Sie mich nicht früher informiert?", warf er Gilian dann unvermittelt vor.

 

   „Erstens ist Ihr Sohn volljährig. Außerdem war ich davon ausgegangen, Sie wüßten längst Bescheid. Was vermuten Sie war das? Eine Art Kurzschlusshandlung?"

 

   „Nein!“ Die Antwort kam schnell. „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich denken soll, aber Marc ist nicht der Typ für Kurzschlusshandlungen. Ich… ach, verdammter Mist, wenn der Idiot tatsächlich mit dem Verschwinden der beiden zu tun haben sollte, kann er von mir aus zum Teufel gehen." Die letzte Äußerung sprudelte ungewohnt ungestüm, spontan und leidenschaftlich aus John heraus, wobei sich unbewusst seine Hände zu Fäusten ballten.

 

   „Mr. Gilbert."

 

   „Ist doch wahr. Er setzt damit alles aufs Spiel! Alles! Er…"

 

   „John!"

 

   „WAS!" Ihm  wurde bewusst, dass er regelrecht geschnauzt hatte und schickte kleinlaut ein: „Entschuldigung“, hinterher.

 

   „Schon gut. Es ist nur … ich bin fix und fertig, habe letzte Nacht kaum geschlafen und mit Ihren Äußerungen tragen Sie nicht gerade dazu bei, mich zu beruhigen. Ehrlich, Sie machen mir Angst. Ich finde, wir sollten jetzt nur an unsere Kinder denken.“

 

   Ein Blick auf Gilians sorgenvolle Gesichtszüge und John erkannte, was er  durch seinen Gefühlsausbruch im Begriff gewesen war, anzurichten. „Gott, es tut mir leid“, sagte er leise erschrocken. „Das wollte ich nicht.“

 

   „Das weiß ich doch“, antwortete Gilian und schien sich wieder ein wenig zu entspannen. „Wir machen uns halt beide Sorgen.“

 

   Er nickte mit gesenktem Kopf und einen Augenblick lang schwiegen sie beide. Das Telefon schrillte unnatürlich laut in die plötzlich Stille hinein und ließ sie erschrocken zusammenzucken.

 

   „Wer könnte das sein?“, flüsterte die Botschafterin wie erstarrt und blickte John aus angstvoll aufgerissenen Augen fragend an. „Sonntags … um diese Uhrzeit?“

 

**********

 

   Als Marc zum wiederholten Male über seine Schulte blickte, stolperte Suzanne gerade über eine Wurzel. Dass dies geschah war in dieser Gegend nicht weiter ungewöhnlich. Auch er war trotz aller Vorsicht schon ein paar Mal ins Straucheln geraten. Was ihm allerdings Sorgen bereitete war, dass Suzanne kaum wahrzunehmen schien, dass sie fast gestürzt wäre. Er schaute genauer hin und registrierte, dass das Mädchen stark schwitzte. War das tatsächlich nur der Hitze und dem strammen Tempo, das er vorlegte, geschuldet, oder stimmte womöglich noch zusätzlich etwas nicht mit ihr? Es kam ihm schon seit einer Weile so vor, als fiele es Suzanne zunehmend schwerer, mit ihm Schritt zu halten. In der letzten halben Stunde hatte er schon mehrfach langsamer werden müssen, damit sie den Anschluss nicht verlor.

 

   „Was hältst du von einer Pause?", formulierte er vorsichtig, da er nicht noch Öl ins Feuer gießen wollte.

 

   „Nein", kam kurz und knapp die Antwort. „Weiter! Ich will nach Hause." 

 

   Verdammt! Dieses Mädchen war sturer als ein Esel! Warum konnte sie nicht einfach sagen, dass sie nicht mehr konnte? Marc ließ sie herankommen und als sie sich kommentarlos an ihm vorbeidrängen wollte, griff er schnell nach ihrem Handgelenk, so dass sie zwangsläufig stehenbleiben musste. „Wenn du keine Pause brauchst, in Ordnung; ich für meinen Teil brauche eine“, verkündete er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

 

   „Gut." Suzanne ließ sich direkt gleich an Ort und Stelle auf den Boden sinken und trank gierig aus der Feldflasche, die er ihr reichte.

 

   Mit gemischten Gefühlen beobachtete Marc seine Begleiterin, und was er sah gefiel ihm ganz und gar nicht. Er beschloss, den Mund aufzumachen. „Pausen sind wichtig“, verkündete er so beläufig wie möglich. „Wenn einer von uns schlappmacht, bringt uns das nicht weiter. Wir haben noch einen langen Weg vor uns."

 

   „Mach dir keine Gedanken. Ich schaff das schon“, antwortete sie ohne aufzublicken.

 

   „Suzanne, bitte. Ich kann ja verstehen, dass du sauer auf mich bist aber so lange wir zusammen unterwegs sind, müssen wir zusammenhalten. Falscher Stolz ist hier draußen völlig fehl am Platz, wenn nicht sogar gefährlich. Wenn wir zurück sind, kannst du mich gerne in die Wüste schicken." Obwohl das gar nicht nötig sein wird, setzte er in Gedanken hinzu.

 

   „Keine Sorge", wimmelte sie ihn ab. „Ich will nur nach Hause. Ist das so schwer zu verstehen? Das hat nichts mit falschem Stolz zu tun."

 

   Marc seufzte. „Also gut, wie du meinst.“ Er kramte im Rucksack und hielt ihr gleich darauf die Kekstüte hin: „Hier: Nimm ein paar.“

 

   Sie schüttelte matt den Kopf. „Ich bring nicht hungrig."

 

   „Aber..."

 

   „Hörst du schlecht?!“ Suzanne stand leicht schwankend auf. „Gehen wir weiter. Dieses sinnlose Geplänkel kostet uns nur Zeit."

 

   „Hier, bind´ dir wenigstens das Tuch um den Kopf. Wir kommen gleich raus aus dem Busch und werden danach eine ganze Weile in freier Steppe unterwegs sein. Die Sonne knallt ganz ordentlich. Ich will nicht, dass du dir womöglich einen Sonnenstich einfängst.“

 

   „Wow“, spottete sie. „Deine Sorge rührt mich gleich zu Tränen."

 

   Zu Marcs Erleichterung griff Suzanne wenigstens nach dem Baumwolltuch, das er ihr hinhielt. Mit ein paar raschen Handgriffen wickelte sie daraus eine Art Turban um den Kopf und wies danach mit einer Hand nach vorn. „Da lang?“, fragte sie kurz.

 

   Statt einer Antwort nickte Marc nur, unterdrückte mit Mühe einen neuerlichen Seufzer und setzte sich ebenfalls in Bewegung, während er gleichzeitig beschloss, Suzanne auf jeden Fall besser im Auge zu behalten.

 

**********

 

   Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte immer noch. Nervtötend und unvermindert laut.

 

   „Um Himmels Willen, nun, gehen Sie schon endlich dran", forderte John Gilian heiser auf und war mit drei Schritten wie selbstverständlich hinter ihrem Schreibtisch, noch bevor sie mit flatternden Fingern den Hörer von der Station genommen hatte.

 

   „Botschaft der vereinigten Staaten. Banks?" Sie schaffte es, dass ihre Stimme nur minimal zitterte.

 

   John bedeutete ihr, den Hörer so zu halten, dass er mithören konnte und war dankbar, dass sie sofort auf sein Handzeichen reagierte. Er beugte sich hinunter, bis sein Kopf sich auf gleicher Höhe mit Gilians befand. Als er bemerkte, dass sie im Begriff war, zusätzlich den Lautsprecherknopf zu drücken, legte er schnell eine Hand auf ihre. Als sie ihn daraufhin fragend anblickte, schüttelte er stumm den Kopf. Sie hatten keine Ahnung, wer sich am anderen Ende der Leitung befand und die Verbindung war schon zustande gekommen. Er wollte vermeiden, dass ein Klicken in der Leitung einen eventuellen Gegner womöglich aufschreckte.

 

   „Botschafterin? Sind Sie es persönlich?" Eine ihm fremde Stimme kam undeutlich, dumpf und verzerrt aus dem Hörer.

 

   „Ja, ich bin es selbst. Mit wem spreche ich?"

 

   „Wir sollten uns nicht mit unwichtigen Kleinigkeiten aufhalten. Ich will nicht lange drum herum reden. Wir haben Ihre Tochter und diesen merkwürdigen amerikanischen Eingeborenen."

 

   John griff beherzt zu, als er bemerkte, dass Gilian neben ihm plötzlich die Knie weich wurden. Vorsichtig stützte er sie während er bemüht war, ihr dabei nicht zu Nahe zu kommen.

 

   „Mrs.Banks? Sind Sie noch da? Haben Sie mich verstanden?"

 

   „Ja. Ja, ich…" Gilians Stimme klang brüchig und drohte vollends zu versagen. Hilflos hielt sie inne und warf John einen flehenden Blick zu.

 

   Er nahm ihr kurzentschlossen den Hörer aus der Hand. „Gilbert am Apparat“, sagte er mit fester Stimme. „Was wollen Sie?"

 

   Ein heiseres Lachen antwortete ihm und es war jetzt deutlich zu hören, dass die Stimme durch irgendetwas verfälscht wurde. „Oh, wie ich höre sind Sie schon zur Stelle. Das ist gut. Sehr gut, das spart uns Zeit. Was werden wir wohl wollen? Wieviel sind Ihnen die beiden denn wert?“

 

   „Ich dachte, es wäre bekannt, dass bei mir nichts zu holen ist."

 

   „Schon klar. Aber bei der Lady. Wir dachten so an 40.000,00 $."

 

   John lachte zynisch auf. „Sie sind verrückt."

 

   „Keineswegs. Pro Nase, wohlgemerkt. Ich vermute, die Botschafterin hört mit. Falls nicht, sagen Sie´s ihr. Wir melden uns wieder, wegen der Bedingungen.“

 

   „Halt. Warten Sie..." Als John registrierte, dass er bereits ins Leere sprach, warf er frustriert den Hörer zurück auf die Station und wandte sich Gilian zu. Fragend blickte er ihr in die weit aufgerissenen Augen. „Haben Sie alles mitbekommen?“

 

   Eine Träne rann aus ihrem Augenwinkel, just in dem Augenblick als sie nickte und ihre Beine endgültig aufgaben.

 

   „Hoppla.“ John fing sie auf und schloss sie, ohne groß darüber nachzudenken, was er tat, tröstend in seine Arme. Für einen Augenblick lang standen beide in inniger Umarmung schweigend einfach nur da. Schließlich löste John sich vorsichtig wieder von Gilian, fasste sie sachte am Ellbogen und führte sie langsam um den Schreibtisch herum zur Sitzgruppe im Hintergrund des Zimmers. Ihre Beine schienen ihr immer noch nicht ganz gehorchen zu wollen. Beim Sofa angekommen ließ er sie sich vorsichtig setzen, kniete sich vor sie und griff impulsiv nach ihren Händen.

 

   „Geht's wieder?", erkundigte er sich sanft.

 

   Sie nickte. „Wer tut so etwas?", fragte sie dann verzweifelt.

 

   Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, aber ich versichere ihnen: Marc hat nichts damit zu tun."

 

   „Das ist doch jetzt nicht wichtig“, wehrte sie ab.

 

   „Oh, doch“, widersprach er vehement. „Das ist es. Für mich ist es sogar extrem wichtig. Ich würde mir wünschen, dass Sie an meinen Sohn glauben. Mrs. Banks, er..."

 

   Sie warf ihm einen leicht verscheierten Blick zu. „Bitte, können Sie nicht endlich Gilian zu mir sagen?"

 

   „Marc wird alles für Ihre Tochter tun, was in seiner Macht steht. Er wird auf sie aufpassen. Er kennt sich da draußen aus. Glauben Sie mir, bei ihm ist Suzanne in den besten Händen."

 

   Gilian nickte wieder und schniefte leise: „Ja, mag sein. Nur dass es so aussieht, als würde er nicht viel Einfluss nehmen können.“

 

   „Er wird einen Weg zu finden“, legte John sich fest. „Er kennt sich mit Sicherheit besser aus, als die Entführer. Er ist hier geboren.“

 

   „Die Entführer aber vielleicht auch.“

 

   „Das glaube ich nicht. Die Stimme war verfälscht, aber … ach, ich weiß auch nicht. Aber eins weiß ich…“ Er drückte sanft ihre Hände, die er immer noch festhielt. „Wir sollten versuchen, positiv zu denken. Alles andere zieht uns nur runter.“

 

   „Das ist leichter gesagt, als getan. Wie geht's denn jetzt weiter?"

 

   „Wir müssen abwarten, bis die Entführer sich wieder melden. So unbefriedigend das auch ist.“ Er ließ Gilian los, stand auf und ging nervös zum Schreibtisch zurück. „Wir müssen uns Gedanken über das Geld machen“, sprach er dann widerwillig aus, was ihn beschäftigte. „Ich habe keine Ahnung, wie…“

 

   „Oh, das Geld ist kein Problem“, warf sie schnell ein. „Das krieg ich hin. Ich muss es nur flüssig machen."

 

   „Ja, Sie, aber ich nicht.“ John fuhr sich durch die Haare. „Ich fürchte, selbst wenn ich die Station zum Verkauf anbiete wird sie nicht…“

 

   „Denken Sie nicht mal dran. Wir müssen jetzt zusammenhalten."

 

   „Ja, schon, aber die Regierung wird nicht $ 40.000,00 für meinen Sohn bezahlen. Es ist allgemein bekannt, dass wir dringend Geld brauchen. Man wird denken, dass... Sie wissen schon. Besonders wenn diese andere Geschichte publik wird. Das bekommen Sie niemals durch."

 

   „Ich spreche nicht von der Regierung. Ich rede von meinem Privatvermögen."

 

   „Nein!“ Er blieb abrupt stehen. „Das kann ich nicht annehmen."

 

   „John, bitte. Keinen falschen Stolz jetzt. In Ordnung?“

 

   „Ich... Ich werd' es ihnen zurückzahlen. Irgendwie." Er ging rasch zu ihr zurück, ging in die Knie und schloss sie spontan erneut in die Arme. Nur dieses Mal tat er es, um zu verbergen, dass auch seine Augen plötzlich feucht wurden. „Sie sind unglaublich“, flüsterte er überwältigt in ihr Haar. „Danke.“

 

   „Gerne. Es wird nur leider ein paar Tage dauern bis das Geld hier ist. Es ist festgelegt. Drüben in Amerika." Er spürte, wie sie einmal tief durchatmete, bevor sie sich sanft von ihm löste und aufstand. „Ich sollte telefonieren. Wir wissen schließlich nicht, wie viel Zeit sie uns lassen."

 

   „Gut. In der Zwischenzeit fahre ich zum Bürgermeister und rede auch direkt mit Tom. Hoffentlich kann ich beide überzeugen, vorläufig dichtzuhalten." Er wandte sich zur Tür. „Ich komme wieder?"

 

   Seine letzte Bemerkung klang mehr wie eine Frage, als wie eine Feststellung und nötigte Gilian das erste zaghafte Lächeln seit seinem Eintreffen ab. „Ich bitte darum."

 

   „Mrs. Banks … Gilian?"

 

   „Ja?"

 

   „Ich... Ich möchte mich für ihr Vertrauen bedanken. Mir ist klar, dass das nicht leicht für Sie ist. Immerhin kennen wir uns kaum."

 

   „Wissen Sie, es ist merkwürdig aber bei Ihnen habe ich das Gefühl als würden wir uns schon sehr viel länger kennen, als es tatsächhlich der Fall ist. Wenn Sie der General wären, würde ich jetzt ernsthaft in der Bredrouille stecken, aber das behalten Sie bitte für sich, okay?"

 

   „Natürlich.“ John lächelte traurig. „Bis später."

 

 

49. Kapitel

 

 

 

   Es war nicht von der Hand zu weisen: Sie kamen immer langsamer voran. Jeder Schritt, zu dem Suzanne sich zwang, wurde für sie zur Tortour. Sie wurde von Schüttelfrostattacken gequält und ihr Durst war längst ins unermessliche gewachsen. Die Kopfschmerzen waren so stark, dass ihr mittlerweile richtiggehend übel davon war, doch sie wollte einfach nicht aufgeben. Trotz aller Defizite war ihr klar, dass sie ihren Zustand vor Marc nicht mehr lange würde verbergen können, doch so lange er nichts dazu sagte, wollte sie um jeden Preis durchhalten. Jeder Schritt, den sie sich nach vorn kämpfte, brachte sie näher an ihr Ziel: John Gilberts Station und von dort aus so schnell wie möglich in das Botschaftsgebäude. Dort angekommen würde sie sich erst einmal richtig ausschlafen. Schlafen … schon allein die Vorstellung war ein Traum.

 

   Automatisch, fast wie ein Roboter, setzte sie konsequent einen Fuß vor den anderen. Den Kopf gesenkt, immer weiter. Immer noch einen Schritt. Als Marc plötzlich abrupt stehenblieb lief sie fast auf ihn auf, doch sie hob nicht einmal mehr den Kopf an, sondern blieb lediglich stehen. Voll konzentriert, soweit ihr das überhaupt noch möglich war. Schließlich würde er gleich weitergehen und da durfte sie sich nicht gehenlassen. Wenn sie der Verlockung sich kurz auszuruhen nämlich nachgeben würde, wäre es vorbei.

 

   „Suzanne, bitte", hörte sie seine Stimme, die für sie klang als spräche er durch einen dicken Wattebausch. „Du solltest dich sehen. Gib doch endlich zu, dass du nicht mehr weiter kannst. Warum tust du dir das an?“

 

   Konnte er nicht endlich Ruhe geben? Ihr fehlte schlicht die Kraft, sich weiter mit ihm zu streiten. „Es geht schon", murmelte sie und wollte an Marc vorbei, während die Beine endgültig unter ihr nachgaben. Gleich darauf fühlte sie sich von starken Händen aufgefangen und vorsichtig auf dem harten, staubigen Boden abglegt.

 

   „Hey, was machst du denn für Sachen?“ Trotz ihres Zustandes und obwohl sie seine Worte nur noch wie aus großer Entfernung wahrnahm, realisierte Suzanne, wie erschrocken Marc sich anhörte. Er beugte sich direkt über sie und als sie mühsam die Augen öffnete, erkannte sie ehrliche Sorge in seinen braunen Augen. „Suzanne? Komm schon, sag was."

 

   Sie spürte wie er ihr sanft mit einer Hand das verschwitzte Haar aus der Stirn strich. Ein zarter, kaum wahrnehmbarer Luftzug, aber ah, das tat gut. Matt ließ sie ihre Augen wieder zufallen.

 

   „Verdammt, Suzanne. Du hast Fieber. Du glühst ja förmlich", hörte sie ihn gleich darauf entsetzt ausrufen. Na und, jeder Mensch bekam schließlich mal Fieber, oder vielleicht nicht? Kein Grund, deswegen so einen Aufstand zu machen. Vor allen Dingen musste Marc deshalb nicht so brüllen, dachte sie verstimmt. Und? Was hatte er jetzt vor? Sie dem Buschschamanen vorstellen? Falls es in dieser Gegend überhaupt einen gab.

 

   Sie fühlte mehr instinktiv, als das sie es wirklich wahrnahm, dass ihre Kleidung verrutschte, als Marc sich neben sie setzte und ihren Kopf umständlich in seinen Schoß bettete. Gute Idee, das war wenigstens einigermaßen bequem. Sie würde sich jetzt einfach eine Mütze voll Schlaf gönnen und danach konnte es weitergehen.

 

**********

 

   „Mein Gott“, murmelte Marc entsetzt vor sich hin, während er die handtellergroße, stark geschwollene und feuerrote Stelle an Suzannes hinterem Schulterblatt genauer betrachtete. Sie war ihm aufgefallen, als eben ihre Bluse über die Schulter gerutscht war und das sah verdammt noch mal gar nicht gut aus. „Scheiße, auch das noch! Suzanne! Hörst du mich? Suzanne, nicht einschlafen, hörst du, du darfst nicht einschlafen."

 

   „Ich schlafe ja gar nicht", antwortete sie schleppend, wobei ihr jedes Wort grosse Mühe bereitete. Es war, als wäre ihre Zunge zu einem großen, unförmigen Klumpen angeschwollen. „Musst du so brüllen? Mein Kopf platzt gleich.“

 

    „Scheiße, Suzanne, seit wann hast du das? Seit wann geht es dir so schlecht? Hey, wach bleiben. Nicht einschlafen. Hörst du mich?"

 

   „Lass mich doch.“ Aus fiebrigen Augen blickte sie zu ihm auf. „Es geht mir nicht besonders gut", nuschelte sie undeutlich.

 

   „Ich weiß. Das sehe ich. Aber wie lange schon?“ Er strich ihr sanft über die Wange. „Suzanne?"

 

   „Warum darf ich denn nicht schlafen? Bitte, nur ein bisschen. Danach geht's mir bestimmt wieder besser."

 

   „Später Suzanne, später kannst du schlafen. Jetzt noch nicht."

 

   „Später ist scheiße."

 

   „Ja, ich weiß, aber Suzanne, ich muss wenigstens ungefähr wissen, seit wann es dir so schlecht geht?", wiederholte er eindringlich seine Frage.

 

   „Ich weiß nicht. Aber mir war heute Morgen schon so komisch." Sie hatte offensichtlich Probleme, die Augen offen zu halten.

 

   „Hey, hey, hey.“ Er verlegte sich vom sanften Streicheln der Wange zum etwas nachdrücklicheren Tätscheln. „Nicht einschlafen!"

 

   „Ich bin ja wach.“ Wieder öffnete sie die Augen und dieses Mal glaubte er etwas ihrer alten Angriffslust in ihrem Blick zu erkennen. Das konnte allerdings auch Wunschdenken sein. „Warum quälst du mich so?"

 

   Das mit dem „quälen“ überhörte er geflissentlich. „Die Wunde? Seit wann hast du diese Wunde?"

 

   „Welche Wunde?"

 

   Suzanne wurde urplötzlich von einem Schüttelfrostanfall geplagt und schmiegte sich instinktiv enger an Marc, der automatisch schützend seine Arme um sie legte.

 

   „Oh Mann, oh Mann, was soll ich nur mit dir machen?", flüsterte er dabei erschüttert vor sich hin. Es war offensichtlich, dass Suzanne schwer erkrankt war. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt.

 

   „Lass mich nicht alleine", bat sie schwach, ohne die Augen zu öffnen.

 

   „Keine Sorge, tu´ ich nicht. Ich bin da."

 

   „Ich kann nicht weiter. Ich muss mich ausruhen. Nur kurz.“

 

   „Es tut mir echt leid, aber ein bisschen wirst du schon noch müssen, okay? Ich helfe dir. Mit meiner Hilfe schaffst du das. Wirst sehen. Hier ganz in der Nähe ist eine Höhle in einem alten Steinbruch. Dort finden wir Schutz und Schatten. Hörst du, Suzanne: Wir können nicht hier bleiben. Ehrlich, es ist nicht allzu weit."

 

   „Ich glaube nicht, dass ich das schaffe."

 

   „Oh doch, du schaffst das. Zusammen schaffen wir das. Komm, komm hoch... Warte, ich stütze dich. Komm her."

 

   Vorsichtig half er Suzanne, wieder auf die Füße zu kommen. Nach einigen vergeblichen Versuchen schaffte er es dann irgendwie das ganze Gepäck zu schultern und gleichzeitig auch noch Suzanne zu stützen. Es war tatsächlich nicht weit bis zum Steinbruch, doch mit dem ganzen Gepäck und Suzanne, die wie ein Stein an seiner Seite hing, brauchten sie insgesamt noch eine gute Stunde um ihr Ziel zu erreichen. Als sie endlich ankamen, war auch Marc in Schweiß gebadet und ziemlich am Ende mit seiner Kraft. Er ließ Suzanne kurz am Eingang zurück und sondierte erst einmal die Lage in der Höhle. Drinnen war es zwar auch sehr heiß, da die Steine die aufgenommene Hitze auch nach innen absorbierten, aber wenigstens waren sie dort vor der unbarmherzig strahlenden Sonne geschützt.

 

   Nachdem er das Gepäck ins Innere der Höhle geschafft und festgestellt hatte, dass ihnen dort keinerlei Gefahr drohte, bereitete er rasch ein Lager für Suzanne vor und holte sie dann nach. Sie war inzwischen kaum noch bei Bewusstsein und so trug er sie kurzerhand auf seinen Armen hinein. Sie zeigte keine Reaktion, als Marc ihr in den Schlafsack half und dafür sorgte, dass sie es so warm wie möglich hatte, denn trotz der Hitze zitterte sie immer noch am ganzen Körper. Entmutigt setzte er sich danach neben sie auf den Boden und fragte sich zum x-ten Male an diesem Tag wie ausgerechnet er, der Ruhige und Besonnene, in eine solche Situation hatte kommen können? Viel wichtiger war allerdings eine andere Frage. Während neben ihm Suzanne im Fieberwahn leise vor sich hinwimmerte, zermarterte er sich das Hirn, wie es nun weitergehen sollte?

 

**********

 

   John Gilbert hatte gerade erst seine Hand in Richtung Türklopfer erhoben, als Gilian ihm bereits die Tür öffnete.

 

   Sie hatte ihn vermisst. Seine Anwesenheit gab ihr ein Gefühl der Sicherheit und die nötige Ruhe, die sie so dringend brauchte, um nicht völlig die Fassung zu verlieren.

 

   „Und?“, überfiel sie ihn angespannt. „Was sagen die beiden?"

 

   John verzog das Gesicht. „Der Bürgermeister ist nicht begeistert davon, Stillschweigen zu bewahren. Aber er gibt uns wenigstens etwas Zeit."

 

   „Und Tom?"

 

   „Er ist auf Marcs Seite. Er geht davon aus, dass man Marc reingelegt hat.“ Gilian trat beiseite und John betrat wie selbstverständlich das Haus. „Was haben Ihre Anrufe erbracht?", erkundigte er sich, während sie gemeinsam Gilians Arbeitszimmer betraten.

 

   „Es dauert etwas länger als gedacht, aber das Geld ist in spätestens einer Woche hier. Die Aktienanteile müssen erst verkauft werden und der Transfer hierher dauert auch einige Tage. Ich kann nur hoffen, dass diese … Männer uns so viel Zeit geben."

 

   „Was haben Sie Ihrem Broker für eine Begründung für einen so hohen Verkauf geliefert? In dieser Höhe ist das doch sicher ungewöhnlich."

 

   „Ist das so wichtig?"

 

   „Nein, Sie haben Recht. Es geht mich ja auch nichts an."

 

   „So habe ich das nicht…“

 

   Es klopfte und einen Augenblick später erschien Gregory im Rahmen. „General McAllister würde Sie gerne sprechen“, meldete er. „Er lässt sich leider nicht abweisen.“

 

   „Auch das noch“, seufzte Gilian Banks.

 

   John blies genervt die Wangen auf. „Schnell, wohin kann ich verschwinden?", fragte er leise.

 

   „Aber..."

 

   „Nein, glauben Sie mir, es ist besser, Sie reden alleine mit ihm."

 

   Gilian öffnete eine in der Holzverkleidung eingelassene Tür an der Längswand. „Hier ist ein kleines Bad. Wenn es Sie nicht…"

 

   „Alles gut. Lassen Sie sich bloß nicht von ihm verrückt machen. Ach, was rede ich. Sie können das. Bis gleich." Er drückte kurz beruhigend ihren Arm, verschwand in dem Minibad und zog die Tür hinter sich zu.

 

   Gilian holte einmal tief Luft: „In Ordnung, Gregory. Führen Sie den General bitte herein.“

 

   Der Butler nickte und zog sich zurück, während Gilian nur wenig Zeit blieb, sich auf die Begegnung vorzubereiten. Wenige Sekunden später betrat der General gewohnt selbstsicher mit energischen Schritten das Zimmer.

 

   „Einen wunderschönen guten Tag", begrüßte er Gilian jovial.

 

   „General", antwortete sie sehr reserviert. „Was führt Sie zu mir? Noch dazu an einem Sonntag?"

 

   „Unter der Woche bin ich sehr beschäftigt. Und da ich gerade in der Gegend war..."

 

   „Schon gut“, unterbrach Gilian den Mann ungeduldig. „Worum geht es?"

 

   „Fühlen Sie sich nicht wohl?“ Täuschte sie sich, oder lag plötzlich ein gewisses Misstrauen in den Blicken des Generals. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie sehen etwas angegriffen aus.“

 

   „Nein", antwortete sie, vielleicht eine Spur zu schnell. „Ich habe lediglich schlecht geschlafen. Aber Sie sind sicher nicht hier, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen…"

 

   „Sie kommen schnell auf den Punkt. So etwas schätze ich“, lobte Mc.Allister. „Sehr sogar. Also gut, Sie haben sich gestern Gilberts Station angesehen?", kam er dann auch direkt auf den Grund seines Besuches zu sprechen.

 

   „Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber ja, das habe ich.“

 

   „Und? Wie war Ihr Eindruck?"

 

   „Noch einmal, ich wüsste nicht, was das Sie angeht", sagte Gilian nun merklich schroffer und John, der ständig mit einem Ohr an der Tür hing, war froh, dass sie in diesem Ton nicht mit ihm sprach.

 

   „Verstehen Sie mich nicht falsch", sprach der General weiter. „John Gilbert und ich sind alte Konkurrenten aber ich ziehe durchaus meinen Hut vor diesem Mann. Er ist zwar ein Traumtänzer, aber er hat Ideale.“ Er grinste breit. „Auch, wenn die selbstverständlich nicht realisierbar sind."

 

   „Damit wollen Sie mir sicher zu verstehen geben, dass Ihnen die Zuschüsse der Regierung eher zustehen, als Mr. Gilberts Station", konstatierte Gilian sachlich.

 

   „Ich bitte Sie. Es geht doch hier nicht um das Geld", wehrte der General mit einer geringschätzigen Handbewegung ab.

 

   „Ach nein?"

 

   „Nein. Sehen Sie, Sie können es ja nicht wissen, aber John hat sich vor Jahren total verrannt. Als er sich in diese Frau verliebte. Er war völlig vernarrt. Er quittierte den Dienst beim Militär, und ließ letztlich sogar alles hinter sich. Sein ganzes Leben. Schon damals…“

 

   „John Gilbert war beim Militär?" Gilian war die Überraschung anzuhören und John ballte hinter der Tür die Hand zur Faust.

 

   „Das wussten Sie nicht? Oh ja, er war Soldat – und zwar ein guter. Doch dann warf er von jetzt auf gleich alles hin und verrannte sich in dieses dumme Studium. Er heiratete und wanderte aus. Wir hatten uns viele Jahre lang nicht gesehen. Bis ich hierher versetzt wurde."

 

   „Und?"

 

   „Na ja, ich denke, es wird ihn wurmen, dass ich es so weit gebracht habe, während er mit seiner Station mittlerweile aus dem letzten Loch pfeift. Das muss ihm wie eine persönliche Niederlage vorkommen."

 

   „Das sehe ich etwas anders.“ Gilians Stimme klang kalt. „Ich finde es wirklich sehr beachtlich, was Gilbert und seine Leute dort draußen auf die Beine gestellt haben."

 

   „Tja, was soll ich dazu sagen? Ich verstehe Sie. Auf den ersten Blick mag es sicher so aussehen. Für einen Außenstehenden. Aber wie gesagt: John und ich waren schon beim Militär Konkurrenten. Damals hat er verloren und jetzt setzt er natürlich alles daran, mir die Zuschüsse streitig zu machen. Glauben Sie mir, das Ganze ist eine rein persönliche Angelegenheit."

 

   „Sie glauben allen Ernstes, John Gilbert will Ihnen nur das Leben schwer machen?“ Gilians Stimme klang ungläubig. „Und dass er dafür seine Station benutzen will?“

 

   „Ja“, verkündete der General überzeugt. „Obwohl ihm natürlich bewusst sein dürfte, dass er im Grunde auf verlorenem Posten steht. Trotzdem versucht er alles um meine Bemühungen, meine Arbeit zu verzögern.“

 

   „Eine flammende Rede, General", antwortete Gilian eisig. „Ich habe den Eindruck, Sie glauben diesen Unsinn tatsächlich.“

 

   „Ich versuche lediglich, Ihnen die Entscheidung zu erleichtern." McAllisters Stimme klang deutlich reservierter, als noch vor einigen Sekunden.

 

   „Haben Sie eigentlich jemals daran gedacht, dass Sie Mr. Gilbert völlig egal sein könnten, dass er schlicht hinter seiner Staion steht. Hinter dem, was er tut. Und hinter seinen Leuten."

 

   McAllister lächelte schmallippig. „Daran sieht man, wie wenig Sie diesen Mann kennen."

 

   „Ich würde sagen, genausowenig wie ich Sie kenne."

 

   „Wenn Sie seiner Station die Zuschüsse bewilligen, können Sie das Geld genausogut aus dem Fenster werfen." McAllister hatte offensichtlich nicht mit soviel Opposition gerechnet. Auf jeden Fall wurde er hörbar wütend. „Glauben Sie mir, die Basis benötigt…“

 

   „Die Entscheidung darüber, wer was am dringensten benötigt, dürfen Sie getrost mir berlassen“, unterbrach Gilian ihren Gesprächspartner knapp und blickte unmissverständlich zur Tür. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen. Ich habe noch zu tun."

 

   „An einem Sonntag?", warf McAllister bissig ein. „Ich dachte, Sie hätten an den Wochenenden frei?"

 

   „Was Sie offenbar nicht daran gehindert hat, hier unangemeldet zu erscheinen.“

 

   Das Telefon klingelte und Gilian hoffte, dass McAllister ihr spontanes Zusammenzucken nicht bemerkt hatte.

 

   „General." Sie blickte den General auffordernd an, während der Apparat auf dem Schreibtisch weiter klingelte.

 

   „Gehen Sie ruhig ran. Ich habe noch eine abschließende Frage. Bitte."

 

   Gilian wollte auf keinen Fall das Telefonat verpassen, wusste aber nicht, wie sie den lästigen Besucher auf die Schnelle loswerden sollte. Sie bedeutete dem General mit einer Handbewegung, dass er den Mund halten sollte und griff mit der anderen Hand hastig nach dem Hörer. „Banks?“

 

   „Sind Sie alleine?" Ihr wurde schlecht, als sie tatsächlich die gleiche verfälschte Stimme, wie beim ersten Telefonat, hörte.

 

   „So gut wie", antwortete sie und betete, dass ihre Stimme nicht zitterte.

 

   „Gilbert?"

 

   „Nein."

 

   „Sie haben doch nicht etwa die Polizei eingeschaltet? Ich warne Sie…“

 

   „Nein“, wiederholte sie und musste an sich halten, um die Antwort nicht in den Hörer zu schreien.

 

   „Haben Sie um das Geld gekümmert?"

 

   „Ja, aber… Hören Sie, so schnell geht das nicht. Ich muss erst..."

 

   „Wie lange?"

 

   Sie holte tief Luft. „Etwa eine Woche.“

 

   „Sie haben drei Tage."

 

   Gilian musste alle Beherrschung aufbringen, derer sie fähig war, um ihr Entsetzen zu verbergen. „Das ist zuwenig."

 

   „Vier Tage, das ist das Äußerste. Mehr bekommen Sie nicht. Und ich will später keine Ausreden hören. Machen Sie Druck. – Was macht Gilbert?"

 

   „Keine Ahnung. Ich..."

 

   „Keine Polizei, klar?! Und auch sonst niemand, der mit den Behörden in Verbindung steht. Haben Sie mich verstanden?"

 

   „Ja. Ja, sicher."

 

   „Wir melden uns mit Anweisungen wegen der Übergabe. Seien Sie in vier Tagen auf der Station.“

 

   „Nein, hören Sie..."

 

   „Ich rate Ihnen, versuchen Sie keine krummen Touren. Sie wollen doch sicher nicht, dass das in einem Blutbad endet, oder?“

 

   „Nein, natürlich nicht.“

 

   Das Gespräch wurde unterbrochen und Gilian versuchte verzweifelt, sich ihre immense Anspannung nicht anmerken zu lassen. Fahrig wollte sie das Mobilteil zurück in die Station stellen, wobei ihre Hand so stark zitterte, dass sie diese fast zu Boden fegte. Das Bewusstsein, dass der General sie nicht aus den Augen ließ, machte sie zusätzlich nervös.

 

   „Probleme?“, erkundigte McAllister sich beiläufig, doch seine Augen straften ihn Lügen. Er war wachsam. Sie machte sich nichts vor, dem Mann entging nichts.

 

   „Nein, nur die üblichen Ärgernisse, die der Job so mit sich bringt", wiegelte sie ab. „Was wollten Sie mich fragen?“

 

   „Es geht um unsere Kinder. Die beiden hatten wohl eine kleine Meinungsverschiedenheit. Wissen Sie etwas darüber.“

 

   „Nein, ich weiß nur, dass die beiden gemeinsam im Kino waren. Suzanne ist da nicht sehr gesprächig."

 

   „Tja, so wie es aussieht, war Ben etwas forsch. Auf jeden Fall tut es ihm sehr leid. Ich soll Suzanne Grüße von ihm ausrichten. Wo ist sie denn?"

 

   „Wer?", fragte Gilian verwirrt und unkonzentriert. Das Telefonat wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen.

 

   „Ihre Tochter. Suzanne. Kann ich sie kurz sprechen?"

 

   „Nein, sie..." Gilians Gedanken überschlugen sich in rascher Folge. „Suzanne fühlt sich nicht wohl und hat sich hingelegt. Ich werde ihr die Grüße gerne ausrichten.“ Sie gab sich einen Ruck. „General, es tut mir leid, aber ich muss Sie jetzt wirklich bitten zu gehen."

 

   „Tja, dann... Sie wissen, wenn Sie Probleme haben können Sie sich jederzeit an mich wenden."

 

   „Danke sehr. Es tut gut, das zu wissen“, log Gilian, während sie den Mann persönlich bis zur Tür brachte. „Auf Wiedersehen.“

 

   „Auf Wiedersehen", konnte der General gerade noch sagen, als sich die Tür bereits hinter ihm schloss.

 

   Gilian hatte die letzten Silben schon gar nicht mehr mitbekommen. Nachdem sie McAllister endlich losgeworden war, verschwendete sie keinen weiteren Gedanken mehr an den Mann, sondern eilte zurück ins Arbeitszimmer, wo sie bereits ungedulgig erwartet wurde.

 

   „Waren das die Entführer?", fragte John knapp. Er hatte vor dem Schreibtisch auf sie gewartet, doch jetzt war er mit zwei, drei langen Schritten bei ihr.

 

   „Ja", sagte sie verzweifelt, schluckte hart und brauchte einen Moment, um sich zusammenzureißen. „Gott, John, Sie geben uns nur vier Tage", fuhr sie schließlich stockend fort und berichtete ihm in kurzen Zügen von dem Telefonat. „Das reicht nie und nimmer.“

 

50. Kapitel

 

   John brauchte einen Augenblick um die schlechten Neuigkeiten zu verarbeiten. Vier Tage, das war wirklich verdammt knapp. Er hatte keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollten. „Haben Sie eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?", fragte er leise, angestrengt darum bemüht, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. „Irgendeine Idee?“

   „Nein, nicht die geringste.“ Gilian schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass die Stimme ohne Akzent sprach."

   „Das muss nichts bedeuten. Viele der Afrikaner haben keinen Akzent."

   „Aber … ich verstehe das nicht. So wichtig sind wir nicht. Ich bin doch nur Botschafterin, keine Politikerin. So gesehen habe ich nur wenig Einfluss. Gut, ich habe ein wenig Privatvermögen, aber woher sollten diese Leute das wissen? Was ist denn mit Ihnen? Haben Sie keine Idee?"

   „Sie denken an Marc?" Das war definitiv viel eher eine Feststellung, denn eine Frage. Seine Stimme hatte eindeutig vorwurfsvoll geklungen.

   „Nein, ich dachte dabei an den General.“ Sie wunderte sich selber, dass ihrer Stimme plötzlich wieder eine gewisse Schärfe innewohnte. „Er hat sich eben irgendwie merkwürdig verhalten, finden Sie nicht?“ Sie stockte kurz, bevor sie ihm förmlich entgegenschleuderte: „Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie sich von früher kennen?"

   „Es erschien mir nicht wichtig." Johns Stimme klang abweisend und er schien ihren prüfenden Blicken auszuweichen. „Ich glaube nicht, dass er mit dieser Sache was zu tun hat“, erklärte er nach einer Pause. „Er wäre nicht so dumm, seine sicher geglaubten Zuschüsse aufs Spiel zu setzen, und dabei zusätzlich Gefahr zu laufen, seine Karriere zu ruinieren."

   Gilian nickte. Das klang logisch, auch wenn ihr der Gedanke nicht gefiel. „Aber wer dann? Wer würde unseren Kindern so etwas antun?"

   „Ich weiß es nicht. Ehrlich, ich habe nicht die geringste Idee. Ich glaube, wenn wir wenigstens wüssten, auf wen von Beiden der oder die Täter es ursprünglich abgesehen hatten, wären wir schon einen großen Schritt weiter.“ Er raufte sich die Haare und verkündete plötzlich mit großer Entschlossenheit in der Stimme. „Okay, mir reicht´s jetzt. Ich kann hier nicht einfach untätig rumsitzen. Ich fahre zurück zur Station und werde einen Suchtrupp zusammenstellen." Er wandte sich abrupt ab und wollte Gilians Arbeitszimmer verlassen.

   „Moment noch. Bitte warten Sie", bat Gilian ihn rasch.

   „Wozu? Vier Tage sind schnell vorbei und da das Geld aller Voraussicht nach bis dahin nicht verfügbar ist, werde ich etwas unternehmen.“

   „Ja, das verstehe ich ja. Ich will nur schnell ein paar Sachen zusammen packen und mit Ihnen kommen. Ich meine, natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist und Sie Platz für mich haben.“

   John runzelte nachdenklich die Stirn. „Das schon, aber halten Sie das wirklich für eine gute Idee?"

   „Darüber kann und werde ich jetzt nicht nachdenken."

   „Das sollten Sie aber. Es wäre besser, wenn hier alles so weiterläuft wie bisher. Ich will auf keinen Fall, dass es so aussieht, als ob..."

   „John! Bitte! Es ist mir gerade völlig egal, wie das aussieht", widersprach Gilian überraschend heftig. Sie bermerkte es selbst und atmete einmal tief durch. „Bitte, ich kann nicht einfach hierbleiben und so tun als sei die Welt in Ordnung. Tom weiß Bescheid. Er könnte doch Suzanne in der Schule krankmelden."

   „Sie soll nach außen hin krank sein, wärend Sie bei uns draußen auf der Station sind?" Johns Gesichtsausdruck sprach Bände. „Ich weiß nicht.“ Er zweifelte immer noch. Aber so einfach würde sie nicht aufgeben.

   „So verstehen Sie doch. Ich werde irre, wenn ich alleine hier bleiben muss. Bitte, nehmen Sie mich mit. Ich verspreche, ich werde Ihnen nicht im Weg sein. Aber ich möchte auch suchen helfen...etwas tun … ich möchte..." Ihre Stimme brach.

   „Schon gut." John hob beschwichtigend beide Hände. „Sie haben mich überzeugt. Holen Sie Ihre Sachen. Ich warte in der Eingangshalle."

   „Danke!“ Ein zögerliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ich verspreche, ich beeile mich!"

   Eine Viertelstunde später – nachdem Gilian Gregory noch ein paar Instruktionen zu ihrer Abwesenheit gegeben hatte – verließen sie gemeinsam das Haus.

**********

   McAllister wurde langsam ungeduldig und warf zum wiederholten Mal einen Blick auf seine Armbanduhr. Verdammt, viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Er wurde auf der Basis erwartet und stand sich stattdessen seit fast zwanzig Minuten in einer kleinen Seitenstraße schräg gegenüber der Botschaft die Beine in den Bauch. Irgendetwas war hier im Busch und er wollte verdammt sein, wenn er nicht herausbekam, was das war.

   Er war wie elektrisiert gewesen, als ihm nach dem Verlassen der Botschaft beim Einsteigen in seinen Wagen plötzlich der alte Jeep von Gilberts Auffangstation aufgefallen war, der ein Stück weiter vorne am Straßenrand parkte. Er wäre nicht er gewesen, wenn er danach nicht unbedingt hätte wissen wollen, was das zu bedeuten hatte. War John womöglich ebenfalls eben im Botschaftsgebäude gewesen? Was sonst sollte er in dieser Gegend zu tun haben? Hier war sonst nichts. Also, falls John tatsächlich während seines Besuchs ebenfalls in der Botschaft gewesen war, warum hatte die Botschafterin dann so ein Geheimnis daraus gemacht? Was zum Teufel ging da vor sich?

   Seinen Wagen hatte McAllister nach seiner überraschenden Entdeckung kurzerhand nur ein Stück weit in die nächste Seitenstraße gesteuert. Jetzt stand er hinter einem Baum, der ihm als Sichtschutz diente und ließ den Eingangsbereich der Botschaft nicht aus den Augen. Da Geduld aber nicht vorrangig zu seinen Stärken gehörte, überlegte er inzwischen ernsthaft seinen Beobachtungsposten aufzugeben, und sich auf den Rückweg zur Basis zu machen. Just in dem Moment, wo er seinen Entschluss in die Tat umsetzen wollte, lenkte ein Geräusch seine Aufmerksamkeit wieder auf die gegenüberliegende Straßenseite.

   Endlich! McAllister grinste. Das wurde auch Zeit. Er kniff die Augen zusammen und beobachtete gespannt, was sich gegenüber tat. Im nächsten Augenblick verzerrten sich seine Züge zu einer Grimasse und er ballte unwillkürlich die Fäuste. Das, was er sah gefiel ihm nicht nur nicht, nein, er wurde von einer unkontrollierbaren Wutwelle überrollt, während er mit ansah, wie Gilian Banks äußerst leger, bekleidet mit Jeans, Longbluse und Turnschuhen, vor die Tür trat. Unmittelbar hinter ihr folgte tatsächlich John Gilbert, der einen kleinen Rollkoffer hinter sich herzog. Er beobachtete, wie beide schweigend und sehr zielstrebig auf Johns Jeep zuhielten, gemeinsam einstiegen und wie der Wagen wenige Augenblicke später, eine Staubwolke hinter sich herziehend, in die entgegengesetzte Richtung verschwand.

   „Sieh´ an, das ist ja höchst interessant", murmelte er grimmig vor sich hin. „Frau Botschafterin scheinen in einem Interessenkonflikt zu stecken."

**********

   Marc hatte Suzanne Schlaf und auch sich selber ein wenig Ruhe und Entspannung gegönnt. Wobei es mit der Entspannung bei ihm nicht wirklich funktionieren wollte. Nach einer Weile beobachtete er, dass seine Begleiterin zusehends unruhiger wurde und er beschloss, sie vorsichtig zu wecken. Auch ohne Medizin studiert zu haben, war deutlich zu sehen, dass es Suzanne nicht gut ging. Ihr Gesicht glänzte fiebrig und der kalte Schweiß auf ihrer Stirn sprach Bände.

   „Suzanne. Hey, wach auf, du musst was trinken. Du brauchst dringend Flüssigkeit. Du dehydrierst. Komm schon, aufwachen. Wenn du getrunken hast, kannst du weiter schlafen."

   „Was?“ Träge öffnete das Mädchen die Augen, wuchtete sich schwerfällig auf einen Ellbogen und griff fahrig nach der Feldflasche, die Marc ihr hinhielt. Er konnte zusehen, wie das Zittern in ihrem Arm erst leicht begann und dann schnell stärker wurde, bis sie einknickte und das kostbare Nass beinahe fallen gelassen hätte. Er sah das Unheil kommen, griff beherzt zu und gab die Flasche anschließend Suzanne zurück. Sie nickte dankend, bevor sie sie endlich an die Lippen setzte und einen großen Schluck trank, während Marc ihr mit einer Hand sachte den Rücken stützte, da sie immer noch hin und her schwankte.

   „Okay, gut“, sagte er, als sie ihm die Flasche zurückgab. „Jetzt noch ein paar Kekse."

   „Du hast nur von trinken gesprochen.“

   „Du musst auch etwas essen. Um zu Kräften zu kommen.“

   „Nein.“ Sie hob abwehrend eine Hand. „Vergiss es. Ich kann nichts essen, mein Hals ist wie zugeschnürt." Ihre Stimme klang zwar fest, aber trotzdem matt und seltsam kraftlos.

   „Du musst", blieb er hart. „Ich werde dir helfen. Warte kurz, ich bin gleich wieder da."

   Bevor er die Höhle verließ um nach einem großen Blatt zu suchen war er Suzanne noch behilflich, sich rücklings an die Wand zu lehnen. Er brauchte ein paar Minuten, um ein Blatt zu finden, das für sein Vorhaben richtig schien. Vorsichtshalber nahm er noch ein paar weitere mit. Man konnte nie wissen, wozu sie gut waren. Schließlich hatten sie weder Handtücher, noch Toilettenpapier und… Er stoppte seinen Gedankenfluss und schüttelte den Kopf. Unfassbar, über was er hier alles nachdachte. Er machte sich auf den Rückweg und fand Suzanne noch in der exakt der gleichen Position vor, wie er sie zurückgelassen hatte. Er legte er das Blatt in seine Handfläche, formte es zu einer Art Teller, gab die Kekse hinein und knetete sie dann in der Blatthülle zu Krümeln. Danach gab er vorsichtig ein klein wenig Wasser hinzu und knetete noch einmal vorsichtig nach, bis sich das Ganze zu einer Art Brei vermengt hatte. Schließlich setzte er sich vor Suzanne, die ihn während der ganzen Zeit kaum wahrgenommen hatte, in den Schneidersitz und stupste sie leicht am Knie.

   Sie reagierte indem sie die Augen öffnete und mit trübem Blick fixierte, was er in den Händen hielt. „Was ist das? Was hast du vor?“, fragte sie unüberhörbar misstrauisch.

   „Was wohl?“ Marc lächelte andeutungsweise. „So rutscht es besser und damit ich sicher sein kann, dass du nichts verschwinden läßt, werde ich dich füttern.“

   „Wirst du nicht.“

   „Und ob ich das werde.“ Marc griff in den Brei und hielt Suzanne anschließend die Finger vor´s Gesicht. „Na los, zier dich nicht, ich hab´ echt Angst, dass du mir hier völlig zusammenbrichst.“

   „Das hättest du verdient“, murmelte Suzanne, während sie noch einmal angewidert auf die Pampe in Marcs Fingern blickte, bevor sie sich überwand und sich von ihm mit den Fingern in kleinen Happen füttern ließ.

   Nachdem sie fertig waren nickte er ihr anerkennend zu und säuberte sich die Hände kurzerhand an seinen Hosenbeinen. Erst danach fielen ihm seine Handtuchersatzblätter wieder ein, aber da war es eh schon zu spät. „Wie fühlst du dich?“, erkundigte er sich.

   „Das war voll eklig“, kommentierte Suzanne mit schwacher Stimme, wobei ihm zuerst nicht ganz klar war, ob sie das Füttern oder seine unkonventionelle Säuberungsaktion meinte. „Essen heilt nicht alle Wehwehchen. Hat dir das noch niemand gesagt?“

   „Okay, ich versteh´ schon. A pro pos, läßt du mich mal die Wunde ansehen", wechselte er das Thema und nachdem Suzanne ihn mehrere Sekunden stumm gemustert hatte, legte sie sich hin und drehte sich wortlos auf die Seite.

   Vorsichtig schob er ihre Bluse beiseite und starrte entsetzt auf ihr hinteres Schulterblatt. Die Stelle hatte sich inzwischen großflächig entzündet, hob sich deutlich von der gesunden Hautfläche ab und nässte an den bläulichrot gefärbten Rändern. Er kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. In der Mitte des Entzündungsherdes war ein kleiner schwarzer Punkt zu erkennen. Vorsichtig tastete er mit dem Finger über die Wölbung und spürte wie Suzanne zusammenzuckte.

   „Sorry“, murmelte er leise und hoffte, dass seine Stimme die Besorgnis, die er in diesem Moment fühlte, nicht allzu deutlich verriet.

   „Was ist es?", fragte sie.

   „Ich bin nicht sicher", antwortete er ehrlich. „Sieht aus, als hätte dich irgendein Vieh erwischt."

   „Oh Gott, hoffentlich keine Giftschlange?" Er hörte die Angst, die hinter dieser Äußerung stand.

   „Nein, nein, keine Schlange. Keine Sorge", versuchte er zu beruhigen.

   „Wie kannst du dir da so sicher sein?", fragte sie, während der nächste Fieberkrampf sie schüttelte. „Ich meine, du…“

   „Meine Mutter starb an einem Schlangenbiss", unterbrach er sie nur äußerlich ruhig. „Ich weiß, wie sowas aussieht“, fuhr er geistesabwesend fort, während sein Gehirn auf Hochtouren lief, bis er schließlich eine stumme Entscheidung fällte. Er war sich bewusst, dass sein Plan komplett irre war, wenn nicht sogar wahnsinnig. Wenn etwas schiefging machte er womöglich alles noch schlimmer, doch er sah keine andere Lösung. Er räusperte sich mehrmals. „Suzanne?" Seine eigene Stimme kam ihm fremd vor.

   „Ja?"

   „Egal, was dich da erwischt hat, es hat auf jeden Fall Probleme verursacht. Da hat sich ein Abszess gebildet und so wie es aussieht hat der sich jetzt blöderweise verkapselt. Wenn wir nicht schnell dafür sorgen, dass der Eiter abfließen kann, wird das Fieber weiter steigen und es wird noch schlimmer mit dem Schüttelfrost.“

   Ihre Augen weiteten sich ungläubig. „Was willst du damit sagen?“

   Er holte tief Luft und räusperte sich abermals kräftig. „Meinst du, du könntest es aushalten wenn ich die Wunde öffne?"

   „Du meinst, du willst…?“ Der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Nein, das … das meinst du nicht im Ernst, oder?“

   Er wandte den Blick ab und zuckte wortlos mit den Achseln.       

   „Hast du sowas schon mal gemacht?"

   Eine durchaus berechtigte Frage. Und doch wollte er sie lieber nicht beantworten. „Nicht bei Menschen", gab er nach einer Pause leise zu und sah, wie sich ihre Pupillen daraufhin entsetzt weiteten.

   „Gott,  ich weiß nicht…"               

   „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber bitte vertrau mir. Wenigstens nur noch dieses eine Mal. Wenn es nicht wirklich nötig wäre, würde ich es nicht von dir verlangen, glaub mir."

   „Ja, aber ich…“ Suzanne atmete zweimal tief durch. „Oh Gott, ich muss völlig irre sein, aber okay, tu es. Aber lass mich ja nicht im Stich, hörst du?"

   „Versprochen.“ Marc wühlte im Rucksack nach dem Verbandszeug. Dabei fiel ihm Charlies Flachmann in die Hände. Er holte ihn heraus und musterte ihn nachdenklich.

   „Du willst dir aber jetzt keinen Mut antrinken, oder?“, erkundigte sich Suzanne zweifelnd.

   „Keine Angst. Eher das Gegenteil ist er Fall.“ Er gab sich einen Ruck und reichte die Flasche an Suzanne weiter. „Ich würde mir wünschen, dass du das trinkst."

   „Was soll das?“ Trotz ihres schlechten Zustandes funkelte Suzanne ihn wütend an. „Willst du mich besoffen machen, oder was?"

   „So ähnlich. Ein Rausch wird hoffentlich den Schmerz etwas betäuben. Es wird wehtun, machen wir uns nichts vor." Marc öffnete den Verbandskasten und sondierte, was ihm zur Verfügung stand. Viel war es nicht, aber es musste genügen. Er griff nach dem steril verpackten Skalpell und wog es nachdenklich in seiner Handinnenfläche. Jetzt bewährte es sich, dass Charlie darauf bestanden hatte, die Verbandskästen der Stationsfahrzeuge etwas aufzurüsten, wie er es damals ausgedrückt hatte. „Man kann ja nie wissen, was einen da draußen erwartet“, wiederholte er unbewusst flüsternd die Worte seines Großvaters.

   „Was?“ Suzanne starrte ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.

   „Nichts, schon gut“, sagte er schnell und fragte dann: „Wie sieht´s aus? Bist du bereit?“

   „Nein, zum Teufel. Das bin ich verdammt nochmal nicht“, entgegnete sie schroff, drehte am Verschluss des Flachmannes, setzte ihn ohne weiter darüber nachzudenken an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Ein heftiger Hustenanfall war die Folge. Als sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, warf sie ihm einen krititschen Blick zu. „Du bist so ruhig“, stellte sie fest. Ihre Stimme verriet, dass sie immer noch daran zweifelte, dass sein Plan vernünftig und richtig war.

   „Wenn du dich da mal nicht irrst.“ Er grinste schief. „Ehrlich gesagt, hab' ich eine Scheißangst."

   „Na toll.“ Suzanne leerte den Rest aus der Flasche in einem Zug und warf die Flasche danach angewidert von sich. „Ich glaube, ich würde mich wohler fühlen, wenn du das nicht gesagt hättest.“ Sie schwankte ein wenig und suchte mit einer Hand Halt an der unebenen steinigen Rückwand der Höhle. „Hoppla.“

   Marc beobachtete sie genau und als sich jetzt ein unsicheres Lächeln auf ihren Zügen zeigte, wusste er, dass der Inhalt aus Charlies Flachmann bereits Wirkung zeigte.

   „Hör mal, ich glaub' mir geht's schon etwas besser", verkündete sie dann mit überrachend kräftiger Stimme. „Vielleicht ist es ja doch nicht nötig. Zumindest nicht direkt. Wenn ich dir verspreche, dass ich direkt nach unserer Rückkehr zum Arzt…"

   „Suzanne, wir beide wissen, dass das ist nur am Alkohol liegt“, antwortete er trocken. „Ich… Oh Mann, bitte.“ Er deutete auf den am Boden ausgebreiteten Schlafsack. „Am besten, du legst dich auf den Bauch. Wenn du willst, kannst du den Rucksack als Kopfkissen nutzen.“ Er nickte ihr aufmunternd zu. „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich würde es jetzt wirklich gerne hinter mich bringen.“

   Schweigend zog Suzanne ihre Bluse aus und folgte seiner Aufforderung.

   Er ging neben ihr auf die Knie und betastete erneut mit äußerster Vorsicht die Wundränder. „Gut, ich werde jetzt anfangen. Bist du bereit?"

   „Hm..."

   „Falls dir übel werden sollte, lass dich einfach fallen. Wenn du bewusstlos bist, ist es auch für mich einfacher."

   „Nun mach schon endlich", kam es undeutlich von unten.

   Marc streifte sich die Einmalhandschuhe aus dem Verbandskasten über, löste das Skalpell aus der Verpackung und setzte schließlich unendlich vorsichtig den ersten Schnitt an. Bereits nach wenigen Millimetern quoll der Eiter dick und zähflüssig aus der noch kleinen Öffnung. Marc hielt inne und rang kurz mit sich, doch dann fuhr er entschlossen mit ruhiger Hand fort. Wenn schon, dann wollte er es richtig machen und dazu durfte er den Schnitt auf gar keinen Fall zu klein ansetzen. Nachdem er die Wunde weiter geöffnet hatte, legte er das Skalpell auf Suzannes Rücken ab, da ihm dies noch als der sauberste Ort in unmittelbarer Umgebung schien und er wusste nicht sicher, ob er das Gerät nicht doch noch einmal zu Hilfe nehmen musste. Er fing das ausgetretene Sekret mit einer Mullkompresse auf und säuberte danach den Wundherd gründlich von innen nach außen so gut es ihm mit den bescheidenen, zur Verfügung stehenden, Mitteln möglich war.

   Er war nicht naiv: Trotz Handschuhen, steril verpacktem Skalpell und Kompressen fand diese Operation, so man sie denn überhaupt so nennen konnte, unter miserablen Voraussetzungen statt. Steril war definitiv etwas anderes. Er konnte nur hoffen, dass er durch das Öffnen der Wunde nicht noch mehr Schaden anrichtete, als er es eh schon getan hatte. Er wusste, diese Wunde musste von innen heraus zuheilen und durfte nicht genäht werden. Salbe und ein oberflächlich aufzusetzender Verband waren die einzigen Optionen, die er hatte und somit war in dieser Umgebung die Gefahr einer Infektion unverhältnismäßig groß.

   Marc war überrascht, wie gut er funktionierte. Er arbeitete konzentriert und seine Hände zitterten in keinster Weise. Was Suzanne anging, so machte sie ihre Sache gut. Verdammt gut, sogar. Hin und wieder sog sie scharf die Luft ein und ihre Finger krallten sich fest in den Rucksack, doch sie sagte keinen Ton, obwohl ihr Körper total angespannt war. Er war noch mitten bei der Arbeit, als er spürte, wie plötzlich ihre Glieder erschlafften. Schnell kontrollierte er ihren Puls und murmelte dann erleichtert: „Gott sei Dank."

   In aller Ruhe brachte er nun seine Arbeit zu Ende. Am Ende gab er einen dicken Klecks Salbe auf eine neue Kompresse und legte sie auf den Wundherd. Zu guter Letzt verband er die Wunde noch großflächiger und fixierte den Verband mit Pflaster von einer Rolle. Geschafft! Am liebsten hätte er die Stelle ja mit einem Rundumverband versehen, doch das war an dieser strategisch ungünstigen Stelle leider nicht möglich.

   Aufatmend legte er sich neben Suzanne auf den Boden und deckte sie mit einem der Schlafsäcke, dessen Reißverschlüsse er zuvor alle geöffnet hatte, zu. Jetzt konnte er nur noch abwarten und beten. Und aufpassen! Er war zwar müde, aber er durfte Suzanne nicht aus den Augen lassen. Es war zwar unwahrscheinlich, aber es bestand eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass sie aus der Bewusstlosigkeit nicht wach wurde, sondern stattdessen in ein Koma glitt. Niemand konnte sagen, wie ihr geschwächter Körper auf die immense Kraftanstrengung in Verbindung mit dem Alkohol reagierte? Gott, das wäre in ihrer Situation tatsächlich der Supergau.

   Alle paar Minuten kontrollierte er Suzannes Puls und die Regelmäßigkeit ihrer Atemzüge. Beides durfte sich auf gar keinen Fall verändern. Er tränkte eine weitere Kompresse mit Wasser und kühlte hiermit auch immer wieder ihre Stirn. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Verdammt, vier Stunden waren bereits vergangen, seitdem er den Abszess gespalten hatte. Das war definitiv zu lang, viel zu lang. Immerhin hatte sie keinerlei Narkotika erhalten.

   Gerade als er diesen Gedanken hatte und sich fragte, was er tun sollte, öffnete Suzanne ihre Augen: „Ist es vorbei?", fragte sie schwach.

   Marc verspürte grenzenlose Erleichterung und lächelte kurz: „Schon seit vier Stunden. – Kannst stolz auf dich sein, du warst klasse!"

   „Du aber auch", entgegnete sie matt. „Immerhin lebe ich noch. Aber warum ist mir immer noch so kalt?"

   „Das Fieber muss erst runter. Du musst schon noch ein bisschen Geduld haben.“ Er zögerte kurz, dann gab er sich einen Ruck. „Warte..." Er breitete seinen Schlafsak zusätzlich über sie aus.

   „Aber…“ Sie zögerte kurz. „Was ist mit dir?"

   „Ich könnte... Na ja, wenn du nichts dagegen hast, könnte ich versuchen, dich mit meinem Körper warmzuhalten", schlug er nach einem kurzen Zögern etwas verlegen vor. „Davon profitieren wir beide. Ich bekomme auch ein Stück vom Schlafsack ab und du frierst hoffentlich nicht mehr.“

   „Du meinst..."

   „Schon gut, vergiss es", sagte er schnell. „War`n blöder Gedanke. Die Schlafsäcke werden reichen. Du krabbelst in den einen rein und ich decke dich mit dem anderen zu. Wirst sehen, dir wird es schon bald besser gehen. Für mich ist es sowieso besser wenn ich wachbleibe und auf dich achtgebe."

   „Marc?"

   „Ja?" Aufmerksam blickte er sie an.

   „Bitte mach, dass ich nicht mehr friere."

   Unwillkürlich musste er schmunzeln. „Okay, ich werd' tun was ich kann." Umständlich verband er die beiden Schlafsäcke mit den Reißverschlüssen miteinander so, dass sie zu einem großen Schlafsack wurden. Mit gemischten Gefühlen schaute er zu, wie Suzanne hineinkroch, bevor er ihr schließlich folgte und seinen Körper neben sie sortierte. Scheiße! Er hätte gedacht, dass ihnen mehr Platz zur Verfügung stünde. Es war eng. Verdammt eng!

   „Marc?“ Suzannes Stimme klang dünn und verletztlich.

   „Ja?“

   „Es hört nicht auf. Ich friere immer noch.“

   „Okay…“ Nach einem kurzen Zögern fasste er sich endlich ein Herz und rückte ganz dicht an Suzanne heran. Er schlang einen Arm um sie und spürte augenblicklich, wie sich ihr, immer noch fieberheißer Körper, ganz selbstverständlich eng an den seinen schmiegte. Ein durchaus angenehmes Gefühl, auch wenn es ihm mit Sicherheit den Schlaf rauben würde. Außerdem, so hielt er sich vor Augen, war ihre Reaktion ganz normal. Sie wollte nicht mehr frieren und ihr Körper reagierte lediglich auf die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Völlig normal, sagte er seinem dummen Gehirn immer wieder. Suzanne handelte instinktiv und es war absolut idiotisch, da etwas anderes hinein interpretieren zu wollen. „Besser so?“

   „Danke", wisperte sie kaum verständlich, bevor sie fast umgehend wieder einschlief.

   „Nichts zu danken", entgegnete er rau. Und als er sicher war, dass die ihn nicht mehr hörte: „Ist mir ein Vergnügen."

   Während der nächsten Stunden kühlte er noch mehrfach ihre Stirn und wechselte sogar einmal den Verband, ohne dass Suzanne wach wurde. Der Morgen dämmerte bereite, bevor er endlich selber vor Erschöpfung in einem unruhigen Schlaf fiel.

 

51. Kapitel

 

   John hatte sein Frühstück bereits so gut wie beendet, als Gilian die Terrasse betrat. Während er nach seiner Tasse griff und einen Schluck Kaffee nahm, nutzte er den kurzen Moment, um sie unauffällig unter halbgeschlossenen Lidern hervor zu beobachten. Sie wirkte deprimiert, nervös und irgendwie auf eine anrührende Weise gleichzeitig zurückhaltend, fast schüchtern. Sie war blass und die dunklen Schatten um ihre Augen verrieten ihm, auch ohne dass sie die Tatsache extra erwähnte, dass sie viel zu wenig geschlafen hatte. John spürte, wie sich sein Beschützerinstinkt zu Wort meldete, doch er drängte dieses Gefühl energisch zurück und rief sich stattdessen in Erinnerung, wen er da vor sich hatte. Die Frau war eine Botschafterin der vereinigten Staaten und er spielte definitiv nicht in ihrer Liga. Was sie beide einte war lediglich die Sorge um ihre Kinder.

   Obwohl … in Jeans, T-Shirt und Flip-Flops wirkte Gilian eigentlich wie eine ganz normale Frau. Ihr Haar war noch feucht vom Duschen und wurde lediglich von einem schlichten schwarzen Band zurückgehalten. Außerdem war sie gänzlich ungeschminkt, wie er am Rande überrascht feststellte. Während Gilian zögernd, fast so als wolle sie ihn nicht stören, auf die Sitzgruppe zusteuerte, wappnete John sich für den folgenden Disput, und er war sich sicher, dass es einer werden würde.

   „Guten Morgen“, begrüßte sie ihn leise.

   „Guten Morgen“, antwortete er und stellte die Tasse zurück auf den Tisch und wies auf einen Stuhl. „Bitte, setzten Sie sich. Kaffee? Ich hoffe, das Zimmer ist in Ordnung für Sie. Falls Sie noch etwas brauchen…“

   „Nein, nein, alles gut“, fiel Gilian ihm eilig ins Wort, während sie John gegenüber Platz nahm. „Ehrlich, mit dem Zimmer ist alles bestens. Wenn ich auch nicht besonders gut geschlafen habe", schränkte sie ein.

   „Verständlich. Ich auch nicht." Er erhob sich und kam bedächtig um den Tisch herum.

   Gilian warf ihm einen verwunderten Blick zu und John fühlte wie sein schlechtes Gewissen schlagartig wuchs. Er ahnte, dass sie mit seinen Plänen für die Fortsetzung des Tages nicht einverstanden sein würde.

   „Ich weiß, das wirkt jetzt entsetztlich unhöflich, aber ich muss los“, verkündete er. „Ich möchte, dass Sie sich wie zu Hause fühlen, in Ordnung? Für den Fall, dass Sie doch irgendetwas benötigen, geben Sie einfach Charlie Bescheid."

   Gilian wirkte verwirrt. „Was haben Sie vor?"

   „Ich werde nach unseren Kindern suchen“, antwortete er, während er sich auf ihren Widerspruch einstellte und den forschenden Blicken auswich. „Die beiden werden vermutlich irgendwo da draußen festgehalten und ich will verdammt sein, wenn ich…“

   „Ja aber… ich dachte… Wir wollten doch zusammen auf die Suche gehen“, kam es promt entrüstet von der anderen Seite des Tisches. Gilian schob ihren Stuhl ruckartig nach hinten, baute sich vor ihm auf und fixierte ihn mit blitzenden Augen. „Ich fass´ es nicht. Wenn ich nicht zufällig aufgetaucht wäre, hätten Sie sich tatsächlich ohne mich auf den Weg gemacht. Sagen Sie nichts, ich sehe es Ihnen an. Verdammt nochmal, John, das ist unfair!“

   „Ho, ho, ho…“ John hob abwehrend eine Hand. „Sorry, aber so lautete unsere Abmachung nicht. Ich habe Sie hierher mitgenommen, ja, aber ich hatte nie vor, Sie mit raus in den Busch zu nehmen. Dort draußen, das ist nichts für … für eine Frau wie Sie."

   Gilian stemmte die Hände in die Taille: „Das müssen Sie schon meine Sorge sein lassen, John. Ich  werde Sie begleiten. Punkt."

   „Gilian...bitte."

   „Nein. Verdammt, John, meine Tochter, mein einziges Kind ist verschwunden. Zusammen mit ihrem Sohn. Ich … ich dachte, Sie verstehen mich. Wir sind doch in derselben Lage. Ich würde verrückt, wenn Sie mich hier zurücklassen.“ Gilians Wut wandelte sich binnen Sekunden in Verzweiflung und sie verlegte sich aufs Flehen. „Ich schwöre, Sie unterschätzen mich. Bitte, ich werde Ihnen auch garantiert nicht zur Last fallen.“

   John kapitulierte vor ihren weit aufgerissenen blauen Augen. „Okay, gut, dann kommen Sie in drei Gottes Namen eben mit. Aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen: Das Gebiet ist sehr weitläufig, und die Chance, dass wir zufällig über die beiden stolpern ist eher gering."

   „Aber wir tun wenigstens etwas, nicht wahr?"

   „Richtig, aber ich würde es trotzdem besser finden, wenn Sie hier blieben", versuchte er noch einmal sie zum Bleiben zu bewegen. „Es könnte immerhin sein, dass die Entführer sich wieder melden."

   „Charlie ist doch hier. Wenn sich jemand meldet, wird er uns anfunken. Und in der Botschft wartet Gregory."

   Er strich sich durchs Haar. „Sie sind fest entschlossen, was?" Ein angedeutetes Lächeln strich über seine Züge. Bei Gott, ja, er verstand sie. Trotzdem, die Vorstellung sich alleine mit Gilian Banks auf die Suche zu machen, machte ihn noch nervöser als er es ohnehin schon war.

   „Allerdings."

   „Es könnte aber sein, dass ich spontan entscheide über Nacht zu draußen bleiben", startete er einen letzten Versuch.

   „Na und? Wir sind doch erwachsen, oder etwa nicht?" Kämpferisch reckte sie ihr Kinn nach vorn. „Damit werden wir ja wohl klarkommen, oder?“

   „Sicher, so habe ich das nicht gemeint."

   „Das weiß ich doch."

   Er gab endgültig klein bei. „Gut, in Ordnung. Holen Sie Ihre Sachen. Ich mache inzwischen den Jeep startklar.“

   „Sie warten auf mich? Ganz sicher?“ Sie kniff die Augen zusammen und fixierte misstrauisch seine Gesichtszüge.

   Dieses Mal fiel sein Lächeln eher gequält aus: „Hab´ ich eine Wahl?“

**********

   „Wie geht´s jetzt weiter?"

   Mitch zuckte zusammen, als ihn plötzlich im Waschraum des Stützpunktes jemand in seinem Rücken ansprach. Scott stand hinter ihm und blickte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Trotz im Blick an. Mitch bedeutete seinem Komplizen mit einer Handbewegung den Mund zu halten und blickte erst in jede Duschkabine bevor er antwortete: „Wie wohl? Wir müssen wohl oder übel abwarten bis die Botschafterin das Geld zusammengekratzt hat. Sie wollte eine Woche haben. Gegeben hab´ ich ihr 4 Tage."

   „Was, wenn sie die Polizei einschaltet?"

   „Das wird sie nicht.“ Mitchs Lippen verzogen sich zu einem schmalen, bösen Lächeln. „Glaub mir.“

   „Und wenn die Kids inzwischen wieder auftauchen?"

   „Was soll die scheiß Fragerei?“, zischte Mitch scharf. „Kriegst du etwa kalte Füße, oder was?" Misstrauisch kniff er die Augen zusammen und musterte seinen Kumpel.

   „Nein! Nein, keine Sorge. Ich meinte ja nur."

   „Die Antwort liegt auf der Hand. Wir werden unsere Augen aufhalten und aufpassen, dass das nicht passiert."

   „Und wenn doch?"

   „Schnauze, Mann", fauchte Mitch jetzt extrem ungehalten. „Du nervst. Wir ziehen das Ding durch – auf Biegen und Brechen. Das steckt `ne Menge Kohle für jeden von uns drin. Das sollte sogar dir Flachpfeife klar sein. A pro pos: Kohle ist das Stichwort. Du musst heute noch raus zum Steinbruch. Wir brauchen neuen Stoff. Ben ließ durchblicken, dass die Anfragen sich häufen und ich will mir diesen und natürlich auch den anderen Geschäftszweig warm halten. Alles zusammen genommen könnte uns auf Jahre hinaus sanieren.“ Er grinste selbstzufrieden.

   „Wieso ich?“ Scott wirkte nicht gerade begeistert. „Was ist mit dir?“

   „Ich hab´ gleich Dienst.“

   Scott verdrehte die Augen. „Na gut. Wenn´s sein muss.“

   Mitch störte es nicht im Geringsten, dass Scott offensichtlich keine große Lust auf einen neuerlichen Ausflug in den Busch hatte. „In Ordnung“, kommentierte er knapp. „Halt unterwegs die Augen auf. Wer weiß, vielleicht stolperst du ja zufällig über unsere zwei Hübschen."

**********

   Das Erste was Suzanne wahrnahm, als sie die Augen aufschlug, war, dass es in ihrem Kopf nicht mehr so hämmerte. Erst danach wunderte sie sich über das Gewicht, das schwer auf ihrer einen Seite lastete. Vorsichtig tastete sie danach und ihre Hand traf zu ihrer Überraschung auf Haut. Verwundert drehte sie sich ein wenig, linste über die Schulter und erkannte Marc, der unmittelbar hinter ihr lag. Er hatte einen Arm um sie geschlungen, fast so als wollte er sie beschützen. Bei der Vorstellung, dass es so sein könnte, wurde ihr ganz warm, obwohl es natürlich nur ein Gedanke war. Vielleicht sogar Wunschdenken? Blödsinn, rief sie sich im nächsten Moment zur Ordnung. Marc hatte sich im Schlaf gedreht und dabei war sein Arm auf ihr gelandet. Das war alles, aber es erklärte immerhin das Gewicht auf ihrer Taille. Marcs Atem ging ruhig und gleichmäßig und er schien noch tief und fest zu schlafen.

   Suzanne griff nach Marcs Hand, die ruhig und warm auf ihrem Bauch lag, und hob sie sachte an, während sie sich behutsam weiter umdrehte; sorgfältig darauf bedacht, ihn bei der Aktion nicht zu wecken. Das Procedere gestaltete sich ein wenig kompliziert, doch schließlich hatte sie es geschafft und nutzte die Gelegenheit, Marc einmal in Ruhe, ohne dass er sich dessen bewusst war, beobachten zu können. Schlafend war in seinen Zügen nichts von der Bitterkeit zu sehen, die er in wachem Zustand so oft an den Tag legte. Eher das Gegenteil war der Fall und das überraschte sie: Er strahlte eine ruhige Ausgeglichenheit aus und wirkte dabei trotzdem irgendwie verletztlich. Keine Spur war zu sehen von dem leicht spöttischen Zug, der immer um seine Mundwinkel spielte, und der sich vertiefte, bevor er wieder mal einen seiner zynischen Kommentare losließ.

   Sie war so sehr in Marcs Anblick vertieft, dass sie gar nicht mitbekam, dass sich seine Körperspannung peu à peu verändert hatte. Plötzlich registrierte sie erschrocken, dass seine brauen Augen genau in ihre blauen blickten. Wann zum Teufel hat er die Augen aufgeschlagen, fragte sie sich gelinde entsetzt, während sie sofort nach der Ironie und dem unvermeidlichen Spott in seinem Blick suchte. Doch da war nichts, registrierte sie gleich darauf erleichtert. Kein Spott, nicht der geringste Hauch von Ironie. Ernst und ruhig ruhten seine Augen auf ihrem Gesicht, während er zu warten schien. Du lieber Himmel, worauf?

   „Guten Morgen", begrüßte sie ihn nach einer schier endlos andauernden Verlegenheitspause mit einem zaghaften Lächeln.

   „Na ja, ehrlich gesagt ist es schon früher Nachmittag“, brummte er, während er abrupt seinen Arm zurückzog, und krampfhaft versuchte ihn in der engen Behausung der miteinander durch die Reißverschlüsse verbundenen Schlafsäcke irgendwo anders zu platzieren, was gar nicht so einfach war. „Geht es dir besser?", erkundigte er sich, als er endlich eine Position gefunden hatte, die für ihn okay war.

   „Viel besser", antwortete sie und lächelte wieder. „Nachmittag? Ehrlich jetzt? Woher willst du das wissen?“

   „Weil ich vor `ner Weile schonmal wach war und auf die Uhr gesehen habe.“ Er hob erklärend seinen Arm und nickte in Richtung seines Handgelenkes. „Das gute Stück ist wasserdicht und stoßfest.“

   „Verstehe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wahnsinn, kaum zu glauben. Haben wir wirklich so lange geschlafen?“

   „Glaub´ es ruhig. Ich hatte das auch nicht vor, aber der gestrige Tag hat uns beiden wohl doch einiges abverlangt. Das Dumme ist nur, dass wir dadurch verdammt viel Zeit verloren haben.“

   „Hm…“, murmelte Suzanne schläfrig und horchte in sich hinein. Merkwürdig, dass sie in der Tat jede Menge Zeit verloren hatten, störte sie weit weniger, als sie es für möglich gehalten hätte.

   Es entstand erneut eine Verlegenheitspause, die Marc schließlich mit einem rauen Räuspern beendete. „Kannst du dich eigentlich noch daran erinnern warum ... nun ja, warum ich hier drin bin?", erkundigte er sich betont beiläufig. „Mit dir … bei dir?“

   „Nein", log sie frech und freute sich diebisch über den leichten Rotschimmer, der sich daraufhin auf seinem Gesicht ausbreitete. „Erzähl“, forderte sie ihn auf und hatte Mühe, ernst dabei zu bleiben.

   „Wow… Okay… Tja, na ja, du hattest Fieber und diesen fürchterlichen Schüttelfrost und... Dir war so kalt und da…"

   „Lass gut sein", erlöste sie ihn. „Es war ein Scherz. Ich erinnere mich."

   „Boah, gut." Er atmete sichtlich erleichtert auf.

   „Ich danke dir", fügte sie sehr ernst hinzu. „Für das, was du da für mich getan hast.“

   „Es war das Mindeste, was ich tun konnte. Von daher: Nicht nötig."

   „Oh doch. Und ob das nötig ist. Ohne deine Operation ... wer weiß, wie es mir inzwischen gehen würde? Was war es denn? Ein Abszess, ja, aber woher kam der so plötzlich?"

   „Keine Ahnung. Im Herd habe ich einen Stachel gefunden. Womöglich von einem Skorpion. Ich weiß es nicht. Aber es scheint so, als hättest du jetzt das Schlimmste überstanden. Und das ist für mich die Hauptsache."

   „Gott sei Dank."

   „Ja.“ Marc nickte und wieder entstand eine peinliche Pause. Schließlich begann Marc umständlich, sich aus dem Schlafsack herauszuwinden, ohne Suzanne dabei zu sehr auf die Pelle zu rücken. Nachdem er es geschafft hatte sagte er: „Du musst dich aber trotzdem noch schonen. Daher wollte ich dir vorschlagen, dass wir heute noch hierbleiben."

   „Okay, einverstanden."

   Suzanne registrierte Marcs verwunderten Blick. Vermutlich hatte er mit Widerspruch gerechnet und wunderte sich jetzt über die ungewöhnliche Friedfertigkeit, die sie ihm, trotz seines gestrigen Geständnisses, plötzlich wieder entgegenbrachte. Kunststück. Sie war ja selber erstaunt über sich.

   „Hör mal, ich … ich verschwinde mal kurz nach draußen“, sagte er jetzt, als müsste er sie um Erlaubnis bitten. „Bin gleich wieder da."

   „Marc?" Mist, eigentlich hatte sie gar nichts mehr sagen wollen, doch dann war ihr sein Name einfach herausgerutscht. Als er sich jetzt prompt zu ihr umdrehte biss sie sich auf die Lippen.

   „Was ist los?“, fragte er sanft, als sie nichts weiter sagte.

   „Nichts, ich…“ Oh Mann, sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie aussah. Zerzaust, mitgenommen und völlig verschwitzt lag sie in ihrem Schlafsack und blickte mit tiefen Zweifeln in den Augen in seine Richtung. „Du … du würdest mich doch hier nicht alleine lassen, oder?" Sie bemerkte, dass ihre Stimme leicht zitterte und ärgerte sich maßlos. Zu offensichtlich wollte sie ihm ihre Verletzlichkeit dann doch nicht demonstrieren, doch es war bereits zu spät.

   Marc kam zurück und ging neben ihrem Lager in die Knie. Es sah aus, als wollte er spontan nach ihrer Hand greifen, doch zu ihrem Bedauern hielt er sich im letzten Augenblick zurück, legte stattdessen die Unterarme auf den Oberschenkeln ab und verschränkte die Hände ineinander.

   „Suzanne, denk doch mal nach", forderte er sie ruhig auf. „Hätte ich das nicht schon längst tun können, wenn ich das gewollt hätte?"

   „Ja schon, aber da ging es mir noch schlecht. Jetzt hingegen..."

   „Ich weiß, worauf du hinauswillst", unterbrach er sie. „Aber da liegst du falsch. Ich werd' dich heil zurückbringen. Das ist ein Versprechen und meine Versprechen pflege ich zu halten. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werd´s tun, und wenn es das Letzte ist, was ich tue, okay?"

   „Okay", antwortete sie sehr leise.

   „Hey, hab´ ein bisschen Vertrauen zu mir. Nur noch einmal. Bitte. Auch wenn's schwerfällt. Ich tu´ was ich kann, aber bei der Mission werde ich trotzdem deine Hilfe brauchen. Alleine krieg´ ich das nicht gebügelt."

   „In Ordnung, ich … Ich geb´ mein Bestes und ich vertraue dir."

   „Gut, sehr gut." Er griff jetzt doch nach ihrer Hand und übte einen leichten Druck aus. „Mach dir keine Sorgen, gemeinsam kriegen wir das hin."

   Suzanne nickte und spürte tief im Inneren, dass sie ihm das tatsächlich glaubte. Doch da war noch etwas, das sie beschäftigte. „Was passiert danach? Ich meine, wenn wir zurück sind? Was dann?"

   Er ließ ihre Hand wieder los, zuckte mit den Achseln und grinste schief: „Dann? Die Antwort ist leicht. Ich hoffe, du wirst mir ein wenig Zeit geben, damit ich mich gepflegt vom Acker machen kann. Ich dachte, das hätte ich schon erwähnt.“

 

   „Was? Du willst echt abhauen?“ Ja, verdammt, er hatte das schonmal angedeutet, aber sie hatte das nicht ernst genommen. Sie hatte geglaubt, er hätte das nur aus der Wut heraus gesagt. Die Vorstellung, dass er das tatsächlich in Betracht zog, gefiel ihr irgendwie gar nicht. „Ernsthaft?“

 

   „Klar. Was denkst du denn? Dass ich abwarte bis man mich festsetzt?“

   „Das wird nicht passieren. Ich werde dich nicht verraten.“

   „Nett von dir, aber glaub mir, es ist besser so. Es ist ja nicht nur das hier.“ Er machte eine allumfassende Handbewegung. „Ich hab' einfach in letzter Zeit zuviel Scheiße gebaut. Da bleibt immer was hängen. Selbst wenn dieser letzte Bockmist hier nicht publik wird.“

   „Aber..."

   Es war deutlich zu beobachten, wie sich seine Gesichtszüge wieder verschlossen. Beinahe ruckartig stand er auf. „Sorry, ich muss jetzt wirklich mal raus, du weißt schon..."

**********

   Nach der Unterhaltung mit Suzanne hatte Marc beinahe fluchtartig die Höhle verlassen. Draußen stand die Sonne bereits hoch am Himmel und brannte unbarmherzig auf die Steppe ringsumher. Ein Stück weit vom Eingang entfernt verrichtete er seine Notdurft und schlenderte zögernd zurück. Anstatt hinein zu gehen, kletterte er auf den höchsten Punkt des Steinbruches. Dort blickte er sich zuerst sorgfältig in alle Richtungen um, dann schaute er hoch zum Himmel, blinzelte kräftig und atmete einmal tief durch. Er brauchte einen Moment für sich, um ihn Ruhe nachdenken zu können. Unbedingt. Er musste Entscheidungen treffen, überlegen, wie es weitergehen sollte, und das alles möglichst ohne Suzannes Einwände. Er schmunzelte still. Ihre Einwände würde er noch früh genug zu hören bekommen, das war so sicher, wie das Amen in der Kirche und es war besser, wenn er sich dann die passenden Gegenargumente bereits zurechgelegt hatte.

   Die Situation, wie sie sich aktuell darstellte, machte ihm schwer zu schaffen. Er war längst nicht so zuversichtlich, wie er sich eben Suzanne gegenber gegeben hatte und hoffte inständig, dass er die ihr gegebenen Versprechen würde halten können. Wenn er sich die Fakten vor Augen führte war klar, dass das nicht einfach werden würde. Grob geschätzt waren sie immer noch gut zwei Tagesmärsche – die Umwege eingerechnet – von der Station entfernt. Sie hatten so gut wie kein Wasser mehr, Suzanne war längst noch nicht wieder auf dem Damm und außerdem saßen ihnen wahrscheinlich immer noch Mitch und sein dämlicher Kumpel im Nacken. Alles in Allem keine guten Vorzeichen.

   Er machte sich große Sorgen: Vor allem Anderen mussten sie dringend ihre Wasservorräte auffüllen. Das nächste Wasserloch war allerdings mindesten vier bis fünf Stunden entfernt. Zu allem Überfluss lag es in der entgegengesetzten Richtung der Station. Er seufzte tief. Wenn er sich alleine auf den Weg machte, wäre der Weg vielleicht in insgesamt sieben Stunden zu schaffen, aber so wie er Suzanne kannte, würde sie sich mit Sicherheit strikt weigern, wenn er ihr vorschlug, hier auf ihn zu warten. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Es war eine vertrackte Situation. Nahm er sie in ihrem geschwächten Zustand mit, riskierte er, dass sie ihm unterwegs völlig zusammenbrach und wenn nicht… Konnte er wirklich sicher sein, dass der Steinbruch ein sicheres Versteck war?

   Während Marc noch über diese Frage nachdachte, erregte eine Staubwolke am Horizont seine Aufmerksamkeit. Er kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin. Die Hitze ließ die Luft flimmern, was dazu führte, dass manches in der Entfernung verschwamm, doch es kam ihm so vor, als käme die Staubwolke stetig näher. Was zum Teufel war das? Er hielt seine Hand schützend vor die Augen und versuchte auszumachen, was genau sich da auf dem Steinbruch zubewegte. Eine Halluzination. Nein, das war eindeutig real. Ein Rudel Tiere auf der Flucht? Quatsch, wovor denn? Ein Wagen? Scheiße!

   Eilig sprang er von seinem Aussichtspunkt herunter, landete im Staub, rollte sich über die Schulter ab, hechtete zurück auf die Füße und stürzte in die Höhle. Suzanne schien wieder eingeschlafen zu sein, doch darauf konnte er im Moment keine Rücksicht nehmen. Er bückte sich und rüttelte heftig an ihrer Schulter.

   „Suzanne? Schnell, wach auf! Da kommt ein Wagen. Wir müssen verschwinden. Weiter nach hinten! Schnell, pack zusammen."

   „Warte doch erstmal ab. Vielleicht ist es ja dein Dad?", meinte sie hoffnungsvoll.

   „Darauf möchte ich lieber nicht verlassen! Nun mach schon! Beeil dich", trieb er sie an, während er bereits alles umherliegende Zeug von ihnen zusammenraffte und es in den hinteren Teil der Höhle schaffte. Dort fand er einen breiten Vorsprung in dem er hektisch alles hineinstopfte. Wo zum Teufel blieb Suzanne? Er war sich sicher, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Nervös schaute er sich um und sah, wie Suzanne mit ihrem Schlafsack in seine Richtung gestolpert kam. Offensichtlich war sie immer noch sehr schwach auf den Beinen. Er war ihr behilflich und drückte sie ebenfalls in die Felsspalte hinein und auf den Boden. Von draußen war inzwischen schon deutlich ein Motorengeräusch zu hören und wenn er sich nicht sehr täuschte war das nicht der alte Jeep der Station. Scheiße! Scheiße! Scheiße!

   „Warte hier!", befahl er kurz. „Rühr dich nicht von der Stelle!“

   „Was hast du vor?" Suzannes Stimme klang verunsichert und ängstlich.

   „Ich geh' nachsehen ob wir nichts vergessen haben. Außerdem will ich wissen, mit wem wir es zu tun haben.“

   „Pass auf dich auf."

   „Klar. Keine Angst!" Marc lächelte Suzanne kurz und, wie er hoffte, beruhigend zu und schlich vorsichtig in gebückter Haltung zurück in den vorderen Teil der Höhle. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie keine verräterischen Spuren hinterlassen hatten, legte er sich bäuchlings hinter dicken Stein, von wo aus er den Eingang im Auge behalten konnte, ohne selber von dort aus gesehen zu werden.

   Just in dem Moment als er draußen eine Autotür zuschlagen hörte, raschelte es neben ihm. Suzanne! „Verdammt! Was soll das? Du solltest doch hinten bleiben", zischte er wütend über ihren Leichtsinn. „Traust du mir etwa nicht?"

   „Doch, aber ich hab's nicht mehr ausgehalten. Bitte, lass…"

   „Pssst." Marc legte einen Finger auf die Lippen.

   Jemand betrat die Höhle und Marc erkannte Scott, den er als Mitchs Handlanger ja bestens kannte, auf den ersten Blick. Was ihn allerdings verblüffte war, dass auch Suzanne Scott zu kennen schien, denn sie unterdrückte nur mit Mühe einen überraschten Ausruf, indem sie sich spontan eine Hand auf den Mund presste. Doch ihre schreckgeweiteten Augen verrieten sie. Er war ihr einen beschwörenden Blick zu. Er wusste, wenn sie ihre Emotionen jetzt nicht unter Kontrolle bekam und auch nur einen Laut von sich gab, war alles verloren und die ganzen bisherigen Mühen und Strapazen wären umsonst gewesen.

 

52. Kapitel

 

   „So langsam müssen wir uns entscheiden“, verkündete John, stoppte den Wagen, beugte sich vor und blickte skeptisch durch die Windschutzscheibe nach oben. „Noch ist es hell, aber wenn die Dämmerung erstmal richtig eingesetzt hat, wird es hier draußen schnell stockdunkel.“

   „Was wollen Sie damit sagen?“ Gilian musterte ihn prompt misstrauisch. „Dass wir die Suche abbrechen sollten? Kommt gar nicht in Frage.“

   „Nicht abbrechen, ich schlage lediglich vor, die Suche zu unterbrechen. In der Dunkelheit macht es einfach keinen Sinn, weiter zu suchen. Es wäre eindeutig vernünftiger, wenn wir erstmal zurück zur Station fahren und morgen weitermachen. “

   „John, was soll das? Ich verstehe Sie nicht. Warum wollen Sie so viel wertvolle Zeit mit Hin- und Herfahren vergeuden? Vergessen Sie's. Lassen Sie uns lieber nach einem geeigneten Lagerplatz Ausschau halten. Dann können wir morgen direkt an Ort und Stelle weitermachen."

   Mit einem tiefen Seufzer löste John die Bremse und fuhr weiter. Er hatte insgeheim mit dieser Antwort gerechnet, trotzdem hatte er noch einmal versucht, Gilian umzustimmen. Schon allein, weil ihm bei der Vorstellung, mit dieser Frau alleine eine Nacht draußen im Busch zu verbringen, äußerst unbehaglich zumute war. Wenigstens vor sich selber konnte er zugeben, dass Gilian Banks ihn vom ersten Augenblick an magisch angezogen hatte. Mehr noch, sie hatte ein Gefühl in ihm ausgelöst, dass er längst für sich verloren geglaubt hatte. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er darüber nachdachte, doch Gilians Stimme holte ihn schnell zurück in die Realität.

   „John! Da! Schauen Sie! Was ist das?“

   Aufgeregt deutete Gilian nach vorn und John konzentrierte sich wieder auf den Weg. In der Ferne waren in der einsetzenden Dämmerung kleine aufsteigende Rauchwölkchen zu erkennen, die seine Begleiterin offenbar in höchste Nervösität versetzt hatten.

   „Oh Gott, Feuer“, flüsterte sie leise. „Bitte nicht.“

   „Nein, nein, keine Sorge", beruhigte er schnell. „Das ist kein Buschbrand. Das ist vermutlich nur das Nachtlager eines Nomadenstammes. Es gibt hier draußen noch einige, die sich kategorisch weigern, ihr altes Leben aufzugeben, um stattdessen sesshaft zu werden."

   „Oh, gut. Gott sei Dank.“ Gilian stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Könnten wir wohl kurz dort anhalten? Womöglich haben sie ja etwas bemerkt? Oder … sind sie kriegerisch?", setzte sie besorgt hinzu.

   „Nein." John grinste belustigt. „Sicher nicht. Aber Sie haben recht, wir sollten nachfragen, ob Ihnen womöglich etwas aufgefallen ist.“

   Kurz darauf stoppte er den Jeep auf einer Lichtung, wo ein paar primitive Zelte um eine Feuerstelle herum aufgebaut standen. John stieg aus und begrüßte den Stammesältesten, den er seit langem kannte, zunächst mit einer Verbeugung, dann per Handschlag und in der Landessprache. Danach wies er auf Gilian, die ihm gefolgt war, und stellte sie vor. Der grauhaarige Mann, dessen Alter aufgrund seiner unendlich vielen, tiefen Furchen im Gesicht schwer zu schätzen war, lächelte Gilian mehr oder weniger zahnlos an an und verneigte sich danach mit vor seiner bloßen Brust gekreuzten Armen tief vor ihr. Sie reagierte verunsichert und blickte John fragend an, um herauszufinden wie sie sich verhalten sollte. Er lächelte kurz und nickte ihr aufmunternd zu.

   Gilian verstand, setzte ein zaghaftes Lächeln auf, kreuzte ebenfalls ihre Arme vor der Brust und verbeugte sich tief vor dem alten Mann. Nach der Begrüßung sprach John einige Zeit mit dem Eingeborenen und zeigte ihm Fotos von Suzanne und Marc. Der Stammesälteste schüttelte bedauernd den Kopf und sagte dazu einige Sätze in der Landessprache. Ein Blick auf Gilians Gesicht zeigte John, dass sie verstanden hatte, noch bevor er zur Übersetzung ansetzte.

   „Schade", äußerte sie deprimiert. „Na ja, einen Versuch war es wert.“

   „Nun ja", startete John einen Aufmunterungsversuch. „Wenigstens wissen wir jetzt, wo wir nicht suchen müssen und die Nomaden halten von jetzt an ebenfalls Ausschau nach den beiden."

   „Oh, das ist gut. Also, dann weiter. Suchen wir uns einen Lagerplatz."

   „Ähm… Gilian, es ist so, die Nomaden bereiten eine Hochzeitsfeier vor. Wir sind eingeladen. Wenn Sie mögen, könnten wir hier übernachten.“

   „Oh, das ist … sehr freundlich, aber…“ Sie druckste herum. „Ehrlich gesagt bin ich etwas überrascht, dass Sie das überhaupt in Erwägung ziehen. Mir ist nicht gerade nach Feiern zumute."

   „Mir auch nicht, aber wenn wir ablehnen, käme es einer Beleidigung gleich. Schauen Sie: Der Stammesälteste läßt schon ein Zelt für uns aufbauen. Und ich glaube, Sie hat man auch bereits irgendwie verplant."

   Tatsächlich kam eine junge Frau zielstrebig auf Gilian zu, griff nach ihrer Hand und bedeutete ihr mit der anderen, mitzukommen. Wieder warf sie John einen unsicheren Blick zu.

   „Gehen Sie ruhig", nickte John ihr zu. „Ich würde die Gelegenheit gerne nutzen, und mich mit dem Stammesältesten noch kurz über das Wildererproblem in der Gegend unterhalten. Wir sehen uns gleich. In Ordnung?“

   Gilian nickte und folgte der jungen Frau in eines der angrenzenden Zelte. Johns Blicke folgten ihr und fielen danach auf das Zelt, das der Stammesälteste für sie beide hatte herrichten lassen.

   Ein Zelt!

   Für Gilian und ihn!

   John gab sich einen Ruck und wandte sich wieder dem Stammesältesten zu. Besser, er dachte nicht allzu intensiv darüber nach.

**********

   Gott sei Dank. Nach der ersten Überraschung hatte Suzanne ihre Nerven in den Griff bekommen. Nachdem Marc sie am Arm gepackt hatte, hatte er warnend seinen Zeigefinger auf die Lippen gelegt und gleichzeitig leicht den Kopf geschüttelt. Sie hatte verstanden und andeutungsweise genickt. Daraufhin widmete er sich beruhigt wieder dem Geschehen ein Stück weiter vorn.

   Scott schien allein zu sein. Marc beobachtete, wie der Soldat, fröhlich vor sich hinpfeifend zielstrebig auf einen grossen Stein zuging, den er dann mit ein wenig Mühe mit der Schulter beiseite drückte. Zum Vorschein kam eine tiefe Mulde, vollgepackt mit kleinen Tüten, deren Inhalt sie auf die Entfernung nicht genau ausmachen konnten. Marc zog eine Grimasse. Er konnte sich denken, um was es sich handelte und Scott lieferte ihm gleich darauf die Bestätigung, indem er einige der Tüten gut sichtbar für seine Beobachter herausnahm und in seinem Rucksack verstaute.

   Neben ihm sog Suzanne hörbar die Luft ein. Nicht schon wieder. Dieses Mal ging Marc auf Numer sicher, legte rasch seinen Arm um ihre Schulter und platzierte seine Hand fest über ihren Mund. Er blies die Wangen auf, hielt Suzanne fest an seine Seite gedrückt und ließ Scott nicht aus den Augen. Der schien Gott sei Dank nichts bemerkt zu haben. Er stöhnte angestrengt, während er den Stein wieder zurück auf die Mulde rückte. Nachdem er es geschafft hatte, ging er in die Knie und hob etwas vom Boden auf. Marcs Augen weiteten sich erschrocken, als er erkannte, was Scott da in der Hand hielt. Verdammt, das war Charlies Flachmann, den Suzanne am Tag zuvor achtlos hinter sich geschleudert hatte. Sie schien es ebenfalls erkannt zu haben, denn er spürte, wie sich ihr Körper versteifte. Verwundert betrachtete Scott die kleine Flasche und stopfte sie schließlich ebenfalls in den Rucksack.

   „Und mir erzählt der Typ er trinkt nichts", murmelte er dabei ärgerlich vor sich hin. „Na warte, mein Freund. Du bist genauso link wie dieses Arschloch von Ben mit seinem fingierten Überfall auf das Mädchen. Anscheinend glauben hier alle, mich für dumm verkaufen zu können. Aber da habt ihr euch geschnitten. Nicht mit mir!"

   Scott verließ die Höhle mit schnellen Schritten und gleich darauf war zu hören, wie ein Motor gestartet wurde und ein Wagen sich rasch vom Steinbruch entfernte. Marc nahm seine Hand von Suzanne Mund und ließ sich erleichtert an Ort und Stelle auf den Rücken plumpsen. Suzanne tat es ihm gleich.

   „Wow“, sagte sie. „Das sah aus wie..."

   „...Rauschgift", vollendete Marc den Satz. „Allerdings. Das sah nicht nur so aus.“

   „Von dem Zeug, das man dir untergejubelt hat?"

   „Vermutlich", stimmte er ihr zu. „Ach ja, Entschuldige, falls ich dich etwas zu hart angepackt haben sollte. Ich dachte wirklich…“

   „Schon gut, ich hätte uns ja wirklich fast verraten. Aber ich war so überrascht, als ich ihn sah. Damit hätte ich nie und nimmer gerechnet.“

   „Du kennst den Typ, oder?", forschte Marc vorsichtig.

   „Flüchtig. Das war Scott, Kimberlys Bruder."

   Bis jetzt hatten sie beide auf dem Rücken gelegen und in die Luft geredet, doch nach dieser Eröffnung drehte sich Marc auf die Seite und blickte Suzanne überrascht an. „Was? Nur so zur Info: Das ist einer der Typen vom…“ Er malte mit Zeige- und Mittelfinger Gänsefüßchen in die Luft. „…nationalen Sicherheitsdienst. Kimberlys Bruder also. Na, toll! Der Kreis schließt sich."

   „Was denkst du? Dass Kim dir die Drogen unterschoben hat?"

   „Hm, nein. Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen."

   „Aber … wenn nicht Kimberly, wer dann? Ich meine, irgendjemand in der Schule muss da doch seine Finger mit im Spiel haben…“, meinte Suzanne, während sie nachdenlich auf ihrer Unterlippe herumkaute. Eine Angewohnheit, die er schon des Öfteren an ihr beobachtet hatte und die ihn amüsierte, da sie sich dessen gar nicht bewusst zu sein schien.

   „Na, du bist vielleicht naiv", unterbrach er ihre Überlegungen mit dem altbekannten, leicht spöttischen Unterton in der Stimme.

   „Wieso?" Suzanne rollte sich ebenfalls auf die Seite, stützte sich auf dem Ellbogen ab und blitzte ihn entrüstet an. „Was ist daran naiv? Von alleine ist das Zeug ja wohl kaum in dein Spind geflogen.“

    „Denk mal nach. Scott ist Soldat", erklärte Marc und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Er lebt auf der Basis und er kennt deinen Ben."

   Suzanne verdrehte genervt die Augen. „Nur fürs Protokoll, er ist nicht mein Ben und er war nie mein Ben", stellte sie nachdrücklich fest. „Könnten wir das bitte endlich mal so festhalten?“

   „Von mir aus“, antwortete er lapidar und ließ sich nicht anmerken, dass er sich über ihre Aussage freute. „Also gut, dass Scott Ben definitiv mehr als nur flüchtig kennt, haben wir gerade gehört. Ben wiederum will mir spätestens eins auswischen, seit ich ihm zuletzt nachts in die Parade gefahren bin und ihm seinen Plan vermasselt habe. Was verrät uns das?"

   „Du … du glaubst also wirklich Ben hat...?"

   „Ja. Für mich hat sich das so angehört, als hätte Ben über Mitch und Scott die Eingeborenen engagiert, damit sie dir auflauern und Angst einjagen. Ich schätze, es passt ihm nicht, dass du eine eigene Meinung hast und dafür einstehst. Auf die Art und Weise wollte er wohl erreichen, dass du dich ihm in Zukunft wie alle anderen uneingeschränkt unterordnest.“ Er zuckte mit den Schultern. „Klingt immerhin logisch, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der letzten Zeit noch mehr fingierte Überfälle auf Mädchen gab."

   Suzanne schwieg betroffen und dachte nach. „Aber dieser eine Typ, der wollte doch wirklich… Scheiße, Ben kann doch nicht ernsthaft gewollt haben, dass die mich vergewaltigen. Das ist doch … total krank.“

   „Keine Ahnung“, antwortete Marc ehrlich. „Womöglich hat sich die ganze Sache ohne sein Wissen vor Ort verselbstständigt. Ich weiß es nicht.“ Er machte eine Pause. „Tut mir leid, wenn ich gerade ein Heldenbild zerstört habe“, setzte er dann leise hinzu.

   „Da gibt es nichts zu zerstören“, antwortete sie sachlich. Ich habe doch längst festgestellt, dass Ben ein Arschloch ist. Aber so eine Aktion hätte ich nicht von ihm erwartet. Mich nur ins Kino einzuladen, um mich später derart auflaufen zu lassen.“ Sie schüttelte frustriert den Kopf, während sie sich alles durch den Kopf gehen ließ. „Das alles … Ben hatte es von Anfang an so geplant. Die Einladung, sein mieses Verhalten, der Streit, einfach alles. Und ich … bin ihm voll auf den Leim gegangen. Ich habe genau das getan, was er wollte. Er war mein Regiesseur, ohne dass ich eine Ahnung davon hatte.“

   „Was soll ich sagen? Sieht ganz so aus." Marc ließ sich zurück auf den Rücken fallen, um ihren zutiefst verletzten Gesichtsausdruck, als sie sich Stück für Stück die Geschehnisse noch einmal vor Augen führte, nicht länger mitansehen zu müssen. In diesem Augenblick hasste er Ben aus tiefster Seele.

   „Tja", hörte er nach einer Pause ihre desillusioniert verbittert klingende Stimme wieder. „Ich würde mal sagen, das alles spricht nicht gerade für mich, oder?"

   „Tut mir leid“, wiederholte er.

   „Das braucht es nicht. Du kannst ja nichts dafür."

   Oha, zu dieser Erkenntnis würde er sich mal lieber geschlossen halten. Schließlich konnte er für eine ganze Menge anderer Dinge etwas. Auch, wenn sie darüber im Moment gar nicht mehr nachzudenken schien. Sein Glück, Bens Pech. Nichts desto trotz würde er bei der nächsten Begegnung der beiden zu gerne Mäuschen spielen. Bei der Vorstellung musste Marc unwillkürlich grinsen. In Bens Haut wollte er dann garantiert nicht stecken. Und Tipps für den Umgang mit einer wütenden Suzanne würde er diesem Arschloch ganz sicher auch nicht geben.

   „Sag mal, wie bist eigentlich du an diese Typen geraten?", wollte Suzanne plötzlich wissen. „Ich meine, du bist ja nicht gerade als sehr gesellig bekannt."

   „Ich hab' Kims Bruder und seinen Kumpel Mitch in einer Kneipe kennengelernt. Das sind die beiden, bei denen ich die Spielschulden habe, aber ich schätze, das ist inzwischen ziemlich deutlich geworden.“ Er schmunzelte. „Oder?“

   „Ja…“  Suzanne schmunzelte ebenfalls. „Stell dir vor, das habe sogar ich gerafft. Es sind aber auch die, die diese verrückte Idee mit der Entführung hatten."

   „Richtig." Er nickte und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

   „Sieht so aus, als hätten die `ne ganze Menge krummer Dinge am Laufen“, stellte sie trocken fest. „Illegales Zocken, Dealen mit Drogen, Entführung … da kommt ganz schön was zusammen. Sieht so aus, als hätte jetzt gerade der Drogenhandel Priorität. Demnach haben die beiden ihren Plan mit der Entführung und die Suche nach uns wohl aufgegeben? Zumindest vorläufig.“

   Marc verzog das Gesicht. „Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen wollen."

   „Okay“, meinte Suzanne gedehnt. „Dann sind wir also sozusagen weiter auf der Flucht und müssen uns bedeckt halten. Super.“ Sie pustete durch. „Na gut, wie sieht dein Plan aus? Du hast doch einen Plan, oder?“

   „Allerdings. Aber ich fürchte, er wird dir nicht gefallen.“

   „Lass es darauf ankommen. Raus damit“, forderte sie von ihm und nun war es an ihm durchzupusten.

   „Du bist noch total wackelig auf den Beinen. Keine Widerrede, ich hab´s gesehen und das ist auch völlig normal, nach all dem, was du durchgemacht hast. Daher habe ich beschlossen, dass wir diese Nacht noch hierbleiben und abwarten, wie es dir morgen früh geht.“

   „So, das hast du also beschlossen?“ Suzanne schmunzelte. „Interessant. Darf ich vielleicht auch was dazu sagen?“

   „Nein, ähm, ich meine natürlich, ja. Grundsätzlich schon, aber in dem Fall glaube ich, dass das wirklich die beste Lösung ist. Da Scott gerade erst Nachschub geholt hat, gehe ich davon aus, dass wir in der Höhle vorläufig sicher sind. Das Problem ist nur…“ Er zögerte.

   „Was? Was ist das Problem?“

   „Unsere Wasservorräte“, gestand er leise. „Ich habe einiges gebraucht um die Wunde vernünftig zu säubern und na ja … auf jeden Fall ist kaum noch etwas übrig. Aber mach´ dir keine Sorgen, das kriegen wir schon hin. Ich kenne da ein Wasserloch, das nicht allzu weit von hier entfernt ist. Ich mache mich gleich auf den Weg und wenn alles glatt läuft bin ich bis morgen früh zurück.“ Er machte Anstalten aufzustehen. „Falls nicht, wartest du einfach hier auf mich.“

   Suzanne hinderte Marc daran aufzustehen, indem sie seinen Arm packte. „Stopp! Soll das heißen, du willst mich hier zurücklassen? Alleine? Sag, dass das nicht dein Ernst ist“, forderte sie.

   „Suzanne, wir waren uns doch einig, dass du noch nicht wieder fit bist.“ Marc versuchte, den vorwurfsvollen Blicken auszuweichen, doch Suzannes Augen folgten seinen, wohin immer er den Kopf drehte.

   „Nein! Du läßt mich hier nicht alleine", verkündete sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Kommt überhaupt nicht in Frage.“

   „Sorry, aber du hast keine Vorstellung davon, wie das ist. Wenn uns hier draußen das Wasser ausgeht, sind wir komplett aufgeschmissen. Bei der Hitze halten wir das keinen Tag lang durch. Willst du riskieren, dass wir unterwegs schlappmachen?“

   „Natürlich nicht. Trotzdem, ich bleibe hier nicht alleine zurück.“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Vergiss es! Ich werde dich begleiten.“

   „Die Wasserstelle liegt in entgegengesetzter Richtung. Ein Riesenumweg, den ich dir gerne ersparen würde.“

   „Sehr edel von dir, wirklich. Ich weiß das zu schätzen. Aber nicht nötig. Ich komme mit.“

   Langsam wurde er sauer. „Sei doch vernünftig, verdammt. Das hältst du nie und nimmer durch.“

   „Woher willst du wissen, was ich aushalte?“, fauchte sie. „Du kennst mich doch überhaupt nicht. Wie zum Teufel willst ausgerechnet du beurteilen können, was ich aushalte und was nicht?"

   „Suzanne“, versuchte er sie zu beruhigen. „Reg dich nicht auf. Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich zurückkomme.“

   „Umweg hin, Umweg her. Egal, was du sagst, ich werde dich begleiten“, beharrte sie halsstarrig. „Punkt“

   „Hier in der Höhle wärst du sicher! Es ist einigermaßen kühl und…"

   „Sicher? Ach ja? Das ich nicht lache!“ Ihre Stimme bekam einen schrillen Unterton, der bei Marc die inneren Alarmglocken endgültig auf den Plan rief. „Was, wenn Scott womöglich seinem Nicht-trinkenden Kumpel Mitch den leeren Flachmann zeigt und der zwei und zwei zusammenzählt? Was dann?“

   Scheiße, das war ein Argument, dem er sich nicht verschließen konnte. Unverzeihlich, dass er das nicht in Betracht gezogen hatte. „Gott, bist du stur", stöhnte er trotzdem.

   „Du hast es mir versprochen", erinnerte sie ihn und schaute ihn jetzt flehend an. „Bitte. Du hast mir versprochen, dass du mich nicht alleine lässt.“

   „Okay", brummte er und gab sich endgültig geschlagen.

   „Danke!" Suzanne umarmte ihn spontan so stürmisch, dass er ins Straucheln geriet und um ein Haar das Gleichgewicht verloren und auf sie gefallen wäre. „Entschuldige", murmelte sie daraufhin plötzlich befangen und verdächtig nahe an seinem Gesicht.

   „Kein Ding.“ Die Umarmung war Marc keineswegs unangenehm gewesen. Insgeheim amüsierte er sich sogar ein wenig über Suzannes offenkundige Verlegenheit. Vor zwei Minuten noch war sie stinksauer auf ihn gewesen. Sie hatte hoch emotional mit ihm gestritten und ihren Standpunkt verteidigt. Und jetzt? War gut zu erkennen, wie eine feine Röte ihre Gesichtszüge überzog. Suzanne besaß eine Menge Temperament und wenn sie etwas erreichen wollte, scheute sie sich nicht davor, dieses kompromisslos einzusetzen und für ihr Ziel zu kämpfen. Manchmal war es erfrischend, ihr dabei zuzusehen, aber es konnte auch durchaus anstrengend sein, mit ihr umzugehen. Am faszinierendsten an ihr war aber ihre verletzliche Seite, die sie deutlich seltener offen zeigte. Wenn ihr Temperament von einer Sekunde auf die andere umschlug und sie plötzlich schüchtern und unsicher wirkte, so als wäre sie ihrer selbst nicht sicher. Die Pause drohte ins Peinliche zu kippen, insbesondere da er immer noch mit den Händen rechts und links von ihr abgestützt, dicht über ihr hing. Sehr leise, fast flüsternd erkundigte er sich: „Wie komme ich zu der Ehre?“

   „Dafür, dass du mich mitnimmst. Mir ist schon bewusst, dass es einfacher für dich wäre, wenn du mich hier zurücklassen würdest, aber…“ Sie verstummte.

   „Aber…?“

   „Ach, sagen wir, einfach dafür, dass du dein Versprechen hältst", murmelte sie und drehte den Kopf zur Seite.

   „Schon gut. Hierzulande halten die `Eingeborenen' was sie versprechen. Selbst, wenn entgegen aller Vernunft darauf bestanden wird." Er achtete unauffällig darauf, wieder ein wenig Abstand zwischen ihnen herzustellen und zog sich zurück.

   „Ach ja? Warum bist du dann nicht zu meiner Fete gekommen?", hakte Suzanne direkt ein.

   „Och, komm schon, das ist jetzt nicht dein Ernst“, wich er dem plötzlichen Themenwechsel aus. „Das sind doch olle Kamellen.“ Da war es wieder. Fast hätte er gegrinst. Bot sich ihr auch nur die geringste Chance war sofort ihr unberechenbares Temperant zurück an der Oberfläche. „Anstatt hier zu diskutieren sollten wir uns lieber ausruhen. Kraft schöpfen.“

   „Gleich“, wehrte sie kurz ab. „Warum?“, forderte sie dann eine Antwort.

   „Okay, wenn du es genau wissen willst: Ich war spielen. Wollte eigentlich nur kurz dort vorbei, doch dann bin ich versackt. Ich hatte `ne irre Pechsträhne an dem Abend. Aber… Ich schwöre, ich war da."

   „Wie bitte?" Konsterniert blickte sie ihm in die Augen. „Wie soll ich das verstehen?“

   „Ich kam an, gerade als die letzten gingen."

   „Ja, aber… Warum ... warum hast du dich nicht gezeigt?“

   „Na ja, die Fete war vorbei.“ Er zuckte mit den Schultern. „Außerdem: Wäre ich denn in deinem illustren Kreis wirklich willkommen gewesen?" Ernst ruhten seine Augen auf ihrem Gesicht, bereit jede noch so kleine Regung wahrzunehmen.

   Sie nickte heftig. „Mir schon."

   Er stöhnte leise. Gab dieses Mädchen denn niemals auf? „Suzanne, sei ehrlich, du weißt doch noch gar nicht auf welcher Seite du stehen sollst.“

   „Da irrst du aber gewaltig. Ich weiß definitiv, dass ich auf gar keiner Seite stehen will", kommentierte sie seinen Vorwurf mit fester Stimme.

   „Aha, okay. Warum gehst du dann mit Ben aus?“, konterte er. „Ich würde behaupten, damit hast du dich ganz klar positioniert."

   „Buch es als Irrtum meinerseits", stellte sie sachlich fest. „Sowas kommt in den besten Familien vor." Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen, bevor sie schließlich sagte. „Okay, ich werde es jetzt einfach sagen. Egal, was du denkst. Wenn du es gewesen wärst, der mich gefragt hätte … ich wäre auch mit dir ausgegangen."

   Marc konnte nicht anders. Er ließ ein mühsam unterdrücktes Prusten hören. „Ich sag´s nicht gerne, aber in einem Punkt muss ich Ben zustimmen“, sagte er.

   „Ah ja, und das wäre?" Suzanne zog fragend die Augenbrauen hoch.

   „Du bist eine Weltverbesserin. Bei Ben klang es allerdings eher wie ein Vorwurf. Aber so einfach, wie du dir das vorstellst, ist das nicht."

   „Ben kann mir vorwerfen, was immer er will. Ist mir scheißegal. Deshalb gebe ich noch lange nicht auf.“ Sie stupste ihn an: „Deinen Worten entnehme ich, dass du tatsächlich an dem Abend da warst“, schloss sie befriedigt. „Das freut mich.“

   Hatte er ein so ungläubiges Gesicht gemacht? Auf jeden Fall prustete Suzanne plötzlich los und er konnte nicht anders, als mit einzustimmen. „Warum lachen wir?“, fragte er schließlich glucksend. „Ich meine, unsere Lage ist alles andere als lustig“, rief er ihr in Erinnerung.

   „Keine Ahnung“, antwortete sie, während sie sich nur langsam wieder beruhigte. „Ich dachte nur gerade… Wenn dir einer vor zwei Monaten gesagt hätte, dass wir mal ein so langes Gespräch miteinander führen … hättest du es für möglich gehalten?", fragte sie schließlich.

   „Nein", gab er zu. „Ich kann aber nicht erkennen, was daran so lustig ist. Ich meine, mit wem solltest du hier sonst reden? Hier drinnen gibt´s noch nicht mal Holzwürmer. Nur Stein.“

   Suzanne kicherte. „Richtig. Ist vermutlich nur das Adrenalin, dass raus muss.“ Sie wurde wieder ernst, fing seinen Blick ein und hielt ihn fest. „Was zum Teufel muss ich tun, damit du mir endlich glaubst? Sicher, ich gebe zu: Nach deinem Geständnis war ich erstmal stinksauer auf dich. Aber ich bin nicht nachtragend. Glaub nicht, dass ich nicht sehe oder anerkenne, was du hier für mich tust, denn das tue ich.“

   „Ich bitte dich, das ist ja wohl das Mindeste“, murmelte Marc undeutlich. „Das bin ich dir schuldig.“

   „Lass gut sein. Was mir am Herzen liegt, ist, dass du endlich kapierst, dass ich nicht dein Feind bin. Meiner Mutter und mir ist es völlig egal ob ein Mensch schwarz, weiß, rot oder meinetwegen auch kariert ist. Es geht uns um die Menschen, nicht um deren Hautfarbe, oder Besitztümer."

   Marc wurde das Gefühl nicht los, dass das Gespräch zusehends auf dünnes Eis geriet. „Schlaf jetzt. Sonst kommst du nie wieder richtig zu Kräften und wir hier nicht weg.“

   „Sehr subtil, Marc, wirklich. Glaubst du ich merke nicht, dass du mir ausweichst? Aber okay, für den Moment lasse ich dir das durchgehen.“ Suzanne musterte ihn einen Moment lang nachdenklich. „Was ist mit dir? Du musst doch total am Arsch sein.“

   „Halb so wild“, wiegelte er ab. „Ich halte lieber vorsichtshalber Wache, falls der Nicht-Trinker tatsächlich Verdacht schöpft.“

   „Und du weckst mich auch ganz sicher morgen früh, wenn es los geht?“

   Er zwinkerte ihr zu. „Immer noch misstrauisch? Mach dir keine Sorgen.“

 

53. Kapitel

 

   John stand alleine neben dem friedlich vor sich hin flackernden Lagerfeuer und verfolgte tief in Gedanken versunken die Hochzeitsvorbereitungen, allerdings ohne wirklich wahrzunehmen, was er da sah. Die Dunkelheit lag inzwischen wie eine Schutzhülle über dem Land und die hektische Betriebsamkeit, die sich nur wenige Meter entfernt von ihm abspielte, wirkte seltsam unwirklich. Ihm ging so viel im Kopf herum, dass er seine wirren Gedanken kaum sortiert bekam. Jetzt, wo er ein wenig zur Ruhe kam, hatte sich sein Gehirn quasi verselbstständigt. Es war eine Tortour, trotzdem fragte er sich unablässig, was passiert sein könnte. Wo waren Suzanne und Marc? Wie hatte es passieren können, dass er nichts, aber auch gar nicht von den Problemen seines Sohnes mitbekommen hatte? Hatte Marc womöglich deswegen jetzt einen weiteren, noch viel größeren Fehler gemacht?

   Nein, denk gar nicht erst dran, beschwor er sich im nächsten Augenblick. Das konnte, das durfte einfach nicht sein! Natürlich, er war ein ganz normaler Teenager, da machte er sich nichts vor. Teenager schlugen nun mal hin und wieder über die Stränge. Aber doch nicht so! Nicht Marc! Aber was zum Teufel steckte dann dahinter? Vor allen Dingen, wer? Und wie würde Gilian das alles verkraften? Sicher, im Moment hielt sie sich noch wacker, doch wie lange würde sie das noch durchhalten? Gilian! Immer wieder schlich sie sich geradezu hinterhältig in seinen Kopf. Ein unbewusstes Schmunzeln huschte über Johns Züge. Was für eine Frau. Wer weiß, was sich hätte entwickeln können, wenn…

   Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er regelrecht zusammenzuckte, als er eine Berührung am Arm spürte. Er fuhr herum und fand sich unmittelbar vor Gilian stehend. Natürlich, wer sonst sollte an ihm zupfen, sagte er sich, doch im ersten Augenblick hätte er die Botschafterin fast nicht erkannt. Die Frauen des Stammes hatten sie in eine Eingeborenentracht gesteckt. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass sie in farbenfrohe Tücher gewickelt war, die ihre Schultern bloß ließen, was wiederum ihre Schlüsselbeine und den schlanken Hals wundervoll zur Geltung brachte. Das volle dunkle Haar war in einer abenteuerlich kunstvollen Frisur arrangiert, in die die Frauen geschickt bunte Schmuckbänder integriert hatten, deren Enden jetzt leicht gekräuselt Gilians Gesicht umschmeichelten. Als John endlich realisierte, dass er sie unverhohlen anstarrte, senkte er den Blick und schluckte trocken. Himmel, vermutlich kam er rüber wie der letzte Volltrottel.

   „Sie waren nicht davon abzubringen", sagte Gilian schließlich offenbar verunsichert, weil er kein Wort sagte. Dabei deutete sie auf drei Frauen, die etwas abseits standen und offensichtlich gespannt auf eine Reaktion von ihm warteten. „Zugegeben, ich finde es ja auch etwas merkwürdig, aber ich wollte nicht unhöflich sein und habe sie machen lassen.“

   „Nein, Quatsch. Das ist … Wow!“ John fasste Gilian seitlich an den Schultern und drehte sie einmal um die eigene Achse. „Sie sehen fantastisch aus", sagte er tief beeindruckt. „Ehrlich, wunderschön. Noch viel, viel besser als neulich Abend bei dem Empfang in der Botschaft."

   „Meinen Sie das ernst?"

   „Todernst." Er nickte und hob zusätzlich den Daumen in Richtung der drei wartenden Frauen. Die verstanden das Zeichen, und gingen daraufhin leise kichernd und tuschelnd ihrer Wege.

**********

   „Marc?“

   „Du sollst doch schlafen“, klang seine Stimme von vorn an ihre Ohren.

   „Tolle Idee, aber das funktioniert leider nicht. Es ist so verflucht eng hier hinten. Könnten wir nicht wieder nach vorn gehen? Bitte, ich bekomme Platzangst, wenn ich noch lange hier liegen muss. Du hast doch selbst gesagt, dass die Höhle diese Nacht sicher ist.“ 

   „Ja, falls nicht Mitch plötzlich doch noch hier auftaucht“, antwortete er grimmig.

   „Einen Motor würden wir doch von weitem schon hören“, wandte sie ein. „Bitte. So bekomme ich kein Auge zu.“

   „Okay“, antwortete Marc nach einer Pause, in der er vermutlich ihr Ansinnen überdacht hatte. „Holen wir unsere Sachen und ziehen nach vorne um.“ Er drehte sich um und schaute sie direkt an: „Hör zu, ich hab´ nachgedacht. Es ist inzwischen dunkel und ich würde gerne den Schutz der Nacht nutzen. Wenigstens teilweise. Die Dunkelheit verringert die Gefahr für uns, entdeckt zu werden. Außerdem ist es kühler. Wenn wir gegen Mitternacht aufbrechen, erreichen wir mit ein bisschen Glück morgen Früh das Wasserloch. Danach sehen wir weiter.“

   „Warum gehen wir dann nicht direkt los?“

   „Weil ich möchte, dass du dich noch ein wenig schonst“, erklärte er geduldig. Als er bemerkte, dass sie den Mund öffnete, drohte er ihr mit dem Zeigefinger. „Oh, nein! Dieses Mal nicht. Keine Widerrede!“ Er erhob sich von seinem Wachposten und krabbelte zu Suzanne in die Nische. „Rutsch mal ein Stück und lass mich da ran. Ich hab´ die längeren Arme; ich geb´ dir die Sachen an.“

   Auf dem Bauch liegend zerrte Marc ihre Klamotten nacheinander aus der Felsspalte heraus und reichte sie über die Schulter an Suzanne weiter. „Mist“, hörte sie dann sein leises Fluchen. „Scheiße, jetzt komm schon.“

   „Was ist los?“

   „Ach, der Rucksack“, kam es undeutlich aus der Spalte, denn mittlerweile war Marc fast mit seinem kompletten Oberkörper darin verschwunden. „Das scheiß Ding hat sich anscheinend irgendwo verklemmt.“

   „Hm…“, antwortete Suzanne abwesend, während sie auf Marcs verlängerten Rücken und seine Beine starrte. Ein Gedanke hatte sie die ganze Zeit über nicht losgelassen und beschäftigte sie immer noch. So sehr, dass auch das mit ein Grund gewesen war, dass sie keinen Schlaf hatte finden können. Vermutlich würde das weiter vorn in der Höhle nicht anders sein, und so fasste sie sich ein Herz. „Kann ich dir `ne Frage stellen?“

   „Hat das nicht Zeit“, antwortete er, während er immer noch verbissen ackerte, um den Rucksack frei zu bekommen.

   „Nein.“ Suzanne holte tief Luft und sprach sich selber Mut zu. Sie hätte zwar lieber sein Gesicht bei der Antwort gesehen, aber sie wollte keine Sekunde länger abwarten. „Es ist nur … ich frage mich … hättest du mich jemals freiwillig um ein Date gebeten?“ Uff, jetzt war es raus. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich hier nicht gerade zum Volldeppen machte.

   „Was?“ Marc richtete sich abrupt in der engen Spalte auf und blieb dabei an einer Kerbe hängen. Der Stein schwang urplötzlich zur Seite und drehte ihm den Arm herum. „Au, Scheiße!“ Sein Schmerzensschrei gellte durch laut durch die Höhle und brach sich an den Wänden, während sich vor ihnen plötzlich der Eingang einer weiteren, kleinen Nebenhöhle auftat.

   „Oh Gott, was ist passiert?" Nachdem er rückwärts aus der Höhle gerobbt war, eilte Suzanne erschrocken an seine Seite. „Alles okay mit dir?“

   „Denke schon", quetschte Marc mit zusammengebissenen Zähnen hervor, während er sich mit weit aufgerissenen Augen auf den Eingang der Nebenhöhle starrte, während er sich vorsichtig aufrichtete und ein paar Mal heftig durchatmete. „Was zum Teufel…?“

   Es entging Suzanne nicht, dass Marc den Arm merkwürdig hängenließ, als sie sich nacheinander durch die schmale Öffnung pressten. Die kleine Höhle war so niedrig, dass sie kaum aufrecht stehen konnten. Zudem war der Raum so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnten. Marc griff nach dem Rucksack, der durch den plötzlichen Ruck freigekommen war und jetzt vor ihren Füßen lag. Mit krampfhaft zusammengepressten Lippen wühlte er mit einer Hand darin herum. Endlich hatte er gefunden, was er suchte, und gleich darauf erhellte das diffuse Licht der Taschenlampe den Raum.

   „Wow.“ Mit großen Augen blickte Suzanne sich um. „Was zur Hölle ist das?"

   „Das?!" Marcs Stimme zitterte vor Wut. „Das ist Elfenbein. Elefantenstoßzähne. Scheiße, sieh' dir die Felle an: Zebras, Gnus – sogar Löwen."

   „Ja, das sehe ich auch. Ich meinte: Was hat das zu bedeuten?"

   „Ich denke, dass wir hier das Lager der Wilderer vor uns sehen. Die Dreckskerle, hinter denen mein Vater und der Bürgermeister schon so lange her sind.“ Marcs Mund war nur noch ein schmaler Strich und er zitterte am ganzen Körper, wie Suzanne aus den Augenwinkeln registrierte. „Seit einiger Zeit finden wir immer wieder sinnlos abgeschlachtete und abgezogene Tiere.“

   „Was meinst du, waren das auch die beiden?“

   „Sieht fast so aus. Wir rätseln schon länger, wie die Wilderer es schaffen, die Ware außer Landes zu bringen. Die diesbezüglichen Kontrollen sind ziemlich scharf. Wenn das Ganze aber unter dem Deckmäntelchen des Militärs abgewickelt wird, wundert mich nichts mehr.“ Er hob eine Hand und wollte sich durch die Haare streichen, doch der Versuch endete damit, dass seine Hand hart mit der Decke kollidierte. „Scheiße!“

   Es war nicht zu übersehen, dass der Stoß ihm eine neuerliche Schmerzwelle durch den Körper jagte, obwohl er den nicht beeinträchtigten Arm benutzt hatte. Suzanne sah sich in ihrer Vermutung bestärkt, dass etwas ganz und gar nicht okay war. Ob der Stoß allerdings auch der Grund dafür war, dass seine Augen plötzlich feucht glänzten, ließ sie mal dahin gestellt sein. Der überraschende Fund nahm ihn definitiv emotional sehr mit und vermutlich lag sie nicht falsch, wenn sie vermutete, dass es eher daran lag. Seine Stimme klang bitter, als er fortfuhr.

   „In den Augen der Wilderer sind das alles … Trophäen.“ Er presste das Wort heraus und spuckte angeekelt aus. „Scheiß auf die Trophäen… weißt du, wieviel Elend damit verbunden ist? Wieviel Schmerz? Ich könnte kotzen! Diese verfluchten Drecksäcke! Wenn ich die in die Finger kriege.“

   „Es tut mir leid. Glaub´ mir, ich versteh´ dich. Ehrlich.“ Suzanne kämpfte ebenfalls mit den Tränen und berührte Marc sanft am Arm. „Wir müssen so schnell wie möglich zurück zur Station", sagte sie leise. „Deinen Dad und den Bürgermeister informieren. Diese Typen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“

   „Ja, du hast Recht. Aber zuerst wirst du dich ausruhen, danach besorgen wir uns Wasser und dann – ich betone, erst dann – kümmern wir uns um den Rückweg“, sagte Marc bestimmt, doch sie kannte ihn inzwischen gut genug, um an seinem Gesicht gewisse Emotionen, ablesen zu können. Im Moment sprach lediglich die Stimme der Vernunft aus ihm. Am liebsten wäre er sofort losgeprescht, doch er wusste genau, dass das ein Fehler wäre. Also zog er zurück, selbst wenn die Entscheidung ihn schmerzte.

   Mist, Suzanne spürte zu ihrem Entsetzen, dass sie die Tränen nicht mehr zurückdrängen konnte. Es tat ihr weh, ihn so zu sehen. Nur wegen ihrer Sturheit, ihrer Wut auf ihn, war sie in Schwierigkeiten geraten und nur deswegen hatte Marc ihre Wasservorräte an sie vergeuden müssen. Sie war schuld daran, dass sie jetzt diesen Riesenumweg machen mussten und damit wertvolle Zeit verloren. „Marc...", brachte sie gepresst hervor.

   „Hey, keine Widerrede – schon vergessen? Außerdem…“ Er hob seinen gesunden Arm und wischte ihr sanft mit dem Daumen eine Träne von der Wange. „…tu das nicht. Zerfleisch dich nicht selbst. Es ist kontraproduktiv und kostet nur unnötig Kraft. Mach dir keine Gedanken. Wir kriegen die Arschlöcher dran. Es dauert nur eben ein, zwei Tage länger. Okay?“

   „Nein…“ Suzanne lächelte angespannt. „Aber es nützt ja nichts.“ Sie zeigte auf ihren Unterleib. „Du, die Natur ruft. Ich müsste mal kurz verschwinden.“

   Im ersten Augenblick sah es so aus, als wolle Marc noch eine Bemerkung machen, doch dann sagte er lediglich ruhig: „In Ordnung. Aber bleib in der Nähe.“

   Sie nickte und eilte nach draußen. Im Grunde genommen musste sie gar nicht. Sie hatte eine Ausrede bemüht und kam sich fast schon mies deswegen vor. Aber sie brauchte einfach mal ein paar Minuten für sich. Draußen blickte sie überrascht hoch. Es war tatsächlich inzwischen stockfinster. Der Mond hatte sich hinter dichten Wolken versteckt und Sterne? Fehlanzeige. Sie seufzte. Hatten sich jetzt sogar Mond und Sterne gegen sie verschworen? Verrückter Gedanke, aber irgendwie schien da was dran zu sein. Momentan lief auf jeden Fall alles gegen sie.

   Die Geschehnisse standen vor einem Wendepunkt, das spürte sie. Wenn es gut ausgehen sollte, dann mussten Marc und sie jetzt zusammen halten wie Pech und Schwefel. Kein Streit mehr und keine unnötigen kraftraubenden Scharmützel. Suzanne seufzte abermals tief, als sie sich eingestand, dass Marc den Gau zwar losgetreten hatte; sie danach aber ziemlich vehement dafür gesorgt hatte, dass sie jetzt eine Menge mehr Schwierigkeiten am Hals hatten, als nötig gewesen wären. Sie schwor sich, von jetzt an ihr Temperament besser im Zaum zu halten. Schon allein um Marcs Willen, der sich hoffentlich eben nicht allzu schwer verletzt hatte. Sie brauchte ihn, so oder so.

   „Suzanne?“

   Ihr Blick flog zurück; dorthin wo sie den Eingang und somit auch Marc vermutete. Wahnsinn, sie konnte ihn in der Dunkelheit noch nicht einmal dort stehen sehen. „Ich bin hier“, rief sie zurück. „Es ist alles in Ordnung.“

   „Kommst du bitte?“ Seine Stimme klang besorgt.

   „Ja, klar.“ Sie hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und hielt auf den Klang seiner Stimme zu. Immerhin, die eingeschlagene Richtung schien zu stimmen, denn schon nach wenigen Schritten konnte sie zumindest schemenhaft die Umrisse von Marcs Gestalt erkennen. Es waren nur noch ein paar Meter bis zum Eingang. „Da bin ich“, verkündete sie und betrat betont selbstbewusst an ihm vorbei die Höhle. Nicht ohne dabei zu registrieren, dass er den einen Arm offensichtlich immer noch extrem schonte.

   Kaum im Inneren blieb sie überrascht stehen. Im Licht der eingeschalteten Taschenlampe war zu erkennen, dass er während ihrer Abwesenheit nicht untätig gewesen war. Die Nebenhöhle war wieder verschlossen und ihr Lager im vorderen Bereich der Höhle fertig hergerichtet. Bemerkenswert fand sie, dass er es geschafft hatte, die mit den Reißverschlüssen verbundenen Schlafsäcke zu trennen, und nun wieder zwei Schlafsäcke auf der ausgebreiteten Decke bereit lagen. Das war ihm mit nur einem voll einsatzfähigen Arm bestimmt nicht leicht gefallen. Dankbar schlüpfte sie in den erstbesten hinein und streckte sich. Die wenigen Schritte vor der Höhle hatten ihr eindrucksvoll gezeigt, dass sie tatsächlich längst noch nicht wieder im vollen Umfang ihrer Kräfte war, doch sie hütete sich, einen Ton darüber verlauten zu lassen.

   „Hey, alles klar bei dir?“, erkundigte er sich mit sanfter Stimme und sie wandte ihm mit einem Lächeln auf den Lippen den Kopf zu.

   „Ja, alles in Ordnung. Danke.“

   „Gerne. Schlaf gut.“

   „Hm…“, murmelte sie betont schläfrig und drehte sich auf die andere Seite. Sie wollte Marc die Möglichkeit geben unbeobachtet von ihr in seinen Schlafsack schlüpfen zu können. Dass er nach wie vor Schmerzen hatte war offensichtlich, auch, wenn er kein Wort darüber verloren hatte.

**********

   Gilian hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil sie die Hochzeitszeremonie so gebannt verfolgt hatte. Es war so anders gewesen, als alles, was sie bislang gesehen hatte, aber nicht minder feierlich. Die jungen Leute waren sich am Ende sehr verliebt und glücklich in die Arme gefallen und hatten sich, unter dem Jubel ihrer Freunde und Verwandten, innig geküßt.

   Nach den Feierlichkeiten wurde gegessen. Gilian konnte das Tier, welches sich auf einem Spieß über einer Feuerstelle drehte, nicht definieren, aber es schmeckte vorzüglich. Erst während des Essens war ihr zu ihrer Überraschung aufgefallen, wie hungrig sie inzwischen war.

   Nach dem Essen wurde die Stimmung ausgelassen. Trommeln und ein paar andere primitive Musikinstrumente wurden herbeigeschafft und die Eingeborenen begannen zu singen und zu tanzen. Man forderte John und sie auf, sich an den Tänzen zu beteiligen und John bedeutete ihr durch Augenkontakt zu ihrem Erschrecken, nicht Nein zu sagen.

   Oh Gott, bitte nicht, flehte sie stumm. Tanzen war schon normalerweise nicht unbedingt ihr Ding, aber hier wurden mit Sicherheit mehr als ein paar Walzerschritte verlangt. Bereits nach einer Minute war sie total überfordert und schaute sich hilfesuchend nach John um. Der hatte so etwas anscheinend schon des Öfteren mitgemacht, denn er wirkte geradezu souverän bei dem, was er tat. Er hatte auf jeden Fall keine Probleme mit den verschiedenen Schritten. Im Gegenteil, er bewegte sich geradezu grazil, während sie sich immer wieder verhedderte und ins stolpern geriet.

   Verzweifelt versuchte sie immer wieder mit den anderen Schritt zu halten, schaffte es aber nicht. John schien ihr Dilemma zu bemerken, denn er erlöste sie, indem er sie bei der Hand nahm, sachte beiseite zog und sie dann auf herrlich koventionelle Art und Weise langsam führte. Das passte zwar nicht zur Musik, aber Gilian genoss dafür umso mehr die Nähe zu ihm. Mit einem dankbaren Seufzer bettete sie ihren Kopf an seiner Schulter und inhalierte den schwachen Rest eines herb männlichen Rasierwassers. Für einen kurzen Moment lang gelang ihr das Kunststück, alles ausblenden und nicht über ihr Tun nachzudenken. Die Aufregung, die Sorge um die Kinder. In diesem kurzen Augenblick war sie nur Frau. Zu einhundert Prozent Frau.

   „Ich gebe zu: Es ist nicht ganz das diplomatische Parkett", grinste John und im Licht des Feuers kam er ihr einmal mehr vor wie ein kleiner Junge. „Aber trotzdem schön, oder?“

   „Machen Sie sich bitte nicht über mich lustig", sagte sie, löste sich von ihm und ging rüber zum Rand des Zeltplatzes. Dort starrte sie in die undurchdringliche Dunkelheit. John folgte ihr, trat hinter sie und folgte ihren Blicken.

   „Es tut mir leid. Das wollte ich nicht", sagte er leise. „Ich bin ein Trampel." Sachte legte er ihr seine Hand auf die Schulter und prompt fing ihre Haut an der Stelle wie verrückt an zu kribbeln. „Ehrlich, ich wollte mich nicht über Sie lustig machen."

   Sie griff über ihre Schulter nach seiner Hand und legte ihre darüber. „Schon gut“, flüsterte sie. „Ich bin zurzeit nur etwas überempfindlich. Das ist alles.“

   John drehte seine Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. „Verständlich."

   Sie fuhr herum und löste so die Verbindung: „Verdammt, John, was tun wir hier eigentlich? Ich meine, das ist doch Wahnsinn. Wir feiern hier, während irgendwo dort draußen unsere Kinder sind." Wild deutete sie mit einer Hand in die Ferne. „Das ist doch verrückt! Total verrückt!“

   „Ja, Sie haben Recht. Ich meine damit, dass irgendwo da draußen unsere Kinder sind. Und Gilian, ich bin mir sicher, es geht ihnen gut.“ Sie musste ihn wohl sehr entsetzt angeschaut haben, denn er schwächte seine Aussage sofort etwas ab. „Also gut, einigen wir uns daruf, dass es den beiden den Umständen entsprechend gut geht. Okay?"

   „Ich frage mich, woher Sie diese Sicherheit nehmen?"

   „Die Sicherheit ziehe ich aus dem Vertrauen zu meinem Sohn. Nach allem, was ich über Ihre Tochter weiß, und so, wie ich Suzanne kennengelernt habe, bin ich mir absolut sicher, dass Sie Ihr Vertrauen ebenfalls mehr als verdient hat.“ Er packte ihre Oberarme und ging leicht in die Knie, um sich auf Augenhöhe mit ihr zu bringen. „Gilian…“, beschwor er sie. „…wir haben tolle Kinder – beide mit gesundem Menschenverstand ausgestattet. Haben Sie Vertrauen. Suzanne und Marc werden das überstehen. Sie werden sehen, die kommen da heil wieder raus."

   „Es klingt so einfach, wenn Sie das sagen.“ Gilian atmete tief durch und schaute zu Boden. „Sie können sehr überzeugend sein, wissen Sie das eigentlich? Aber nach allem, was Sie mittlerweile erfahren haben … über Marc… Verändert das denn gar nichts?“

   „Nein“, antwortete John mit fester Stimme. „Zugegeben, im ersten Moment war ich total entsetzt und habe sehr emotional reagiert. Aber inzwischen hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich weiß nach wie vor nicht, wie das alles zusammenhängt, aber ich glaube fest an Marc. Er mag einen Fehler gemacht haben, aber er ist kein schlechter Mensch.“

   Gilian nickte und blickte weiter auf ihre Füße. Sie wollte John zu gerne in die Augen blicken, etwas von seiner Zuversicht in sich aufsaugen, doch sie schaffte es einfach nicht. Sie hasste es, schwach zu sein, aber so war es nun mal. In diesem Augenblick war sie nur noch eine Mutter voller Angst um ihr einziges Kind. John schien zu spüren, was mit ihr los war, denn er schloss sie spontan in seine Arme.

   „Hey“, flüsterte er in ihr Haar. „Wo ist die starke, selbstbewusste Frau, die es sogar fertigbringt, einen McAllister eiskalt abblitzen zu lassen? Wo ist sie hin?“

   „Fort“, wisperte sie erstickt und schmiegte sich eng an ihn, nur um ihn nicht anschauen zu müssen. „Es tut mir leid. Ehrlich, ich bin normalerweise nicht so ein Weichei.“

   „Schon gut.“ Seine Hand strich zögernd kurz über ihr Haar und danach hielt er sie einfach nur fest. Es war ein sehr intimer Moment, den John schließlich zu ihrem Bedauern beendete. „Ich… Ähm, Gilian, glauben Sie mir, ich könnte noch Stunden hier stehen, aber wir haben Morgen vermutlich einen langen Tag vor uns. Wir sollten versuchen, wenigstens etwas zu schlafen.“ Er löste sich von ihr und streckte seine Hand aus. „Gehen wir?“

   „Ja." Sie gab sich einen Ruck, nickte und legte ihre Hand in seine. „Gehen wir."

 **********

   Als sie schließlich wenige Minuten später Rücken an Rücken in ihrem Zelt lagen, sagte Gilian plötzlich impulsiv: „Ich danke dir."

   „Gerne", antwortete er hörbar überrascht. „Aber wofür?“

   „Dafür, dass du da bist … dass du mich behandelt wie eine Frau und nicht wie irgendein Zirkustier."

   Es entstand eine längere Pause, bis er rau in die Dunkelheit hinein antwortete: „Ob du es glaubst oder nicht: Das ist mein größtes Problem zurzeit."

   „Wie meinst du das?"

   „Ich sehe dich viel zu sehr als Frau. Viel mehr als für mich, meine Leute und meine Station gut sein könnte."

   Gilian drehte sich und tastete im Dunkeln nach Johns Hand. „Das ist kein Problem, hörst du? Und ich will auch nicht, dass es eines für uns wird. Versprich mir das. Bitte."

   „Okay, versprochen“, murmelte John nach einer weiteren Pause.

   Damit gab sie sich zufrieden, obwohl sie durchaus realisiert hatte, dass seine Worte nicht wirklich überzeugend geklungen hatten.

 

54. Kapitel

 

   Marc warf einen Blick auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. Zwei Stunden waren vergangen! Zwei Stunden, in denen er Suzannes ruhigen Atemzügen gelauscht und selber kein Auge zugetan hatte. Er gab auf, sah ein, dass weitere Versuche keinen Sinn machten und beschloss Suzanne zu wecken. Er krabbelte aus seinem Schlafsack und rüttelte sie vorsichtig am Arm. Nach einigen Sekunden rührte sie sich leise brummelnd.

   „Hey, wie geht´s dir?“

   Suzanne öffnete die Augen, blinzelte und starrte ihn verschlafen an. „Ganz okay, glaub´ ich“, antwortete sie nach einer Pause.

   „Ich wollte vorschlagen, dass wir uns so langsam auf den Weg machen. Also, vorausgesetzt natürlich, du fühlst dich stark genug.“

   „Wird schon gehen“, antwortete sie und schälte sich umständlich aus ihrem Schlafsack heraus. „Wir können ja dann vielleicht am Wasserloch nochmal eine längere Pause einlegen.“

   „Klar. – Halt, warte", hielt Marc sie zurück, als sie Anstalten machte, auf die Füße zu kommen. „Leg dich nochmal hin, nein, auf den Schlafsack, und dreh dich bitte auf die Seite. Ich will noch einen Blick auf deine Wunde werfen und einen Verbandswechsel machen."

   Suzanne folgte kommentarlos seiner Aufforderung, während Marc seitlich neben ihr auf die Knie ging und den alten Verband entfernte. Danach säuberte er sehr vorsichtig die Wunde, trug neue Salbe auf und legte danach einen sauberen Verband an.

   „Sieht gut aus", verkündete er, als er fertig war. „Die Wunde verheilt prima.“

   „Super, ich fühle mich auch schon viel besser", antwortete sie mit einem Lächeln. „Danke, das hast du gut gemacht.“

   „Na ja, gutes Heilfleisch hilft natürlich“, sagte er lakonisch. „Du scheinst welches zu haben.“

   „Aber ohne deine Behandlung hätte das alleine auch nichts genutzt. Ich bleibe dabei: Du würdest wirklich einen guten Arzt abgeben."

   „Hör auf damit", erwiderte er kurz, wandte sich ab und packte ihre Sachen zusammen. „Du weißt sehr gut, dass der Zug abgefahren ist."

   „Ja“, sagte sie nachdenklich. „Aber man kann doch trotzdem drüber nachdenken. Träumst du nie? Komm schon, was würdest du tun, wenn wenn du die Wahl hättest?“

   „Warum sollte ich sinnlosen Träumereien hinterher jagen? Die Frage stellt sich schlicht nicht mehr. Es wäre idiotisch, dem nachzutrauern.“

   Suzanne überlegte kurz, doch dann beschloss sie, dass es besser war, es gut sein zu lassen. Stattdessen verkündete sie lediglich: „Wenn du meinst. Okay, jetzt bin ich dran.“

   „Was?"

   „Na ja, du hast mich verarztet, und jetzt werde ich mich revanchieren.“

   Er blickte nicht einmal auf. „Wozu? Mir fehlt nichts."

   „Marc, hör auf mit dem Scheiß. Mir machst du nichts vor. Na los, zieh dein Hemd aus."

   Er verzog sein Gesicht zu einer gequälten Grimasse. „Suzanne..."

   „Ich weiß, wie ich heiße. Und jetzt lass mich bitte endlich deine Schulter, Schrägstrich, deinen Arm ansehen."

   Marc verdrehte ergeben die Augen, setzte sich seufzend in den Schneidersitz, und wand sich nicht ohne Probleme aus seinem Hemd heraus. Die Situation machte ihn nervös, aber Suzanne schien noch viel nervöser zu sein als er. Auf jeden Fall starrte sie einen langen Moment lang schweigend auf seinen nackten Oberkörper.

   „Einen Penny für deine Gedanken“, warf Marc trocken ein.

   Suzanne fuhr zusammen und kicherte nervös. „Ich überlege nur, wie ich es am Besten angehe, schließlich will ich dir nicht wehtun.“

   „Okay, dann schlage ich vor, wir brechen das an dieser Stelle ab.“

   „Kommt nicht in Frage.“ Sie holte einmal tief Luft und hob ihre Hand. „Vorsicht, es geht los.“ Vorsichtig tastend ließ sie ihre Finger über sein Schulter und seinen Arm gleiten.

   Prompt zuckte er zusammen und sog zischend die Luft ein.

   „Oh Gott, sorry.“ Eilig zog sie ihre Hand zurück. „Es ist ein bisschen blau und geschwollen, aber sonst ist nichts zu sehen. Äußerlich. Aber da ist was, oder? Ich seh´s dir an. Das ist mehr, als nur ein blauer Fleck. Komm schon, du hast doch eine Ahnung?“

   „Ja, die habe ich allerdings. Die Schulter ist ausgekugelt. Das alleine wäre nicht so schlimm, aber ich fürchte, dass da irgendwo noch eine Bruchstelle im Oberarm ist.“

   „Was?“, rief Suzanne erschrocken aus. „Bist du irre?“

   „Nö“, sagte er knapp und gleich darauf laut: „Scheiße!“ Er hatte ohne groß darüber nachzudenken mit den Schultern zucken wollen, was ihm direkt wieder eine derartige Schmerzwelle bescherte, dass er erst ein paar Mal kräftig nach Luft schnappen musste, bevor er weiterreden konnte. „Ich sage nur, wie es ist. Irgendwas hat da drinnen fürchterlich geknackst. Und das war nicht nur das Gestein. Seitdem … na ja…" Er ließ das Ende des Satzes offen und blies stattdessen nur vielsagend die Wangen auf.

   „Ja aber… Himmel, warum hast du vorhin nichts gesagt?"

   „Hätte es denn was geändert?", konterte er trocken.

   „Nein", musste sie zugeben und versuchte seinen Blick einzufangen. „Konntest du überhaupt ein wenig schlafen?"

   Marc sparte sich die Antwort. Stattdessen fing er an ihr Gepäck zusammenzuräumen, stieß aber ziemlich direkt auf Schwierigkeiten. „Ähm, ich fürchte, die Schlafsäcke musst du zusammenrollen.“

   „Also nicht! Verdammt!“ Mit einer frustrierten Handbewegung strich sie sich die Haare nach hinten. „Marc, du musst dich genauso ausruhen, wie ich. Sonst funktioniert das nicht."

   „Zerbrich dir nicht meinen Kopf. Ich schaff´ das schon“, murmelte er.

   „Warum? Warum musst du immer alles alleine mit dir ausmachen?“, rief sie empört. „Mann, Scheiße, du warst schließlich derjenige, der mir eingetrichtert hat, dass wir zusammenhalten müssen. Dir dürfte doch wohl klar sein, dass ich ohne dich hier aufgeschmissen bin, oder?“

   „Schon klar. Aber du überraschst mich. Es klingt fast, als hättest du diese Tatsache inzwischen auch akzeptiert.“ Er grinste schief. „Immerhin weiß ich jetzt, warum du dich so um mich sorgst.“

   „Spar dir deinen Zynismus“, reagierte sie überraschend kalt. „Du kannst einen echt in den Wahnsinn treiben, aber ich vermute, das weißt du. Du … du bist…“ Sie hielt inne und Marc hoffte, sie würde sich beruhigen, aber das war nicht der Fall. Zumindest nicht so, wie er sich das wünschte. „Eigentlich hatte ich mir ja vorgenommen, nicht mehr mit dir zu streiten“, verkündete sie nach einer kurzen Pause mit fester Stimme. „Aber du, du schaffst es echt immer wieder, mich auf die Palme zu bringen. Gratuliere. Zusammen, verstehst du eigentlich, was dieses Wort bedeutet? Auf jeden Fall nicht du für uns beide. Warum zum Teufel musst du immer alles alleine regeln? Läßt du niemals jemanden an dich heran, oder ist das nur dein Privileg, dass du dir für meine Person aufhebst?"

   „Das reicht jetzt“, unterbrach er sie schärfer als geplant. „Was soll das? Du unterstellst mir Dinge, von denen du nicht die geringste Ahnung hast. Scheiße, du kennst mich überhaupt nicht!"

   „Warum ist das wohl so? Weil du es nicht zuläßt“, warf sie ihm an den Kopf und beantwortete sich damit ihre Frage gleich selbst.

   „Red keinen Stuss.“

   „Ach ja? Ich rede Stuss? Beweis mir, dass ich falsch liege. Sag mir, wie ich dir helfen kann. Was kann ich tun, damit es dir besser geht? Mach schon. Sag´s. Oder kannst du es nicht?“ Sie fixierte ihn auffordernd. „Geht nicht, oder? Na los, ich höre.“

   Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er diese fruchtlose Diskussion weiterführen, doch dann gab er überraschend klein bei. „Okay, davon ausgehend, dass du noch nie `ne Schulter wieder eingerenkt hast, wär `ne Schiene nicht schlecht. Damit würde der Arm wenigtens etwas ruhig gestellt. Aber woher nehmen und nicht stehlen?“

   „Hm, du hast Recht, das hab´ ich tatsächlich noch nicht.“ Suzanne ersparte ihm freundlicherweise den Triumpf, ihn darauf hinzuweisen, dass sie das Geplänkel gewonnen hatte, sondern antwortete entschlossen. „Also gut, schienen.“ Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe rum und nickte. „Ich denke, das krieg´ ich hin."

   „Und womit?“

   „Mach dir keinen Kopf. Ich werd´ schon was auftreiben." Sie verließ die Höhle und kam kurz darauf mit einem geraden Stück Holz mit etwa fünf Zentimeter Durchmesser zurück, das sie abschätzend gegen Marcs Arm hielt. „Das müsste gehen. Jetzt brauchen wir nur noch etwas zum fixieren und eine Schlinge." Sie schaute sich in der Höhle um, und als ihr nichts Passendes ins Auge fiel, zuckte sie mit den Achseln und zog ihre Bluse aus. Ein kräftiger Ruck und los ging es. Marcs Augen weiteten sich, während er beobachtete, wie Suzanne nach und nach ihre Bluse von unten nach oben in Streifen teilte. Das Geräusch des reißenden Baumwollstoffes klang in der Höhle beinahe unnatürlich laut.

   „Was zur Hölle tust du da?", fragte er verblüfft.

   „Ich bastele“, gab sie kurz zur Antwort.

   „Wie bitte? Hör mal, ich bin kein Versuchs…“

   „Blödsinn. Du kannst es nicht wissen, aber ich bin ganz gut im Basteln. Wirst sehen, das funktiert. Mit den schmalen Streifen fixiere ich die Schiene an mehreren Stellen und die breiteren knote ich zu einer Schlinge zusammen. Komm her. Nein, stopp, warte, ich komm´ zu dir rüber.“

   Ehe er es sich versah, kniete sie neben ihm, griff sachte nach seinem Arm und legte die Holzschiene seitlich daran an. „Halt mal“, bat sie. Marc griff mit der gesunden Hand rüber, hielt das Holz und beobachtete danach nur äußerlich ruhig, wie Suzanne die schmalen Stoffstreifen an zwei strategisch günstigen Stellen um den Holzscheit und seinen Oberarm wickelte und alles konzentriert verknotete. Anschließend verarbeitete sie die übrig gebliebenen breiteren Streifen zu einem langen Strang. Sie beugte sich vor, legte Marc das Teil um den Hals und verknotetete die Enden, ebenso sorgfältig wie zuvor die schmalen Streifen am Arm, in seinem Nacken. Zuletzt griff sie wieder nach seinem verletzten Arm, winkelte ihn an und manövrierte ihn vorsichtig in die so entstandene Schlinge. Zuletzt betrachtete sie zufrieden ihr Werk. „Fertig. Und? Was sagst du? Wird’s gehen?“

    „Ich denke schon“, antwortete er kurz. Er hatte mit der Nähe zu kämpfen, die eben während Suzannes Aktion zwischen ihnen entstanden war und der Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, wollte sich noch nicht geschlagen geben.

   „Mist, wir haben was vergessen.“ Sie deutete auf sein Hemd, das achtlos neben den Schlafsäcken lag. „Also gut, auf ein Neues.“

   „Nein!“, sagte er hastig. „Lass gut sein!“ Er griff hastig mit seiner gesunden Hand nach dem Hemd und stopfte es ungeschickt in den Rucksack. „Ich … ich bleib´ erstmal so, wenn´s dich nicht stört.“

   „Tut es nicht“, antwortete Suzanne. „Trotzdem sollten wir das ändern. Wenn du den ganzen Tag über so rumläufst wirst du heute Abend einen höllischen Sonnenbrand haben.“

   „Wenn schon. Es wäre nicht mein erster. Suzanne, bitte. Lass es einfach“, setzte er schärfer als beabsichtigt hinzu, als sie trotz seiner Ablehnung wieder auf ihn zukam. Als er daraufhin ihren Gesichtsausdruck bemerkte tat ihm seine Schroffheit sofort leid. Schließlich konnte sie nicht ahnen, dass es für ihn etwas ganz anderes war, wenn er sie beim Verarzten berührte, als wenn sie ihn aus eigenem Antrieb berührte. Ihr Haar hatte seine Wange gestreift, während sie die Schlinge in seinem Nacken verknotet hatte … ein unglaubliches Gefühl. Außerdem war sein Gesicht war verdächtig nah am Ausschnitt ihres Tops gewesen, was sein Inneres noch viel mehr in Aufruhr versetzt hatte. Definitiv mehr als ihm lieb, und mehr als für sie beide gut war.

   Marc machte sich bewusst, dass Suzanne sich dessen gar nicht bewusst war. Woher sollte sie auch wissen, was sich in ihm abspielte? „Hey“, bat er nach einer peinlichen Pause deutlich sanfter. „Sei nicht sauer, okay? Es tut halt ziemlich weh.“

   „Ein Sonnenbrand kann auch ziemlich wehtun“, reagierte sie störrisch. „Warum willst du dir nicht von mir helfen lassen?“

   Er grinste schief. „Gönn´ mir einfach `ne Pause, okay? Du willst doch sicher nicht riskieren, dass mir vor Schmerzen schlecht wird. Ich meine, das bisschen, was ich im Magen habe will ich nicht auch noch ausko…“

   „Schon gut“, antwortete sie hastig und lächelte andeutungsweise. „Tut mir leid, darüber hab´ ich nicht nachgedacht.“

   „Schon okay.“ Er stand auf und blickte sich um. „Haben wir alles? Sieht so aus, oder? Okay, dann los. Machen wir uns auf den Weg.“

**********

   „Ich hab´ gestern Abend nach dir gesucht. Wo zum Teufel warst du?“, zischte Mitch, als er Scott am nächsten Morgen im Waschraum traf.

   „Wachdienst an der Pforte. Ich musste einspringen“, gähnte Scott. „Und das obwohl ich gestern schon die Frühschicht hatte. Mann, das war vielleicht `ne Nacht. Andauernd kamen irgendwelche Lieferungen vom Flughafen. Es ging zu wie in `nem Taubenschlag.“

   „Scheiße, hast du nicht gesagt, du hättest frei?“

   „Ja, dachte ich auch“, ätzte Scott. „Falsch gedacht, aber keine Sorge, ich war vorher noch am Steinbruch. Bin bei meiner Rückkehr nur unglücklicherweise dem General über den Weg gelaufen. Dem kam ich gerade recht. Und jetzt bin ich total am Arsch. Ich brauch´ `ne Dusche und danach hau´ ich mich erstmal aufs Ohr.“

   „Das heißt, du hast das Zeug?" Das war offensichtlich alles, was Mitch interessierte. Ein äußerst unwillkommener Gedanke schoss durch seinen Kopf und er packte seinen Kumpel hart am Arm. „Scheiße, sag jetzt nicht, dass der General…“

   „Nein, verdammt", raunzte Scott seinen Kumpel ungewöhnlich aufmüpfig an. „Der General hat nichts bemerkt. Ich hab´ den Stoff…“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er „…und noch mehr“, hinzufügte.

   Mitch hob fragen die Augenbrauen. „Was meinst du?"

   „Tu nicht so. Ich denke, du weißt sehr gut, was ich meine!"

   „Red kein Blech. Sag schon, was hast du gefunden?"

   „Das hier!" Scott griff in seine Hosentasche und hielt Mitch den Flachmann unter die Nase. „Du erzählst mir doch immer, ich soll bei unseren Geschäften nicht saufen. Toll, ich Idiot halt´ mich dran und was machst du? Kippst dir selber heimlich einen hinter die Binde, du linke Bazille! Was glaubst du eigentlich wer du bist, dass für dich…"

   „Mach den Kopp zu.“ Mitch starrte auf die Flasche und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Wo hast du die gefunden?"

   „Wo wohl? Beim Steinbruch. Sie lag in der Höhle!"

   „In unserem geheimen Versteck?“

   „Nein, ein Stück davor.“

   Mitch atmete sichtlich auf. „Die ist nicht von mir!“

   „Was?“ Scott riss überrascht die Augen auf.  „Von wem sollte sie denn sonst sein?"

   „Als wir das letzte Mal dort waren, war sie noch nicht da. Dessen bin ich mir absolut sicher. Also, was glaubst du wohl, von wem die ist, du Gehirnakrobat."

   „Du meinst ... die beiden...?"

   „Wer denn sonst, du Idiot!“, fauchte Mitch, während er gleichzeitig die Tür zum Waschraum aufriss und sich durch einen Blick in den Flur vergewisserte, dass sich niemand in Hörweite befand. „Wann warst du zurück in der Kaserne?"

   „Keine Ahnung, ich hab´ nicht auf die Uhr gesehen, aber es war schon fast stockdunkel."

   „Scheiße!“, fluchte Mitch. „Ich mach´ mich sofort auf den Weg. Die zwei waren in der Höhle, soviel ist sicher.“

   „Da war niemand, Mann.“ Scott klang alles andere als selbstsicher.

   „Das sagst du. Vielleicht haben sie sich versteckt, als sie dich kommen hörten. Vermutlich wollten sie die Nacht sicher in der Höhle verbringen, bevor sie weiter ziehen. Oder einer von beiden ist verletzt und sie können nicht weg. Was weiß ich? Der springende Punkt ist, dass sie immer noch dort sein könnten“, deklariete Mitsch aufgeregt. „Falls nicht, kann ihr Vorsprung nicht sehr groß sein. Womöglich sind noch Spuren vor der Höhle, die uns verraten, welche Richtung sie eingeschlagen haben.“

   „Verstehe, du möchtest sie dir schnappen. Quasi als zusätzliches Druckmittel. Gute Idee“, grinste Scott zufrieden.

   „Nein!“ Mitch versetzte seinem Kumpel einen Schlag vor den Brustkorb, der Scott ein paar Schritte zurücktaumeln und mit der Hüfte gegen ein Waschbecken prallen ließ. „Von möchten kann keine Rede sein. Jetzt müssen wir sie uns schnappen. Idiot! Denk doch mal nach: Was ist, wenn die beiden dich tatsächlich gesehen haben? Scheiße, wer weiß, was sie womöglich noch in der Höhle gefunden haben? Die beiden sind jetzt brandgefährlich für uns. Na, klingelt´s, du Superhirn?“

   Scott war blass geworden: „Was hast du vor?“ Seine Stimme zitterte.

   „Die beiden müssen weg“, verkündete Mitch eiskalt. „Ohne Wenn und Aber. Mann, Scott, wie kann man nur so dämlich sein!“

 

55. Kapitel

 

   „Kann ich einen Schluck Wasser haben?", bat Suzanne. „Ich hab´ einen höllischen Durst. Ehrlich, ich könnte `ne ganze Wanne leer saufen."

   „Mach dir keine Sorgen, das ist normal. Das sind Nachwirkungen des Fiebers", bemerkte er gelassen, reichte ihr die Feldflasche und beobachtete, wie sie gierig den Rest daraus trank. Danach nahm er die Flasche wieder von ihr entgegen. „Außerdem atmen wir seit Stunden Staub ohne Ende ein. Da bleibt das nicht aus. Wie geht´s dir denn sonst so?“

   „Ganz gut soweit, aber… Hey, was machst du? Füllst du die Flasche nicht wieder auf?", erkundigte sie sich besorgt, als sie sah, wie er die Flasche sorgsam im Rucksack verstaute.

   „Würde ich ja, aber da ist nichts mehr, was ich zum auffüllen verwenden könnte", erklärte er schlicht, hob zum Beweis den Kanister an und schwenkte ihn hin und her. „Leider.“

   „Scheiße, warum hast du nichts gesagt? Ich hätte doch mit dir geteilt."

   „Weil du im Moment die Flüssigkeit dringender brauchst, als ich. Außerdem bin ich nicht sonderlich durstig", log er. „Außerdem sind wir ja bald am Wasserloch.“

   „Warte.“ Suzanne griff nach seinem unverletzten Arm, drehte ihn zu sich herum, betrachtete ihn kritisch und fand ihr Gefühl bestätigt. Marc sah vollkommen fertig aus. Der Schmutz in seinem Gesicht konnte die dunklen Augenringe nicht verbergen. Seine sonst so klaren, braunen Augen blickten trübe unter halb geschlossenen Lidern hervor und seine Lippen waren spröde und rissig.

   „Was ist?“

   Scheiße, selbst seine Stimme klang fremd, erkannte sie jetzt. „Wann hast du zuletzt was getrunken?", fragte Suzanne streng.

   „Lass gut sein. Mir setzen nur gerade die Schmerzen ziemlich zu“, nuschelte Marc. „Wird schon wieder, wenn wir gleich `ne Pause machen.“

   „Wehe dir…“ Sie zwang ihn, ihr in die Augen zu blicken. „Ich warne dich, versuch ja nicht, mich zu verarschen! Wir sitzen hier in einem Boot und ich will die Wahrheit von dir hören. Also los, wann?"

   „Keine Ahnung", flüsterte Marc und senkte den Blick zu Boden. „Ist wohl schon `ne Weile her.“

   „Hast du´n Knall!“, schnauzte sie. „Du bist verrückt! Nochmal zum mitschreiben, du armer Irrer: Was glaubst du, was es nützt, wenn du nur dafür sorgst, dass es mir gutgeht? Wenn du schlappmachst beißen wir beide ins Gras.“ Sie ließ ihn los und fuhr sich durch die Haare. „Gott, du hast echt Glück, dass du verletzt bist. Ich würde dich am liebsten packen und schütteln. Wie weit ist es noch bis zu diesem Wasserloch?"

   Schon der Blick zum Himmel, wo die Sonne bereits wieder unbarmherzig vom Himmel knallte, schien ihm Mühe zu bereiten, denn er kniff die Augen zusammen und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Es kann nicht mehr weit sein", murmelte er, bevor unvermittelt seine Beine nachgaben. Er schaffte es gerade noch, sich auf eine Baumwurzel zu setzen, ansonsten wäre er haltlos zu Boden gegangen.

   „Hey", sagte sie erschrocken. „Mach mir jetzt bloß nicht schlapp.“

   „Keine Sorge." Mit seinem gequälten schiefen Grinsen wollte er sie wohl beruhigen, was aber nicht wirklich funktionierte. „Ich will nur einen Augenblick ausruhen. Geht gleich weiter."

   „Gib her." Suzanne schnappte sich den Rucksack, der ihm von der Schulter geglitten war und jetzt in seiner Ellbogenbeuge halb im Staub hing. „Wir haben noch Kekse", verkündete sie gleich darauf. „Magst du?"

   „Nee, danke. Lieber nicht.“ Marc winkte müde ab und erhob sich, immer noch etwas wackelig auf den Beinen, von der Wurzel. „Lass uns lieber weitergehen. Je eher wir am Wasserloch ankommen, desto besser."

   „Okay, komm, stütz dich auf mich. Und...! Dieses Mal war sie es, die warnend den Zeigefinger hob: "...keine Widerrede."

   Marc schüttelte zwar den Kopf, ließ sich aber willig von Suzanne helfen. „Hoffentlich ist überhaupt Wasser da", sprach er dann einen Gedanken aus, der Suzanne auch schon beschäftigt hatte, den sie aber immer wieder rigoros von sich gewiesen hatte. Sie hatte ihn schlicht nicht zulassen wollen, auch wenn er allgegenwärtig in ihrem Kopf herumspukte.

   Jetzt jedoch, wo er ausgesprochen in der Luft hing, weiteten sich ihre Augen erschrocken, obwohl der Gedanke ja durchaus nicht neu für sie war. „Was willst du damit sagen? Dass das Wasserloch leer sein könnte?"

   „Es hat lange nicht mehr geregnet. Wäre also durchaus möglich." Marcs Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

   „Quatsch, soviel Pech hat niemand", verkündete Suzanne im Brustton der Überzeugung. „Das haben wir einfach nicht verdient.“

   „Deinen Optimismus möchte ich haben", murmelte Marc, was ihm einen leichten Rippenstoss von Suzanne einbrachte, der ihm ein kurzes „Uff“ entlockte. Gott sei Dank ging sie an seiner unverletzten Seite.

   „Ich würde sagen, ein wenig Optimismus kann in unserer Lage nichts schaden. Überleg doch mal, was wir schon alles erreicht haben. Du wirst sehen, da ist Wasser.“ Sie nickte bekräftigend, um Marc und auch sich selber Zuversicht zu geben. „Wir werden soviel trinken, dass wir hinterher richtige Wasserbäuche haben. Jawohl, du wirst sehen.“

   „Ja, ganz recht. Super. So machen wir das. Kurz darauf kotzen wir uns dann die Seele aus dem Leib und leiden vermutlich zusätzlich auch noch an Durchfall. `Ne wahnsinnig tolle Vorstellung hier draußen.“

   „Mann, dein ständiger Zynismus macht mich wahnsinnig. Gut, wir werden also nur etwas trinken, unsere Wasservorräte auffüllen und rasten. Wenn wir dann später zurück sind, können wir alle Missverständnisse aufklären. Du wirst voll entlastet, diese Typen wandern in den Knast und..."

   „...mein Vater verliert seine Existenz. Die Subventionen kann er sich in die Haare schmieren und mein Geld ist in jedem Fall futsch", beendete Marc trocken den Satz. „Hey, danke, dass du mir das alles noch mal vor Augen führst. Ich fühl´ mich gleich besser. Guck nicht so, ehrlich, ich freu´ mich wie Bolle.“

   „Red keinen Stuss! Meine Mutter wird nicht zulassen, dass ihr alles verliert. Auf keinen Fall."

   „Was ist, wenn ihr die Hände gebunden sind? Schon mal darüber nachgedacht. Ich will nicht bezweifeln, dass deine Mutter ein feiner Kerl ist, aber der General hat einflussreiche Freunde. Überall. Glaub mir, er wird seinen Einfluss nutzen."

   „Trotzdem..."

   „Was zum Teufel macht dich eigentlich so verdammt sicher, dass das hier alles gut ausgeht?!", entfuhr es ihm zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder unbeherrscht. „Suzanne, das ist kein Spiel! Wir stecken tief in der Scheiße, ist dir das eigentlich bewusst?“

   „Oh, ja, und wie!“ Suzanne blieb abrupt stehen und fing seinen Blick ein. „Gut, da du ja offensichtlich mit Blindheit geschlagen bist, werde ich dir verraten, was mich so sicher macht: Dein Vater hat mächtig Eindruck auf meine Mutter gemacht."

   „Was meinst du? Seine Arbeit, das, was er aufgebaut hat, die Station? Ist ja alles gut und schön, aber…"

   „Nein, du Dummkopf“, unterbrach sie ihn. „Ich meine deinen Vater."

   „Was? Du glaubst…“ Marc starrte sie ungläubig an: „Nein, Quatsch. Eine Frau wie deine Mutter und mein Vater? Nein, da liegen Welten zwischen." Er schüttelte vehement den Kopf. „Nie und nimmer.“

   „So? Meinst du? Wenn du dich da mal nicht irrst. Ich weiß, was ich sehe.“ Suzanne überlegte einen Moment, bevor sie fragte: „Darf ich dir eine Frage stellen? Wäre aber ziemlich persönlich."

   „Egal, was ich antworte, du tust es ja doch", reagierte er lakonisch, wandte sich von ihr ab und stolperte mit hängendem Kopf weiter. „Immer raus damit.“

   „Warst du schon mal verliebt? Ich meine, so richtig? Nicht bloß verknallt.“ Suzanne setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung und folgte Marc, der gerade irgendetwas Unverständliches vor sich hin murmelnd um eine Gruppe Büsche links herum abbog. „Hey, ich hab´ dich was gefragt“, verlangte sie nach einer Antwort. „Warst du schon mal so richtig verliebt? Mit Herzflattern, weichen Knien, Schmetterlingen im Bauch und allem, was dazu gehört? Womöglich sogar in eine Afrikanerin? Versteh mich nicht falsch, ich meine, in jemanden, der auf den ersten Blick überhaupt nicht zu dir zu passen scheint.“

   „Was soll die Frage?“, wich er aus. „Das kann man doch wohl kaum miteinander vergleichen.“

   „So? Und warum bitteschön nicht?"

   „Weil ... weil..."

   Suzanne überholte ihn und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Marc sein Gesicht verzog. Vermutlich befürchtete er, dass sie ihn wieder anhalten und zu einer Antwort zwingen wollte. Der Gedanke war auch nicht falsch, denn, wenn sie nicht zufällig in diesem Moment nach vorn geschaut hätte, wäre es sicher dazu gekommen. So aber…

   „Oh Gott, Marc!“ Abrupt bliebt sie stehen und wies aufgeregt nach vorn. Nur am Rande registrierte sie, dass ihr Arm dabei unkontrolliert zu zittern begann: „Sieh doch nur: Wasser! Da ist tatsächlich Wasser! Wir haben es geschafft!"

**********

   Sofort nach dem Gespräch mit Scott hatte Mitch sich auf den Weg zum Steinbruch gemacht. Als er die Höhle betrat fand er sie ruhig und verlassen vor.

   „Fuck!“ Nachdem er sich kurz umgesehen hatte gab er sich keine Mühe mehr leise zu sein, denn ihm war schnell klargeworden, dass er zu spät gekommen war. „Scott, du verdammter Idiot!“

   Wütend sah er sich erneut um. Alles schien normal zu sein. Auf den ersten Blick wies nichts darauf hin, dass außer ihm und Scott noch jemand in der Höhle gewesen war. Allerdings wusste er im Gegensatz zu Scott, worauf er zu achten hatte, also nahm er sich Zeit, um sich trotz allem gründlich umzusehen. Im vorderen Teil der Höhle entdeckte er nichts, was auf ungebetene Besucher hätte schließen lassen, doch im hinteren Bereich fand er auf dem Boden eindeutige Spuren eines Lagerplatzes. Damit war seine Vermutung bestätigt. Die beiden waren hier gewesen und hatten offensichtlich sogar hier übernachtet.

   „Diese verdammten... Hoffentlich haben sie nicht…“ Eilig öffnete er den Felsvorsprung, der den Eingang zu ihrem Geheimversteck verbarg und fand zu seiner großen Erleichterung alles unverändert vor. „Glück gehabt", murmelte er vor sich hin.  

   Just in dem Moment, als er den Vorsprung wieder schließen wollte, bemerkte er jedoch einen kleinen Stofffetzen, den er beim öffnen übersehen hatte. „Verdammte Brut!", fluchte er, zerrte das Stück Stoff zwischen dem Gestein hervor und ballte die Faust darum. „Wenn ich euch in die Finger kriege..."

   Jetzt mussten sie die Tochter der Botschafterin und diesen dämlichen amerikanischen Eingeborenen umso dringender finden. Die beiden hatten etwas gesehen, dass ihn und seinen Freund für Jahre hinter Gitter bringen konnte. Mit Wilderern verstand man in dieser Gegend überhaupt keinen Spass. Mitchs Gehirn arbeitete fieberhaft. Natürlich war nicht sicher, dass man ihm und Scott die Wilderei beweisen konnte, aber sicher war sicher. Sie mussten schnellstmöglich ein neues Versteck finden. Der nächste Termin für die Ausfuhr der Ware war erst in zwei Wochen. Sie konnten nicht riskieren das Zeug so lange weiter in der Höhle zu lagern. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen. Auf Scott war kein Verlass, dem ging eh schon der Arsch auf Grundeis.

   Mitch verließ die Höhle und blickte mit zusammengekniffenen Augen ringsum in die flirrende Hitze, in der Hoffnung, irgendetwas zu sehen, was ihm einen Tipp gab. „Na ja, die Hoffnung stirbt zuletzt“, murmelte er, als er schließlich einsah, dass es da nichts zu entdecken gab, außer dass, je weiter er schaute, der Horizont mehr und mehr vor seinen Augen verschwamm. Nicht zu fassen, der Tag hatte kaum richtig begonnen und es war schon wieder beinahe unerträglich heiß.

   „Diese verfluchte Hitze“, fluchte er, holte eine Flasche Wasser aus dem Wagen und trank in langen Zügen. Plötzlich hielt er inne und dachte nach. „Ihr braucht Wasser“, sagte er zu sich selber. „Logisch braucht ihr Wasser. Soviel könnt ihr unmöglich bei euch haben. Also, woher zum Teufel bekommt ihr euer Wasser?“

   Er konzentrierte sich nun auf den Boden und hoffte, wenigstens hier etwas zu finden. Irgendetwas, eine Spur, die verriet, welche Richtung Marc und Suzanne von hier aus eingeschlagen hatten. Er kontrollierte alles rund um den Steinbruch, und es hob seine Stimmung nicht gerade, als er nach einer ergebnislosen Viertelstunde feststellen musste, dass da leider nichts zu finden war. Da war verflucht nochmal rein gar nichts außer Staub und Sand. Also gut, dann mussten ihm eben die Eingeborenen weiterhelfen. Wenn jemand wusste, wo in dieser Gegend die Wasserlöcher zu finden waren, dann doch wohl die. Genau, das war es, dachte er. Dass er nicht schon eher daran gedacht hatte.

**********

   Suzanne und Marc standen am Rand der großen Lichtung, an deren hinteren Ende das so heiß ersehnte Wasserloch zu sehen war. Sie waren nah genug dran, um auf den ersten Blick zu erkennen, dass ihre Sorge unbegründet gewesen war. Die Wasseroberläche spiegelte sich in der Sonne und warf glitzernde Muster. Eine Herde Zebras stand ein Stückchen entfernt am Ufer und löschte friedlich seinen Durst. Marc stieß einen Seufzer aus. Ja! Sie hatten es geschafft, für´s Erste waren sie gerettet. Die Woge der Erleichterung, die ihn durchflutete war so unbeschreiblich, dass sie ihn erzittern ließ.

   „Wasser." Beinahe andächtig sprach Suzanne das eine Wort aus. „Marc, du bist ein Genie."

   „Blödsinn. Ich war früher schon mal hier", wehrte er bescheiden ab. „Ich musste mich nur richtig erinnern. Keine Hexerei.“

   „Los, komm schon, lass uns gehen." Suzanne konnte es kaum noch abwarten und zerrte ihn an seiner gesunden Hand hinter sich her. Am Ufer ließ sie ihr Gepäck am Rand der Böschung einfach fallen und stürmte wie eine Verrückte mit langen Schritten voran ins Wasser. Eine Menge Spritzer stoben auf, als sie sich nach einigen Schritten der Länge nach ins seichte Wasser fallen ließ. Einige Vögel flogen erschreckt durch ihren Übermut laut prostestierend auf und davon.

   „Nicht trinken. Geh' erst ein wenig tiefer hinein", rief Marc ihr hinterher. „Dort ist das Wasser sauberer. Und pass auf deine Wunde auf!"

   „Ja, ja, schon gut.“ Die Warnung kam allerdings viel zu spät, denn sein provisorisch angelegter Verband hatte sich bereits gelöst und dümpelte einsam auf der Wasseroberfläche, während Suzanne aufstand und energisch tiefer ins Wasserloch hinein stapfte. Die Zebras blickten neugierig zu dem seltsamen Tier auf zwei Beinen herüber, fühlten sich aber offensichtlich nicht von ihr bedroht.

   Suzanne blieb stehen, schöpfte mit beiden Händen Wasser von der Oberfläche und trank gierig. Den Vorgang wiederholte sie einige Male und als der erste Durst gestillt war ging sie in die Knie und stieß sich mit den Füßen nach hinten ab, so dass sie rücklings über die Oberfläche glitt. Ein paar Paddelbewegungen mit den Händen … gerade so viel, dass sie nicht unterging. Offensichtlich mochte sie die Illusion vermeintlich schwerelos über das Wasser zu gleiten genauso wie er. Marc spürte, wie sich seine Lippen zu einem stillen Lächeln verzogen. Das Mädchen schaffte es doch immer wieder, ihn zu überraschen.

   „Marc? Wo bleibst du denn? Komm schon, das Wasser ist fantastisch“, rief sie o.hne ihre Position zu verändern. „Es tut so gut.“

   Er setzte sich in Bewegung und schlenderte langsam in Suzannes Richtung. Als er sie fast erreicht hatte versuchte er mit den Händen einen Hohlraum zu bilden, um ebenfalls ein wenig Wasser in seine Handinnenflächen zu schöpfen. Dies stellte sich allerdings mit der Armschiene als ziemlich schwierig heraus und so verlor er die kostbare Flüssigkeit wieder, noch bevor er sie in den Mund bekam. „Verdammt“, flüsterte er frustriert vor sich hin.

   „Du musst am verdursten sein." Suzanne musste ihn beobachtet haben. Auf jeden Fall war sie wie aus dem Nichts direkt vor ihm aufgetaucht und musterte ihn mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck.

   Mitleid! Sie hatte Mitleid mit ihm. Gott, wie er Mitleid hasste. „Geht schon. Es würde mir vermutlich sowieso nicht bekommen. Wir hatten ja schon darüber gesprochen, warum ich es langsam angehen muss.“

   „Ja, ich erinnere mich, aber ein wenig musst selbst du trinken und so funktioniert das nicht. Lass dir hefen.“ In Null Komma Nichts hatte sie ihrerseits mit den Händen eine Mulde gebildet, Wasser geschöpft und hielt ihm das Ergebnis ihrer Bemühungen unter die Nase.

   Ihre Bemühungen rührten ihn. Trotzdem sagte er: „Was hältst du davon, wenn du einfach die Feldflasche holst? Wir füllen sie auf und…“

   „Stell dich nicht so an. Trink.“

   Marc konnte es selbst kaum fassen, aber er tat es tatsächlich. Er beugte sich leicht nach vorn und trank das Wasser aus Suzannes Händen, wobei sie ihm entgegenkam, indem sie ihre Arme anhob.

   „Geht doch“, kommentierte sie und ihrer Stimme war die tiefe Befriedigung anzuhören. Prompt kümmerte sie sich um Nachschub und auch dieses Mal nahm Marc das Angebot wortlos an. Doch als sie zum dritten Mal Wasser für ihn schöpfen wollte, stoppte er sie im Ansatz, indem er nach ihrem Handgelenk griff und es festhielt.

   „Hey“, protestierte sie. „Lass mich dir doch helfen.“

   Nass bis auf die Haut stand sie vor ihm. Das Wasser umspielte sanft wellig ihre schmalen Hüften und Suzannes dunkles Haar hatte sich wirr und unordentlich auf ihren nackten Schultern ausgebreitet. Die Sonne zauberte Lichtspiele hinein und ließ einzelne nasse Strähnen in den verschiedensten Farbschattierungen von Braun über Kastanie bis hin zu Rotblond glänzen. Ihr Gesicht war so stark von der Sonne verbrannt, dass sich die Haut auf ihrer Nase bereits pellte. Das schmutzige Top klebte an ihrem Körper und führte ihm gerade überdeutlich vor Augen, dass sie unwillkürlich fröstelte. Sein Mund wurde trocken, obwohl er doch gerade erst getrunken hatte. Noch nie hatte er Suzanne so hübsch gefunden, wie in diesem Augenblick. Sie war wunderschön. Perfekt.

   „Was siehst du mich so an?", fragte sie, plötzlich verlegen werdend.

   „Na ja…“ Er lächelte, räusperte sich und ließ sie los. „… ich dachte nur gerade, dass du ganz schön chaotisch aussiehst – für eine Amerikanerin."

   „Reizend. Wie immer.“ Sie kicherte und spritzte ihm eine Ladung Wasser mitten ins Gesicht. „Wo wir schon einmal dabei sind: Ein Bad würde dir sicher auch guttun. Ehrlich gesagt, du siehst auch ein wenig mitgenommen aus.“ Ihre Hand klatschte erneut aufs Wasser.

   „Hey, hör´ auf damit!"

   „Ich denk´ ja nicht dran.“ Suzanne spritzte munter weiter und irgendwann wehrte er sich trotz seiner Schmerzen. Im Handumdrehen entstand eine kleine Wasserschlacht, die die Herde Zebras jetzt doch erschrocken davonlaufen ließ. „Och, schade", bedauerte Suzanne und wollte Marc schnell noch die nächste Breitseite verpassen, bevor sie sich lachend umdrehte, um Reißaus vor ihm zu nehmen.

   Er hatte das kommen sehen und schlang ihr reaktionsschnell und ohne lange über sein Tun nachzudenken den gesunden Arm um die Taille und hielt sie so geschickt auf, während er sie gleichzeitig an sich zog. „Pech gehabt", kommentierte er trocken ihre Aktion. „Ich mag zwar lädiert sein, aber um mich zu übertölpeln musst du schon etwas früher aufstehen."

   Suzannes blaue Augen blitzten vor neu gewonnener Energie und Lebensfreude und auch Marc spürte zusehends, wie seine Lebensgeister langsam wieder erwachten. Ihre Energie wirkte ansteckend und schien sich auf ihn zu übertragen. Plötzlich jedoch veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und wurde weich und verletzlich. Ehe er es sich versah drückte sie sich an ihn, überbrückte die kurze Distanz zwischen ihren Gesichtern und küsste ihn sanft auf den Mund. Er spürte den Druck, den ihre weichen Lippen auf seinen rauen, aufgesprungenen hinterließen. Suzannes Handfläche wanderte an seine Wange und strich sanft über die sich mehrenden Bartstoppeln in seinem Gesicht. Es war eine Momentaufnahme, dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann löste sie sich wieder von ihm und senkte verlegen die Augen.

   „Es tut mir leid", flüsterte sie. „Ich wollte dir nicht zu Nahe treten. Ich weiß, du magst das nicht, aber es … es kam einfach so über mich."

   „Schon gut“, entgegnete Marc heiser und räusperte sich vernehmlich. „Es braucht dir nicht leidzutun.“

   „Nein?"

   „Nein, wirklich nicht", versicherte er, und registrierte verwundert, dass Suzanne offensichtlich längst nicht immer so selbstbewussst war, wie sie sich nach außen hin gab. Doch wie sollte er ihr klarmachen, dass…

   „Aber..." Sie stockte und wich seinen Augen aus.

   „Aber was?"

   „Du ... na ja, du hast mich nicht zurückgeküsst“, murmelte sie kaum verständlich.

 

56. Kapitel

 

   Als Gilian erwachte war es bereits hell im Zelt. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zurechtzufinden und fand sich, zu ihrer Überraschung, eng in John Gilberts Armbeuge gekuschelt. Hm, soweit sie sich erinnerte waren sie am Abend zuvor sehr züchtig Rücken an Rücken eingeschlafen. Wie auch immer: Diese direkte Nähe zu John war ihr alles andere als unangenehm. Sie spürte deutlich, dass die Nähe dieses fast fremden Mannes ihr gut tat. Bei ihm fühlte sie sich sicher und beschützt. Ein Gefühl, auf das sie lange verzichtet hatte und dass sie jetzt sehr gerne genossen hätte, wenn nicht die Kinder verschwunden wären. Wenn allerdings Marc Gilbert seinem Vater auch nur annähernd ähnlich war, dann durfte sie zumindest hoffen, dass ihre Tochter sich, trotz der misslichen Lage, in der sie sich befand, ähnlich beschützt fühlte.

   Sie beschloss, John noch einen Moment Ruhe zu gönnen und selber auch noch einmal die Augen zu schließen, als sie plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. Entsetzt stellte sie fest, dass da eine Schlange am hinteren Ende des Zeltes züngelnd über den Boden kroch. Gott sei Dank quer und nicht direkt auf sie zu. Sehr vorsichtig bewegte sie sich und versuchte, John zu wecken, ohne die Schlange auf sie aufmerksam zu machen. Obwohl sie am liebsten aus dem Zelt gestürmt wäre, zwang sie sich zur Ruhe und rüttelte John sachte an der Schulter.

   „John? John, bitte wach auf."

   Seine Reaktion bestand aus einem unwilligen Knurren, was die Schlange unglücksseligerweise zu einer Richtungsänderung bewegte.

   „John, bitte. Du musst aufwachen. Da ist eine Schlange im Zelt."

   Zu ihrer Erleichterung spürte sie, wie Johns Muskeln sich anspannten. „Wo?"

   „Sie kriecht jetzt rechts neben mir auf das Kopfende zu“, flüsterte Gilian angespannt, während sie versuchte, Ruhe zu bewahren.

   Langsam richtete John sich auf, beugte sich über sie, um besser sehen zu können, und … atmete gleich darauf erleichtert auf. „Beruhige dich, keine Angst. Sie ist ungefährlich."

   Er ging auf die Knie, öffnete den Reißverschluss des Zeltes und klappte eine Seite nach außen hin weg. Dann griff er nach einem Stock, den er offensichtlich am Abend zuvor neben seinem Lager deponiert hatte, und beförderte die Schlange damit mit großem Schwung nach draußen. „In Ordnung, du kannst dich jetzt entspannen“, sagte er ruhig. „Tut mir leid. Ich hätte dich warnen sollen, dass so etwas passieren kann. Ich schätze, sie hat dir einen ordentlichen Schrecken eingejagt, was?“

   Gilian kam sich, nachdem die Schlange sich als harmlos herausgestellt hatte, auf einmal sehr dumm vor. „Na ja..."

   John schmunzelte. „Ist schon okay. Woher solltest du auch wissen, dass sie harmlos ist? Es ist immer besser, vorsichtig zu sein. Ich geh' mal schnell zum Wagen und funke Charlie an, ob es was Neues gibt.“

   „Ja, tu das…“ Gilian drückte unwillkürlich wie ein kleines Kind die Daumen, doch als John zurückkam sah sie ihm sofort an, dass seine Nachfrage ergebnislos geblieben war. „Nichts?", fragte sie trotzdem nach.

   „Leider nicht. Auch nicht bei Gregory. Die beiden hatten Kontakt."

   Gilian ließ bedrückt den Kopf hängen. Es wäre auch zu schön gewesen.

   „Hey“, tröstete John. „Wir müssen positiv denken. Wir bekommen sie heil zurück. So oder so. Die beiden kommen zurecht.“

   Gilian erkannte, dass John versuchte, ihr Mut zu machen, was sie ihm hoch anrechnete. Schließlich war er selbst betroffen. „Wenn sie nur schon wieder da wären“, antwortete sie leise.

   „Packen wir zusammen und suchen weiter. Ich fülle schon mal den Ersatzkanister in den Tank und warte draußen auf dich. In Ordnung?"

   Sie nickte zustimmend. „Ich bin in fünf Minuten fertig.“

   Als Gilian aus dem Zelt trat, staunte sie nicht schlecht: Das Zelt und der Jeep standen mutterseelenallein auf weiter Flur.

   „Ja, aber … wo sind denn die Nomaden?", erkundigte sie sich verblüfft.

   „Weiter gezogen. Schon vor Sonnenaufgang."

   „Und das Zelt? Brauchen die das denn nicht?“

   Wieder huschte dieses Schmunzeln über sein Gesicht, das sie so an ihm mochte. „Nein, mach dir keine Gedanken. Wir werden es abbauen und mitnehmen. Wenn sie das nächste Mal in der Nähe der Station sind, werden sie es abholen kommen. Das haben wir schon häufiger praktiziert.“

   „Wir haben uns noch nicht einmal für ihre Gastfreundschaft bedankt."

   „Gilian, es ist in Ordnung so. Ehrlich.“

   John füllte den Tank auf, während sie das Zelt leer räumte. Danach war sie ihm beim Abbau und Verstauen der Sachen im Jeep behilflich. Als sie gerade im Begriff war, in den Wagen zu steigen, spürte sie plötzlich seine Hand warm auf ihrem Unterarm. „Gilian?“ Seine Stimme klang seltsam drängend und sie drehte sich alarmiert um.

   „Ja?“

   „Spätestens heute Abend müssen wir zurück“, erklärte er ernst. „Sonst geht uns der Sprit aus.“

   „Ja, gut.“ Der Gedanke gefiel ihr gar nicht. „Wenn´s nicht anders geht. Dann starten wir eben morgen von der Station aus wieder.“

   Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich halte das für keine gute Idee. Du solltest dich in der Botschaft aufhalten. Du musst präsent sein. Außerdem wollten diese Typen sich wieder melden und du bist schließlich ihr Gesprächspartner. Marc ist bei der Geschichte nur das Anhängsel. Hier in der Gegend weiß schließlich jeder, dass bei uns nichts zu holen ist."

   „Ich kann aber jetzt nicht arbeiten“, entgegnete sie verzweifelt. „Kannst du das denn nicht verstehen?“

   „Natürlich verstehe ich das. Aber du musst wenigstens so tun, als ob."

   „Ja, ja“, schleuderte sie ihm entgegen und schüttelte seine Hand ab. „Ich weiß schon, ich muss stark sein. Wenn du wüsstest, wie satt ich es habe, immer stark sein zu müssen."

   „Gilian, du bist was du bist“, entgegnete er schlicht. „Wenn Leute wie der General spitzkriegen, dass du zwei Tage mit mir allein in der Wildnis unterwegs warst – und wir dürfen ihm ja nicht sagen, dass wir nach den Kindern gesucht haben – bastelt der daraus eine Riesenstaatsaffäre. Mir kann´s egal sein, ich bin sowieso erledigt, aber du… Du bekommst dann beruflich kein Bein mehr auf die Erde.“

   „Was glaubst du eigentlich, wie scheißegal mir das im Moment ist!"

   „Ja, eben. Das ist der Knackpunkt. Im Moment ist dir das vielleicht egal. Aber du musst über den Tellerrand hinausschauen. Wenn du das verständlicherweise gerade nicht kannst, dann werde ich dir dabei helfen. Ob es dir gefällt, oder nicht. So, wie du mir mit dem geforderten Lösegeld hilfst.“ Ein Schatten fiel auf seine Züge, als er nach einem kurzen Zögern leise hinzufügte: „Eins kannst du mir glauben: Ich bin dir dankbar für deine Hilfe, aber gefallen tut mir das Ganze deswegen noch lange nicht." John wandte sich ab, doch Gilian hielt ihn am Arm zurück.

   „John würdest du mir jetzt bitte mal reinen Wein einschenken: Was schwelt da zwischen dir und dem General? Ihr benehmt euch wie zwei Kampfhähne, die jeden Augenblick aufeinander losgehen können.“

   Der Vergleich schien ihn zu amüsieren, denn er grinste kurz. „Das ist gar nicht so verkehrt und schnell erklärt: Der Typ hat meine Freundin angemacht und ich hab´ ihm eins auf die Nase gegeben. Das Dumme an der Sache war, dass er damals mein Vorgesetzter war. Somit war meine Karriere gestorben. Ich hab´ den Dienst quittiert, meine Freundin geheiratet und wir haben nach und nach unseren gemeinsamen Traum in die Tat umgesetzt. Marc wurde übrigens schon hier geboren. Danach lebten wir glücklich und zufrieden bis...“ Er stockte und zuckte mit den Achseln. „Ich gehe davon aus, den Rest kennst du.“

   „Wow…“ Gilian war überrascht. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du dich prügelst."

   „Nur, wenn es sich nicht umgehen lässt", antwortete er mit einem leisen Lächeln.

   „Deine Frau… Wie war sie so?", erkundigte sie sich vorsichtig.

   „Joyce?“ Johns Augen leuchteten auf und er lächelte versonnen. „Sie war toll! Immer auf der Suche nach dem Guten im Menschen. Sie war bildhübsch, hatte eine Menge Humor und war sehr warmherzig. Ich glaube, ihr hättet euch gut verstanden."

   Paradoxerweise versetzte ihr seine Antwort einen Stich. „Du vermisst sie immer noch." Es war weniger eine Frage, denn eine Feststellung.

   „Jeden Tag.“ Er nickte und jetzt huschte ein Schatten über sein Gesicht. „Ich denke, so etwas hört nie auf. Wir haben uns geliebt. Auf der anderen Seite bin ich froh, dass sie unser derzeitiges Dilemma mit der Station nicht mehr mitbekommen muss. Es würde ihr das Herz brechen.“ Er blickte sie forschend an. „Was ist mit dir? Vermisst du deinen Mann nicht?"

   „Doch, schon. Aber aufgrund seines Berufs hatten wir leider nicht das, was man eine gleichberechtigte Partnerschaft nennt. Zumindest nicht nach außen. Ich habe mich erst nach seinem Tod endgültig emanzipiert."

   „Gott sei Dank nicht zu sehr", entfuhr es John spontan, was Gilian ein kleines Lächeln entlockte, auch wenn sie nicht weiter darauf einging.

   Stattdessen fragte sie: „Und du glaubst wirklich, der General versucht dir wegen dieser alten Geschichte immer noch Knüppel zwischen die Beine zu werfen?"

   „Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ehrlich? Ich weiß es nicht. Vielleicht kann er mich auch einfach aus Prinzip nicht leiden.“

   „Er hat doch inzwischen selbst geheiratet und eine Familie gegründet."

   „Hm… Als das Alles damals passierte, war er schon mit Shauna zusammen. Das ist seine Frau. Du hast sie ja inzwischen kennengelernt.“

   „Ups.“

   „Ja, genau.“ John lächelte kurz. „Ups. Lassen wir die alten Geschichten ruhen.“ Er öffnete die Wagentür und ließ Gilian einsteigen. „Jetzt ist erstmal nur wichtig, dass wir unsere Kinder heil zurückbekommen. Über alles Andere mache ich mir später Gedanken."

**********

   Suzanne hätte ihren letzten Satz am liebsten sofort wieder zurückgenommen. Stattdessen wollte sie im Boden versinken. Gott, wie peinlich. Grottenpeinlich. Welcher Teufel hatte sie da bloß geritten? Nicht nur, dass sie Marc eben förmlich überfallen hatte, nein, sie musste ja unbedingt noch nachhaken, warum er nicht so reagiert hatte, wie sie es sich insgeheim gewünscht hatte. Wie dämlich konnte man eigentlich sein? Jetzt stand sie vor ihm und traute sich immer noch nicht, den Kopf wieder zu heben und ihm ins Gesicht zu schauen. Ihre Aktion war spontan gewesen und doch spürte sie im Nachhinein, wieviel Mut sie das gekostet hatte. Zu groß war jetzt ihre Angst in seinen Augen Hohn, Spott oder, schlimmer noch, womöglich seinen berühmten Zynismus zu sehen.

   „Ich weiß“, war allerdings alles, was Marc sehr leise nach einer unnatürlich langen Pause antwortete.

   „Ja? Na, dann…“ Verdammt, warum musste dieser Typ sich immer so kryptisch ausdrücken? Suzanne hatte keine Lust, sich vollends lächerlich zu machen und gab sich einen Ruck. „Ich hole die Feldflaschen und den Kanister. Du kannst ja hier auf mich…“

   „Nein, stopp. Warte“, sagte er schnell und griff nach ihrem Handgelenk. „Das eben, das war… Ehrlich, du hast mich da … komplett auf dem falschen Fuß erwischt. Völlig überrumpelt, verstehst du?“

   „Nein“, antwortete sie zögernd. „Nicht ganz.“ Suzanne spürte, wie ihr Herz plötzlich gegen ihren Brustkorb hämmerte. Eigentlich erstaunlich, dass er das nicht auch hörte. „Was, wenn ich es nun wieder tun würde?"

   „...dann kämst du mir nicht so leicht davon." Marc gab ihr Handgelenk frei, hob seine Hand und strich ihr sehr sanft mit den Fingern eine Haarsträhne, die sich auf ihre Wange verirrt hatte und nun auf der feuchten Haut klebte, hinters Ohr. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen, was sie vollends irritierte. „Allerdings werde ich dir keine Chance geben, es erneut zu probieren.“ Sein Tonfall strafte die Worte Lügen und verunsicherte sie noch mehr.

   „Nein?“ Verdammt, ihre Stimme zitterte.

   „Nein“, wiederholte er rau, ließ seine Hand sinken und streichelte sanft mit den Fingerknöcheln über ihren Arm, womit er ihr prompt erneut eine Gänsehaut bescherte. Er lächelte breit und sie starrte völlig fasziniert auf sein Grübchen, während er jetzt den unverletzten Arm um sie legte und sie so dicht an seinen Körper dirigierte. Sehr dicht. „Weil ich dir nämlich dieses Mal zuvor komme.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Raunen.

   Suzanne blieb im wahrsten Sinne des Wortes die Luft weg, als Marc den Kopf schieflegte, sich vorbeugte und noch den Bruchteil einer Sekunde zögerte, bevor er ihre Lippen endlich mit den seinen streifte. Zu Beginn war er noch zurückhaltend, tastete sich vorsichtig vor, doch nach einigen endlosen Sekunden forderte er mehr. Suzanne spürte, wie seine Zunge an ihren Zähnen anklopfte, und sofort öffnete sich ihr Mund bereitwillig und hieß ihn willkommen. Was folgte war ein wilder Tanz zweier Zungen, die sich kennenlernten, sich zügellos aufeinander einließen und versuchten, so schnell wie möglich den unverwechelbaren Geschmack des jeweils anderen herauszufinden, um ihn nur ja abspeichern zu können. Rechtzeitig, bevor womöglich alles schon wieder vorbei war.

   Einen kurzen Augenblick lang fragte Suzanne sich, ob sie es Marc nicht zu einfach machte. Ihm nicht zu sehr entgegenkam, doch sie verwarf den Gedanken beinahe sofort wieder. Sie wollte jetzt nicht nachdenken; sie wollte einfach nur diesen schönen Moment genießen. Denken und gegebenenfalls ihr Tun bereuen konnte sie später immer noch. Intuitiv schmiegte sich ihre Wange in Marcs Handfläche und genoss die Wärme, die von dort ausging.

   Als sie sich schließlich kurz voneinander lösten, um Luft zu holen, lehnte sie sich mit zitternden Knien gegen Marcs Brustkorb und flüsterte: „Wow.“

   „Ja, allerdings. Wow“, murmelte er in ihr Haar. „Aber das ist nicht gut, gar nicht gut.“ Er packte sie sachte bei den Schultern, drückte sie ein Stück weit von sich weg und blickte ihr tief in die Augen. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass in seinen Augen nicht die geringste Spur von Belustigung oder gar Zynismus zu erkennen war. Eher … Sorge?

   „Wieso?“, fragte sie immer noch ganz entrückt. „Was meinst du?“

   „Weil wir… Wir sollten … das besser nicht tun“, antwortete er ruhig und schüttelte, kaum, dass er ausgesprochen hatte, den Kopf. „Ach, Scheiß drauf!“ Er zog sie an sich und knabberte im nächsten Moment wieder zärtlich an ihrer Unterlippe.

   „Warum tust du es dann?“

   „Weil ich … na ja, ich schätze, weil du so verdammt süß bist.“

   Süß.

   Kein `weil ich dich liebe´ oder wenigstens `weil ich in dich verknallt bin´. Lediglich ein `verdammt süß´. Suzanne beschloss das als Anfang zu sehen und zog sich ein wenig zurück. „Du küsst ziemlich gut für einen Eingeborenen", sagte sie schmunzelnd.

   „Du aber auch … für eine Internatsschülerin", konterte er und ließ wieder sein Grübchen sehen. „Übrigens, aus deinen Worten schließe ich, dass du dir bereits Vergleichsmöglichkeiten geschaffen hast. Ist das so?“

   „Großer Gott, nein. So war das nicht gemeint.“ Suzanne lachte und nahm ihm seine Worte nicht übel. „Können wir uns nicht darauf einigen, dass wir beide womöglich einfach eine natürliche Begabung für gewisse Dinge haben, was meinst du?“

   „Tja, sieht ganz so aus.“ Er grinste und wies zum Himmel. „Ich will ja nicht hetzen, aber wir sollten jetzt wirklich langsam unsere Behälter auffüllen und uns auf den Weg machen."

   „Ja, du hast Recht.“ So sehr sie es auch bedauerte. Sie drehte sich zum Ufer und erstarrte. „Scheiße! Marc, da ist ein Löwe bei unseren Sachen.“

   Marcs Kopf flog herum und im nächsten Augenblick stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. „Das ist eine Löwin.“

   „Ach nein, das sehe ich auch“, fauchte Suzanne. „Sorry, aber ich finde, das ist jetzt nicht der richtige Moment, um zum Korinthenkacker zu mutieren. Sag mir lieber, was wir jetzt tun sollen?“

   „Ganz einfach.“ Er nahm sie bei der Hand. „Wir gehen ans Ufer. Sie wird uns nichts tun.“

   „Ach ja? Und was macht dich da so verdammt sicher.“

   „Weil ich sie kenne“, antwortete er schlicht. „Ich habe sie mit der Flasche aufgezogen. Komm, hab´ keine Angst. Vertrau mir.“

   Marc setzte sich in Bewegung und Suzanne folgte ihm zögernd. Allerdings blieb sie vorsichtshalber hinter ihm. Sicher war sicher.

   „Skat?“

   Die Löwin, die gerade den Rucksack mit der Nase umherstupste, hob ihren mächtigen Kopf und blickte aufmerksam zu ihnen herüber.

   „Wir kommen jetzt raus, okay?“, rief Marc dem Tier zu. Die Löwin vergaß den Rucksack und trottete stattdessen näher ans Ufer. „Es ist alles in Ordnung, Skat, hörst du? Alles okay.“ Hinter seinem Rücken griff er nach Suzannes Hand und drückte sie leicht. „Bleib dicht hinter mir. Ich bin sicher, sie wird uns nichts tun, aber ich kann nicht einschätzen, wie sie auf dich reagiert. Ich möchte vermeiden, dass du sie womöglich erschreckst.“

   „Ach? Ich erschrecke sie? Der Witz ist gut“, antwortete sie tonlos. „Was zum Henker bedeutet Skat?“

   „Es ist ihr Name. Es ist Afrikaans und bedeutet soviel wie Schatz oder Liebling.“ Er zuckte erst mit den Achseln und gleich darauf noch einmal schmerzhaft zusammen, weil er wieder einmal seine Verletzung vergessen hatte. „Was Besseres ist mir damals nicht eingefallen. Sie war noch ein Kitten, ein Baby, als wir sie vor einigen Jahren während einer fürchterlichen Dürre hier draußen gefunden haben. Ihre Mutter und zwei Geschwister waren schon verhungert, bzw. verdurstet, und sie selber war kurz davor. Mein Dad glaubte nicht, dass wir sie durchbekämen, aber ich wollte sie nicht aufgeben. Ich konnte es einfach nicht. Und ich hab´s geschafft.“ Sie hörte den Stolz, der in seiner Stimme mitschwang. „Ich habe wochenlang in ihrem Gehege geschlafen, hab´ sie an die Flasche gewöhnt und war rund um die Uhr bei ihr. Dadurch haben wir eine besondere Beziehung aufgebaut. Irgendwann war dann die kritische Zeit überwunden und ich konnte zumindest wieder in meinem Bett schlafen. Insgesamt blieb sie fast zwei Jahre bei uns…“ Er lächelte in Gedanken. „Der Plan war immer, sie auszuwildern, wenn sie erwachsen ist, aber das war gar nicht so einfach. Egal, wohin wir sie brachten, sie kam immer wieder zurück zur Station, aber irgendwann hatte sie es kapiert. Ich weiß nicht, warum sie jetzt so plötzlich hier auftaucht. Vermutlich war sie zufällig in der Nähe und hat mich gewittert.“

   Suzanne brauchte etwas, um das Gehörte zu verarbeiten und blieb kurz stehen.

   „Was ist?“, fragte Marc und drehte sich zu ihr um.

   „Was ist? Fragst du das im Ernst?“ Suzanne kicherte und realisierte, dass sie sich leicht hysterisch anhörte. Prompt kam von Ufer her ein warnendes Fauchen. „Ich meine, da steht ein ausgewachsener Löwe, oh, Entschuldigung, eine ausgewachsene Löwin, keine 20 Meter von uns entfernt und du willst mir allen Ernstes erzählen, dass das bloß eine etwas übergroße Miezekatze ist? Ich schwöre, wenn du jetzt noch sagst, dass sie nur spielen will, dann schreie ich.“

   Er lachte leise. „Na ja, Miezekatze hab´ ich nicht gesagt. Skat ist und bleibt ein Wildtier, eine Raubkatze. Deshalb möchte ich ja auch, dass wir vorsichtig sind. Pass auf…“ Er ließ ihre Hand los und drehte sich um. „Ich denke, es ist besser, du wartest hier, und ich erledige die erste Kontaktaufnahme allein. Keine Angst, das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ich würde mich einfach wohler dabei fühlen. Wenn alles okay ist und ich ein gutes Gefühl habe, kommst du nach. In Ordnung?“

   „Nein“, widersprach Suzanne heftig. „Nichts ist in Ordnung. Das ist ein scheiß Plan! Wie wäre es, wenn wir beide hier stehen bleiben und abwarten, bis sie abhaut. Das ist in meinen Augen ein guter Plan.“

   „Sie wird nicht gehen. Erst recht nicht jetzt, wo ich sie gerufen habe. Hey, mach´ dir keine Sorgen. Sie wird mir nichts tun. Sie vertraut mir … und ich ihr.“

   „Wie kannst du dir nur so sicher sein, dass das deine Löwin von damals ist? Ich meine, aus der Entfernung sehen die doch alle gleich aus.“

   „Oh, nein“, warf er ein. „Sicher nicht. Außerdem haben wir sie damals markiert. Schau auf ihr linkes Ohr.“

   Suzanne warf einen zweifelnden Blick ans Ufer, wo die Löwin sich inzwischen bis ins seichte Wasser vorgewagt hatte und sie nicht aus den Augen ließ. Selbst auf diese Entfernung erkannte sie den Markierungsknopf im linken Ohr der Löwin. „Verdammte Scheiße, das gefällt mir nicht“, stieß sie hervor. „Ganz und gar nicht. Was, wenn sie dich nun doch angreift?“

   Marc ging zu ihrem größten Ärger gar nicht mehr darauf ein. Im Gegenteil, er bewegte sich bereits auf das Ufer zu. Dabei murmelte er unaufhörlich leise Worte in einer Sprache vor sich hin, die sie nicht verstand. Sie vermutete, dass es sich dabei um Afrikaans handelte. Marc hatte inzwischen das Ufer erreicht und setzt sich mit dem Gesicht zum Wasser in die Böschung – direkt neben die Löwin, die aufmerksam beobachtete, was er tat.

   Es braucht nur einen Schlag. Einen einzigen Schlag mit der Pranke auf den Hinterkopf und Marc ist Geschichte, dachte sie im Stillen. Doch er schien sich diesbezüglich überhaupt keine Sorgen zu machen, selbst dann nicht, als das Tier die Position veränderte und sich Marc nun direkt zuwandte. Unwillkürlich drückte sie beide Daumen. Dann geschah das unglaubliche. Die Löwin rieb ihren massigen Schädel an Marcs Schulter und er hob seine Hand, um sie hinter dem Ohr zu kraulen. Wahnsinn, dachte sie. Das ist der blanke Wahnsinn. Dieser Typ ist der blanke Wahnsinn.

   „Du kannst jetzt rüber kommen“, rief er leise. „Ich hab´ ihr von dir und unserem Dilemma erzählt. Mach dir keine Sorgen, aber geh langsam und mach keine hastigen Bewegungen. Dann ist alles in Butter.“

   „Bist du sicher?“

   „Sonst würde ich dich nicht rufen. Na, komm. Du darfst ihr nicht zeigen, dass du Angst hast.“

   „Oh, toll. Aber das ist leichter gesagt als getan.“ Ihre Stimme zitterte.

   „Hey, ich weiß, dass du das kannst. Ich hab´ dich mit dem Elefanten gesehen, weißt du noch? Du hast einen guten Draht zu Tieren. Suzanne, bitte beruhige dich und dann komm langsam her.“

   Der kleine Elefantenbulle. Gott, war das wirklich erst einen Tag her? „Okay.“ Suzanne holte tief Luft. „In Ordnung, ich komm´ dann jetzt.“

 

57. Kapitel

 

   So ungestüm Suzanne vorhin ins Wasser gestürmt war, so vorsichtig setzte sie jetzt einen Fuß vor den anderen. Sobald das Wasser auch nur das geringste Geräusch verursachte, blieb sie stehen und wartete, bis jegliches Plätschern sich wieder gelegt hatte. Daher dauerte es eine ganze Weile bis sie das Ufer endlich erreichte. Mit klopfendem Herzen blieb sie vor Marc stehen, aufmerksam beobachtet von Skat, aus deren Kehle ein tiefes Grollen kam.

   „Marc?“ Ihre Stimme klang alarmiert und hatte einen leicht hysterischen Unterton. „Sie knurrt mich an. Ich ... was soll ich…“

   „Sie knurrt dich nicht an“, antwortete der und tätschelte dem Tier den Hals. „Hör genau hin: Sie schnurrt. Kommt halt nur etwas lauter rüber, als bei einer normalen Katze. Pass auf, du musst dich jetzt entscheiden: Entweder du nimmst Kontakt zu ihr auf und lässt sie deine Witterung aufnehmen…“

   „Okay, wie sähe das `Oder´ aus?“

   „Falls du das nicht möchtest, dann gehst du jetzt einfach seitlich an mir vorbei und beachtest sie nicht. Dabei nicht zögern. Du marschierst einfach um die Ecke und verschwindest aus ihrem Blickfeld. Den Rest mach´ ich. Ich packe unsere Sachen und komme nach. Ach ja, falls du dich für Variante A entscheiden solltest: Mach es bitte nur, wenn du dir sicher bist. Wenn du Angst haben solltest ist das okay, aber dann wähle lieber Variante B. Skat würde deine Angst sofort spüren und das gilt es unbedingt zu vermeiden. Wir sind die Alphatiere, verstehst du? Das Modell darf nicht kippen. Sollte das passieren, geht der Schuss nach hinten los und das könnte gefährlich werden.“

   „Okay.“ Suzanne schluckte. „Kapiert.“

   „Und?“

„Variante A“, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung mit fester Stimme sagen. „Ich probier´s.“

   „Bist du dir sicher?“

   Suzanne horchte ein letztes Mal in sich hinein. „Ja, absolut.“

   „Gut, dann nimm´ jetzt Blickkontakt mit ihr auf und komm langsam näher. Streck eine Hand vor und zieh sie auf keinen Fall zurück, wenn sie auf dich zukommt und dich kennenlernen will. Sie ist von Natur aus neugierig. Sie wird an deiner Hand und eventuell auch an deinem Körper schnüffeln. Das ist völlig normal und du brauchst keine Angst zu haben. Halte aber den Blickkontakt auf jeden Fall aufrecht. Wenn du dir zutraust mit ihr zu sprechen, dann tu das.“ Er legte seine Hand auf den Kopf der Löwin und erklärte ruhig, während er Suzanne aufmunternd zunickte: „Skat, das ist Suzanne. Sie wird dir nichts tun.“

   Suzanne setzte sich zögernd in Bewegung und kam wie geheißen mit vorgestreckter Hand und angehaltenem Atem näher. Merkwürdigerweise verspürte sie tatsächlich keine Angst mehr, sondern vielmehr eher eine Art Neugier, gekoppelt mit Spannung. Die Löwin beobachtete sie genau, bevor sie schließlich den Kopf drehte und Marc anschaute. Es schien fast, als wolle sie sich seine Erlaubnis abholen, den Kontakt mit ihr herzustellen. Er nickte Skat zu, wie er es wenige Sekungen zuvor bei ihr getan hatte und die Löwin stand langsam auf und schlenderte näher. Unmittelbar vor Suzanne hielt sie inne und blickte noch einmal zurück zu Marc, der wiederum nickte.

   „Es ist alles gut, Skat. Suzanne ist eine Freundin. Sie ist gut.“

   Suzanne fiel auf, dass er einfache Worte wählte und seine Stimme leise und beruhigend hielt. Seine Worte zeigten Wirkung und die Löwin wandte sich ihr wieder zu. Sie schnupperte an Suzannes Hand und dann, wie Marc es prophezeit hatte, auch an ihrem Körper.

   „Na du“, sagte sie leise. „Du bist ja eine Schöne.“ Sie staunte über sich selbst, dass sie dazu in der Lage war und als Skat sie daraufhin direkt anschaute, fühlte sie ein seltsames Hochgefühl in sich aufsteigen. Sie erwiderte den Blick der Löwin ruhig und wich nicht aus. Nach einigen Sekunden trottete die Löwin zurück an Marcs Seite und legte sich dicht neben ihn. In diesem Moment spürte sie einen Anflug von Eifersucht. Auf ein Tier?! Wie verrückt war das denn? Ein unwillkommener Gedanke schoss durch ihren Kopf. Was, wenn die Löwin womöglich das gleiche fühlte. Wenn sie eifersüchtig auf Suzanne war? Sie konnte nur hoffen und beten, dass Marc die Lage unter Kontrolle hatte. Dass er das Tier wirklich so gut einschätzen konnte, wie er ihr versichert hatte.

   „Und nun? Was soll ich tun?“

   „Ich werde jetzt mit ihr ein Stück weit gehen und versuchen, sie davon zu überzeugen, dass sie danach alleine weitergeht. In der Zwischenzeit füllst du bitte die Feldflaschen und den Kanister und packst hier alles zusammen. Wenn ich sie losgeworden bin, dann komme ich zurück und wir machen weiter wie geplant.“ Sie wollte etwas sagen, doch er unterbrach sie schon im Ansatz. „Keine Widerrede bitte. Wenn ich mit ihr alleine bin, ist es leichter für mich. Dann muss ich nur auf mich selbst achtgeben und nicht noch auf dich aufpassen. Okay?“, schloss er drängend.

   „In Ordnung“, sagte sie, obwohl sie alles andere als zufrieden mit seiner Ansage war. Sie sorgte sich um Marc, doch sie sah ein, dass es in diesem Fall wohl besser war, auf ihn zu hören. Trotzdem blickte sie zweifelnd auf ihn, als er aufstand und Skat auffordernd am Hals tätschelte.

   „Los, komm Mädchen. Zeit zu gehen.“

   Die Löwin schien zu überlegen, was ihr wichtiger war. Ihre Augen wanderten zwischen den Menschen hin und her. Sie stieß ein leises Schnauben aus und trottete wieder zu Suzanne. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat hob Suzanne ihre Hand und legte sie beruhigend auf den Kopf der Löwin; genau zwischen die Ohren. Nicht nur das Tier schaute sie überrascht an, auch Marc zog erstaunt die Brauen hoch. Dabei war sie selber mehr als erschrocken über ihren Mut und ihre Spontanität. Dabei fühlte sich die Aktion überrascgend gut an.

   „Du tust besser, was er sagt. Er kann da sehr komisch werden.“ Sie bewegte ihre Finger in vorsichtigen Kraulbewegungen. „Hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen.“

   Marc hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und drehte sich gerade noch einmal um. „Skat? Wo bleibst du denn?“

   Die Löwin drehte bei und folgte Marc, ohne Suzanne noch eines Blickes zu würdigen. Langsam schloss sie zu ihrem Ziehvater auf und Seite an Seite entfernten sich die beiden von dem Wasserloch. Suzanne blickte dem ungleichen Paar sprachlos hinterher, bis Marc einen Bogen schlug und sie aus ihrem Sichtfeld verschwanden.

**********

   Suzannes Anspannung brach sich in einem Seufzer Bahn. Dann machte sie sich daran zu erledigen, was Marc ihr aufgetragen hatte. Dabei kreisten ihre Gedanken weiterhin unaufhörlich um Marc. Wieviele Facetten mochte dieser ungewöhnliche Junge ihr wohl noch offenbaren? Peu à peu wurden es immer mehr und jede Einzelne fand sie beeindruckend. Sie war innerlich total aufgewühlt. Der Tag hatte noch nicht einmal richtig angefangen und es war schon wieder so viel passiert, was verarbeitet werden wollte. Erst die anstrengende Nachtwanderung zum Wasserloch, die Angst, dass sie den Weg womöglich umsonst auf sich genommen hatten, das Hochgefühl, als sich die Befürchtung nicht bewahrheitete, die Balgerei im Wasser, die letztlich mit diesem total überwältigenden Kuss geendet hatte und als Krönung obendrauf dann noch die Begegnung mit Skat.

   Es war der helle Wahnsinn. Marc, der in der Schule kaum einmal den Mund aufbekam und sich seine Freunde sehr dosiert aussuchte, hatte vor ihren Augen eine ausgewachsene Löwin förmlich umarmt und mit ihr in Afrikaans kommuniziert. Marc, der so wenig von sich offenbarte und so gut wie nie aus sich herausging, küsste wie ein junger Gott. Zärtlich und doch leidenschaftlich. Wer hätte das gedacht? Sie ganz sicher nicht; besonders nicht, wenn sie an ihre erste Begegnung mit ihm zurück dachte. Bei der Erinnerung an die kurze Episode spielte ein versonnenes Lächeln um ihre Lippen.

   Nachdem sie zuletzt noch die Verschlüsse der Feldflaschen kontrollierte, bevor sie diese sicher im Rucksack verstaute, blickte sie sich noch einmal am Rand der Uferböschung um. Okay, sie hatte alles verstaut und zusammengepackt. Wo zum Teufel blieb Marc? Er würde sie doch wohl nicht alleine…? Nein, beantwortete sie sich die unwillkommene Frage gleich selber. Das würde er ganz sicher nicht tun. Trotzdem … sollte er nicht langsam wieder auftauchen? Entweder, er wurde Skat nicht los, oder die Löwin hatte womöglich doch etwas getan, womit er nicht rechnete. Immerhin hatten sich die beiden lange nicht gesehen. Wer konnte da schon sagen, ob die Löwin ihn noch als Rudelführer akzeptierte. Vielleicht sollte sie ihn ja suchen gehen?

   „Alles klar? Bist du soweit?“

   Suzanne fuhr erschrocken herum. Sie hatte Marc nicht näher kommen hören. „Mann, musst du dich so anschleichen?“, fauchte sie über die Maßen erleichtert, dass er wieder da war.

   „Ich freu´ mich auch, dich wiederzusehen“, konstatierte er trocken, bevor er schmunzelnd hinzufügte: „Ich habe mich übrigens nicht angeschlichen. Du warst nur gerade ganz woanders mit deinen Gedanken.“

   „Ach ja? Und wo bitteschön soll ich deiner Meinung nach mit meinen Gedanken gewesen sein?“

   „Das wüsste ich auch gerne“, antwortete er und griff nach dem Rucksack. „Verrätst du es mir?“

   „Träum weiter.“ Sie bückte sich gleichzeitig mit Marc nach dem Gepäckstück und für einen Moment lang waren ihre Gesichter sehr nah beieinander. „Lass mich den nehmen“, sagte sie schließlich leise ohne ihre Position zu verändern.

   Marc zog sich als Erster zurück. „In Ordnung“, sagte er ruhig. „Skat war übrigens nicht begeistert, dass sie alleine zurückbleiben sollte. Kann sein, dass sie in unserer Nähe bleibt. Also nicht erschrecken, falls sie plötzlich noch mal auftauchen sollte. Ist vielleicht gar nicht so verkehrt. Im Grunde können wir uns sogar sicherer fühlen, wenn sie auf uns aufpasst.“

   „Sind Löwen nicht normalerweise Rudeltiere?“, fragte Suzanne, während sie sich in Bewegung setzte, nachdem Marc ihr mit einem Nicken die Richtung angezeigt hatte.

   „Normalerweise schon“, antwortete er. „Sie hatte auch damals ein Rudel gefunden, das sie aufgenommen und integriert hat. Ich schätze, sie hat sich abgesetzt, weil sie mich in der Nähe gewittert hat. Mach dir keine Sorgen um sie. Skat kommt zurecht.“

   „Davon bin ich überzeugt.“ Suzanne warf Marc einen schnellen Seitenblick zu. Er wirkte vergleichsweise entspannt. Ihr brannte da noch eine Frage auf der Seele, die sie ihm unbedingt stellen musste, bevor der Mut sie wieder verließ. „Du bist mir übrigens noch `ne Antwort schuldig.“

   „Echt jetzt? Hilf mir, wie war die Frage?“, erkundigte er sich unbedarft.

   „Ob du … schon mal so richtig mit Haut und Haaren verliebt warst? In jemand, der anders war, als du? Jemand, der auf den ersten Blick nicht zu dir zu passen schien.“

   „Was soll die Frage? Das ist doch jetzt nicht wichtig", wich er aus.

   „Doch, ich finde schon.“ Sie machte eine Pause, bevor sie es endlich aussprach. In einer etwas abgewandelten Form zwar, aber sie sprach es aus: „Ich könnte es…“ Sie tat es bewusst als Möglichkeit ab, und stellte es nicht, als Tatsache dar.

   „Was könntest du?“

   Du lieber Himmel, in dieser Beziehung war er offensichtlich genauso begriffsstutzig, wie alle Kerle. „Mich in jemanden verlieben, der anders ist als ich“, antwortete sie fester Stimme, während sie stur nach unten auf den staubigen Boden blickte.

   „Suzanne…“ Er stockte und sie warf ihm einen bangen Seitenblick zu. Hatte sie sich etwa doch zu weit aus dem Fenster gelehnt?

   „Ja?“

   „Tu das bitte nicht“, antwortete er gepresst, während sie traurig feststellte, dass sein üblicher verschlossener Gesichtsausdruck zurückgekehrt war.

   „Was tu ich denn?“, fragte sie leise, obwohl sie ahnte, wie seine Antwort aussehen würde.

   „Du weißt, was ich meine. Das, was da eben am Wasserloch geschehen ist … zwischen uns. Das war … lediglich eine Momentaufnahme. Wir waren beide extrem angespannt und diese Anspannung hat sich unglücklicherweise auf eine etwas … ungewöhnliche Art und Weise gelöst. Interpretier in diese … Szene bitte nicht mehr hinein, als da war.“

   Unglücklicherweise? Suzanne glaubte, sich verhört zu haben. „Ich verstehe“, antwortete sie nach einer Pause gepresst. „Du machst also einen Rückzieher?“, verlangte sie dann eine eindeutige Stellungnahme von ihm.

   „Ich mache gar nichts“, stellte er klar, während sein Gesichtsausdruck unbeweglich und emotionslos blieb. „Ich versuche lediglich, dir zu erklären, was da eben vorgefallen ist.“

   „Ich weiß sehr wohl, was da eben passiert ist“, fauchte Suzanne verletzt. „Ich war immerhin dabei. Ich denke, die Entscheidung, was die Szene, wie du es nennst, für mich bedeutet kannst du getrost mir überlassen.“ Sie war stehengeblieben und biss sich auf die Unterlippe. Marcs Rückzieher tat weh und das machte ihr deutlich, dass es schlimmer um sie stand, als sie selbst vermutet hätte. Wie war das noch eben mit dem Bereuen gewesen? Es sah ganz danach  aus, als wäre es schon so weit. Verdammt, warum hatte sie sich bloß so weit auf ihn eingelassen?

   „Nein, das denke ich nicht“, antwortete er mit fester Stimme. „Ich will dir nichts vormachen. Es wäre einfach nicht gut für dich, wenn du da mehr hinein interpretierst. Es war, was es war, nicht mehr und nicht weniger. Eine Momentaufnahme um die Spannung zu lösen, was ja auch wunderbar funktioniert hat. Aber ich möchte, dass du dir klar machst, dass sich das nicht wiederholen wird. – Könnten wir uns jetzt bitte etwas beeilen?“, wechselte er dann unvermittelt das Thema. „Es wird heiß und ich möchte den Busch erreichen, bevor die Sonne zu hoch steht, und es unerträglich wird.“

   Suzanne gelang mit schier überdimensionaler Anstrengung, dass ihre Wut die Oberhand gewann, und nicht die bodenlose Enttäuschung, die sie nach seinen Worten empfand. Sie schulterte den Rucksack nach und stapfte mit großen Schritten an Marc vorbei. Als sie mit ihm auf gleicher Höhe war, schoss sie aus dem Stehgreif zurück: „Was glaubst du? Worin liegt wohl der Unterschied zwischen einem Arschloch und einem Feigling?“

   Sie spürte seinen fassungslosen Blick im Rücken und rief ohne zurückzuschauen: „Nein? Siehst du, das dachte ich mir. Vielleicht denkst du ja irgendwann mal drüber nach.“ Einem Feigling kann man verzeihen, gab sie sich stumm selber die Antwort. Vor etwas Angst zu haben, war in gewisser Weise normal und nicht jedem gelang es sofort, seine Angst, begründet oder nicht, zu überwinden. Aber wenn ich dir verzeihen soll, mein Lieber, musst du jetzt eine Menge investieren. So einfach wie eben mach´ ich dir es bestimmt nicht noch einmal.

**********

   Den ganzen Tag lang fuhren John und Gilian kreuz und quer durch den Busch. Dabei kamen sie unter anderem auch an dem Steinbruch vorbei, der menschenleer und verlassen in der heißen Sonne lag. John hielt sogar an, um sich gründlich in der Höhle umzusehen. Nach einer Viertelstunde kam er jedoch achselzuckend ohne Ergebnis wieder heraus.

   „Nichts, aber ich wollte sicher gehen. Es wäre ein guter Unterschlupf gewesen. Den Steinbruch kennen nicht viele in der Gegend. Im Grunde nur Einheimische und Eingeweihte.“

   „Schade“, resümierte Gilian. „Aber Danke, dass du nachgesehen hast.“

   „Natürlich“, antwortete John überrascht. „Warum sollte ich nicht? Ich will die Beiden schließlich auch finden.“

   „Schon gut, entschuldige. Natürlich willst du das. Es ist nur … ich hab´ nur gerade einen kleinen Durchhänger.“

   Es fiel John schwer, Gilian das zu sagen, was er jetzt sagen musste. Er stieg zurück in den Wagen und legte tröstend eine Hand auf ihren Unterarm. „Verständlich, aber… Gilian, wir müssen uns langsam auf den Rückweg zur Station machen.“

   Er beobachtete, wie sie entsetzt die Augen aufriss und es tat ihm in der Seele weh. Aber es musste sein. „Der Tank ist so gut wie leer. Wir kratzen schon an der Reserve und wenn wir uns nicht bald auf den Rückweg machen…“ Er stockte kurz. „Außerdem wartet Charlie sicher schon auf uns.“

   Gilian war bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen. „Charlie ist ein sehr guter Freund von dir, nicht wahr?", sagte sie nachdenklich, eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen.

   „Na ja, wir sind schon seit ziemlich vielen Jahren zusammen. Für Außenstehende mag unsere Beziehung vielleicht manchmal etwas merkwürdig anmuten, aber ja, Charlie ist mein bester Freund. Und außerdem mein Schwiegervater."

   „Er hat Alkoholprobleme", stellte Gilian jetzt trocken fest. Ohne Vorwurf in der Stimme, sie stellte es einfach nur fest.

   John streifte sie mir einem anerkennenden Seitenblick: „Du bist eine gute Beobachterin. Das haben bislang noch nicht viele bemerkt. Und du kennst ihn immerhin kaum."

   „Kunststück.“ Gilian lächelte traurig. „Gregory arbeitet schon seit vielen Jahren für uns."

   „Ah, verstehe.“ Für John schien die Sache damit erledigt zu sein, denn er startete den Wagen in einer Staubwolke.

   Offensichtlich hat er es ziemlich eilig, nach Hause zu kommen, dachte Gilian mit einem Anflug von Verbitterung.

**********

   Ben schlenderte gelangweilt über die Basis auf die Offiziersmesse zu. Sein Vater wollte ihn sprechen und er hatte es nicht gerade eilig der Bitte des lieben Gottes zu folgen.

   „Hey, wart´ mal!"

   Er drehte sich um und sah Mitch, der mit langen Schritten auf ihn zusteuerte.

   „Verdammt, was soll das? Was willst du von mir?", raunzte er unwillig. „Ich dachte, man soll uns auf der Basis nicht zusammen sehen."

   „Die Umstände ändern sich", gab Mitch kurz zurück.

   „Und? Was ist los?"

   Mitch blickte sich unauffällig um. „Nicht schlecht, wie du das mit dem Dope gedeichselt hast“, sagte er dann. „Alle Achtung."

   „Woher weißt du denn davon?"

   Der Soldat grinste dünnlippig. „Die Buschtrommeln funktionieren. Ich muss schon sagen: Den Knaben hast du wirklich geschickt kaltgestellt."

   „Und wenn schon. Der Preis dafür war verdammt hoch. Mein Dad ist stinksauer.“

   „Tja, dein Dad...“ Mitch machte eine Kunstpause und beobachtete Ben aus zusammengekniffenen Augen. „Wie sauer wäre der General wohl erst, wenn er wüßte, was sein lieber Herr Sohn sonst noch so auf dem Kerbholz hat? Wenn er die ganze Wahrheit über dein Treiben erführe. Ich könnte mir vorstellen, dass dann bei dir daheim der Teufel tobt.“

   Jetzt war es an Ben, die Augen zusammenzukneifen. „Was willst du, Mitch?“, fragte er lauernd. „Na los, raus mit der Sprache. Du willst doch nicht hier nur leere Drohungen ausstoßen, oder?“

   „Na gut, lassen wir den Eiertanz. Du musst was für mich aufbewahren.“

   „Wenn du von Stoff redest, vergiss es.“ Ben wollte weitergehen, doch Mitch hielt ihn am Arm zurück. Er blickte den Älteren an und schüttelte dessen Hand brüsk ab. „Finger weg. Was soll das?“

   „Es muss sein. Nur Vorübergehend."

   „Auf gar keinen Fall. Such´ dir jemand anderen. Ich bin froh, dass ich aus der Sache in der Schule mit einer Verwarnung herausgekommen bin."

   „Ich an deiner Stelle würde da noch mal drüber nachdenken. Wenn du willst, dass es dabei bleibt solltest du etwas kooperativer sein. Immerhin versorgen wir dich seit Monaten zu absoluten Sonderpreisen."

 

58. Kapitel

 

   Kimberly hatte sich zum Grübeln in ihr Baumhaus zurückgezogen. Jetzt hockte sie dort, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und lauschte beinahe atemlos dem Gespräch, das unterhalb von ihr auf dem Bürgersteig vor dem Grundstück ihrer Eltern stattfand.

   Vor einigen Minuten hatte sie Ben durch ein Astloch die Straße entlang kommen sehen und war schon im Begriff gewesen, sich bemerkbar zu machen, als sie Mitchs Stimme gehört und lieber den Mund gehalten hatte. Sie kannte Mitch als Kumpel ihres Bruders Scott, und sie konnte diesen arroganten Fatzke einfach nicht ausstehen. Daher hatte sie beschlossen, abzuwarten, bis die beiden ihr Gespräch beendet hatten. Inzwischen war ihr jedoch längst klar geworden, dass die beiden sie auf gar keinen Fall auf ihrem Lauschposten bemerken durften. Das Thema, das gerade dort unten besprochen wurde, war mehr als brisant.

   „Was wird das hier?", zischte Ben gerade. „Willst du mich erpressen?“

   „So würde ich das nicht sehen“, antwortete Mitch mit einer gefährlichen Ruhe in der Stimme. „Ich bitte dich lediglich um einen kleinen Gefallen."

   „Na klar“, schnaubte Ben unüberhörbar gereizt. „Und wie hast du dir das bitteschön vorgestellt?“

„Na bitte, es geht doch. Jetzt habe ich den Eindruck, wir verstehen uns.“ Kimberly hörte die Befriedigung, die in Mitchs Stimme mitschwang. „Schau, für dich ist es doch ganz einfach: Du deponierst den Stoff in diesem Schließfach mit dem doppelten Boden. Nachdem dort gerade erst etwas gefunden wurde, würde doch niemand vermuten, dass da schon wieder etwas lagert. Ich geb´ dir Bescheid, wenn die Wogen sich wieder geglättet haben. Du holst das Zeug und gibst es uns zurück. Ein bisschen was davon fällt dabei natürlich auch für dich ab. Für lau versteht sich.“

   „Das ist ja wohl das mindeste. A pro pos: Über wie viel reden wir hier? Der doppelte Boden fasst nicht unendlich viel."

   „Es ist auf jeden Fall eine größere Menge. Gegebenenfalls musst du dir halt noch ein Alternativversteck überlegen. Dein Problem.“

   „Ach ja? Findest du?“ Ben rieb sich über den Kopf. „Warum brauchst du überhaupt so plötzlich ein neues Versteck?", erkundigte er sich dann wie beiläufig, doch Mitch fiel nicht darauf herein.

   „Das geht dich nichts an. Pass auf: Ich gehe davon aus, dass deine Eltern heute Abend bei dieser Veranstaltung in der Offiziersmesse sind?“

   „Dort sind wir alle“, antwortete Ben knapp und Kimberly musste in ihrem Versteck unwillkürlich grinsen. Sie wusste sehr gut, dass Ben, wie so einige der anderen Jugendlichen auf der Basis – sie eingeschlossen – überhaupt keinen Bock hatte, zu dieser Propagandaveranstaltung, die der General kurzfristig nach den Geschehnissen in der Schule für den heutigen Abend einberufen hatte, zu gehen. Sie wusste aber aus der Vergangenheit, dass selbst Ben keine Schnitte bekam, wenn sein Vater sich erst einmal etwas in den  Kopf gesetzt hatte.

   „Sehr gut“, sagte nun wieder Mitch. „Sorg dafür, dass eure Haustür offen bleibt. Dir wird schon etwas einfallen, wie du das anstellst. `Vergiss´ halt irgendetwas, so dass du noch mal zurück musst. Wenn du später nach Hause kommst, wirst du den Stoff unter deiner Matratze finden. Sieh dann bloß zu, dass du ihn schnell im Versteck deponierst."

   „Alles schon perfekt durchdacht, was?“, knurrte Ben offensichtlich immer noch schwer angefressen.

   „Wenn ich nicht alles bedenken würde, stünde ich jetzt nicht hier“, antwortete Mitch großspurig. „Bau ja keine Scheiße, hörst du? Immer schön dran denken, wie tief du selber da drin steckst.“

   Kimberly hörte ein Geräusch, wie wenn eine Hand auf Leder klatscht. Offensichtlich hatte Mitch, Ben zum Abschied einen Schlag auf die Schulter verabreicht. Dazu passte auch, dass der zischte: „Fass mich nicht an. Wir sind keine Freunde“, was Mitch zu einem leisen Lachen herausforderte.

   „Natürlich nicht“, sagte er kalt. „Als wollte ich mit so einem kleinen Speichellecker befreundet sein. Aber es ist mir immer wieder eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen, Kleiner.“

   Speichellecker? Kimberly hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht spontan loszukichern. Mitch mochte zwar ein Arschloch sein, aber das war eine verdammt gute Charaktereinschätzung von Ben, dem das natürlich gar nicht gefiel, wie seine nächsten Worte bewiesen.

   „Ach, verpiss dich endlich. Mein Vater wartet auf mich.“

   „Ist das so? Na ja, du brauchst ihn nicht von mir zu grüßen“, reagierte Mitch mit zuckersüßer Stimme. „Und ich warne dich: Werd´ ja nicht pampig. Hey, du hast Glück, ich wäre jetzt so oder so gegangen. Im Grunde bin ich ja hier, um etwas mit meinem Kumpel Scott zu besprechen.“

   Kimberly hörte das Gartentor quietschen und duckte sich unwillkürlich in eine Ecke des Baumhauses. Durch das Astloch sah sie, wie Ben mit langen Schritten die Straße entlang marschierte. Danach lugte sie vorsichtig um die Ecke in den elterlichen Garten hinunter und bekam gerade noch mit, wie ihr Bruder Mitch ins Haus ließ. Sie war verwirrt, über das belauschte Gespräch und fragte sich unwillkürlich, ob womöglich ihr Bruder da auch mit drin hing. Wenn dem so war … und Scott zugelassen hatte, dass sie alleine die volle Breitseite ihrer Eltern abbekam … und Marc außerdem völlig unschuldig an der ganzen Geschichte war … dann musste sie etwas unternehmen.

   Gut, sagte sie sich. Soviel ist klar, aber was kann ich alleine schon ausrichten? Womöglich würde argumentiert, sie wolle sich nur herausreden, um selber ihre Strafe zu mindern. Nein, sie brauchte noch mehr; bestenfalls handfeste Beweise, und dazu musste sie unbedingt herausbekommen, was Mitch mit ihrem Bruder zu besprechen hatte.

**********

   Auf der Station wurden John und Gilian bereits von Charlie und dem Bügermeister, der kurz vor ihnen eingetroffen war, erwartet. Die beiden Männer unterhielten sich auf der Terrasse der Station.

   „Gut, dass ihr kommt“, begrüßte Charlie sie. „Es gibt Neuigkeiten.“ Er wies mit einer Hand auf den Bürgermeister. „Er möchte Tom einweihen.“

   Johns Miene drückte seine Zweifel aus. „Ernsthaft? Hältst du das für klug?“, wandte er sich an den Bürgermeister.

   „Ja. Ich habe nachgedacht. Ihr wisst, dass ich normalerweise gar nicht den Mund halten dürfte. Ich bin schließlich nicht nur Bürgermeister, sondern stehe hier auch für Recht und Gesetz ein. Ich müsste Unterstützung anfordern und Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Stattdessen habe ich mich damit einverstanden erklärt, den Ball flach zu halten. Zumindest für ein paar Tage“, schränkte der Bürgermeister ein. „Aber damit bewege ich mich auf dünnem Eis und in der Stadt fängt die Gerüchteküche bereits zu brodeln an, unter anderem auch wegen Ihrer Tochter, Botschafterin. Die Jugendlichen machen sich so ihre Gedanken, warum Suzanne so plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist. Ich denke, es wäre gut, wenn wir einen der ihren auf unserer Seite hätten. Tom könnte, wohldosiert selbstverständlich, gewisse Dinge in unserem Sinne verbreiten. Zum Beispiel, dass er ihr zufällig bei einem Besuch in der Botschaft begegnet wäre.“

   „Verstehe“, entgegnete John gedehnt. „Du willst erreichen, dass die Gerüchteküche nicht überkocht, und Tom soll uns dabei behilflich sein, die Flamme klein zu halten.“

   „Genau“, nickte der Bürgermeister befriedigt. „Und? Was sagt ihr?“

   John nickte. „Okay, von meiner Seite aus geht das in Ordnung. Aber ich kann das nicht alleine entscheiden. Gilian? Was sagst du dazu?“

   „Ich weiß nicht.“ Gilian blickte unschlüssig von Einem zum Anderen. Dabei registrierte sie eher nebenbei, dass Charlie sie mit einem rätselhaften Schmunzeln im Gesicht musterte. „Klingt irgendwie vernünftig, oder?“

   „Gut, dann wäre das also beschlossene Sache“, verkündete John die Entscheidung. „Gibt´s sonst noch was?“

   „Ja, der General war bei mir zu Hause und hat sich nach Ihnen erkundigt, Mrs. Banks", berichtete der Bürgermeister. „Ich dachte, das sollten Sie wissen. Er hat anscheinend mehrfach versucht, Sie in der Botschaft zu erreichen. Wir sollten absprechen, was wir nach außen hin sagen.“

   „Verdammt noch mal, wieso mischen die sich andauernd in meine Angelegenheiten ", fauchte Gilian böse. „Können die mich nicht einfach mal in Ruhe lassen? Ich bin dem Militär keine Rechenschaft schuldig.“

   „Ich hab's dir gesagt", kommentierte John trocken. „Du musst zurück in die Botschaft. Charlie wird dich nach Hause bringen. Charlie?"

   „Sicher doch, immer zu Diensten.“

   „Das ist doch nicht nötig. Ich könnte doch mit dem Bürgermeister fahren“, wandte Gilian zaghaft ein.

   „Oh nein, ganz schlecht. Ich bin mit dem Motorroller gekommen“, entschuldigte sich der Bürgermeister mit einem breiten Grinsen. „Und eigentlich auch schon wieder weg. Ich habe noch einen Termin. Tut mir leid.“

   „Okay, ich versuche dann später noch mal bei dir vorbei zu kommen“, verabschiedete John seinen alten Freund. „Und ja, ich bin sehr dafür, dass wir uns absprechen. In Ordnung?“

   Der Bürgermeister nickte und winkte kurz zum Abschied. Gleich darauf knatterte er mit seinem alten Roller davon.

   „Tja dann…“ Charlie blickte von Gilian zu seinem Schwiegersohn. „…werde ich wohl mal schnell den Wagen holen. Ich befürchte mit dem Jeep kommen wir nicht mehr weit."

   „Kein Problem. Ich möchte sowieso nochmal kurz ins Bad, um mich ein wenig frisch zu machen. Bitte warten Sie hier auf mich", bat Gilian und verschwand ins Haus. Im Badezimmer angekommen starrte sie, fassungslos über ihr Äußeres in den Spiegel über dem Waschbecken. „Oh mein Gott, Gilian Banks. Wie siehst du denn aus? Grauenhaft.“

   „Das finde ich ganz und gar nicht", erklang eine Stimme aus dem Hin-tergrund und sie fuhr erschrocken herum. John stand in der offenen Badezimmertür, lässig an den Rahmen gelehnt, und betrachtete sie ziemlich ungeniert. Als er bemerkte, dass er sie erschreckt hatte, entschuldigte er sich ehrlich geknickt: „Tut mir leid. Ich fürchte, mein Benehmen ist in den letzten Jahren ziemlich auf der Strecke geblieben."

   „Schon in Ordnung", antwortete sie etwas verlegen. „Immerhin hast du mich schon heute Morgen nach dem Aufwachen gesehen und bist nicht gleich schreiend weggelaufen.“

   John lachte leise.

   „Hey, nachdem ich gerade einen Blick in den Spiegel geworfen habe, bilde ich mir darauf schon was ein“, protestierte sie gespielt empört.

   „Ich mag deinen Humor“, entgegnete John immer noch lächelnd. „Der ist mir gleich am ersten Tag aufgefallen. Und … ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich jemals schreiend weglaufen würde, wenn ich die Chance bekäme…“ Er stockte kurz und machte eine hilflose Handbewegung. „Du weißt schon“, schloss er leise. „Was ist? Hab´ ich was Falsches gesagt?“, setzte er hinzu, als sie die Augen senkte und schwieg.

   „Nein, ich ... ich weiß nur gerade nicht, was ich darauf antworten soll“, gestand sie. „Ich schätze, ich bin es einfach nicht mehr gewöhnt, dass jemand mit mir flirtet. Das tust du doch, oder?"

   „Ja, unbeholfen vielleicht, aber ich gebe mein Bestes und ich meine es ernst", lächelte John. „Ich hoffe, dafür bekomme ich Pluspunkte.“

   „Ja, die bekommst du allerdings.“ Langsam schlenderte Gilian auf ihn zu und machte schließlich dicht vor ihm Halt. „Ich will auch ehrlich zu dir sein: Es gefällt mir", wisperte sie.

   „Tja, das freut mich. Schade, dass die Umstände gegen uns sind.“

   „Das sehe ich anders", gab sie zurück und fing seinen Blick ein. „Weißt du, was ich mir wirklich wünschen würde?"

   „Was?", fragte er heiser.

   „Dass du endlich diesen dummen Standesdünkel vergisst. Ich glaube, Charlie hat sowieso längst bemerkt, dass da irgendetwas zwischen uns läuft. Als du mich eben draußen angesprochen hast, hat er die Augenbrauen hochgezogen und geschmunzelt.“

   „Ist das so? Scheiße ja, was soll ich dazu sagen? Der Mann hatte schon immer `ne Antenne für so was.“ John überbrückte die verbliebene Minidistanz zwischen ihnen, indem er sich ein Herz fasste und seine Arme um sie legte. Gilian hielt den Atem an. „Gilian, glaub´ mir, ich würde wirklich fürchterlich gerne herausfinden, was dieses `irgendetwas´ ist, aber … ich will die Situation nicht ausnutzen, verstehst du?“, flüsterte er dicht neben ihrem Ohr. „Es ist auch so schon kompliziert genug. Wir sind zurzeit so voller Emotionen. Unsere Kinder, dein Job und meine Probleme mit der Station, das ist alles so verfahren, dass ich Angst habe, dass wir da womöglich etwas verwechseln könnten.“

   „Du nutzt gar nichts aus“, murmelte sie und schmiegte sich in seine Arme. „Im Gegensatz zu dir glaube ich nämlich nicht, dass wir nur Adrenalingesteuert sind.“

   „Nein?“ John spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. „Oh Mann, es ist echt total verrückt. Ich hätte nicht gedacht, dass mir sowas nochmal passiert."

   „Mir geht´s doch genauso. Aber es fühlt sich verdammt gut an. Und ich bin wirklich froh, dass ich die Angst um Suzanne mit dir teilen kann. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass ich froh bin, dass Marc auch…“

   „Psst“, machte er, legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen, legte den Kopf schräg und beugte sich leicht nach vorn.

   Hinter ihnen erklang ein diskretes Räuspern und die beiden fuhren herum wie ertappte Kinder.

   „Entschuldigung. Ich wollte nur mal sehen, wo sie bleiben, Mrs. Banks.“ Charlie blieb auf der Treppe stehen und grinste von einem Ohr zum anderen. „Ich wär´ dann soweit ... und der Wagen auch.“

   „Du hattest schon immer ein scheiß Timing, mein Lieber“, beschwerte sich John scherzhaft und gab Gilian frei.

   „John, bitte. Danke Charlie, ich komme." Sie bückte sich, tauchte unter Johns Arm durch und ging zur Treppe. Auf der obersten Stufe stehend, drehte sie sich noch einmal zu John um: „Wir sehen uns?"

   Er lächelte: „Hunderprozentig. Sieh´ zu, dass du dir in der Zwischenzeit den General vom Leib hältst, hörst du?"

   „Ich geb´ mir Mühe.“

   „Und Gilian?“

   „Ja?“

   „Ich vermiss´ dich jetzt schon.“

   Gilian schluckte einmal kräftig und lächelte. „Ich dich auch. Bitte beeil dich.“

********

   Kimberly kletterte die Leiter hinunter, eilte durch den Garten, schlich sich durch die offene Hintertür ins Haus, streifte ihre Schuhe ab und hastete barfuß nach oben in den ersten Stock. Im Flur blieb sie stehen und überlegte kurz. Sollte sie es wirklich wagen? Was, wenn die beiden sie erwischten und Scott tatsächlich mit Mitch gemeinsame Sache machte? Vor ihrem Bruder hatte sie keine Angst, aber Mitch hielt sie durchaus für gefährlich. Ach was, sagte sie sich gleich darauf. Es würde schon gut gehen. Scotts Zimmer lag direkt gegenüber vom Badezimmer und im Notfall würde sie eben vorgeben, auf die Toilette zu müssen. Auf Zehenspitzen schlich sie weiter und legte gleich darauf mit angehaltenem Atem ihr Ohr an die Zimmertür ihres Bruders.

   „…du einen Spaten?“, hörte sie Mitch fragen.

   „Was willst du denn damit?“, stellte ihr Bruder prompt eine Gegenfrage. Ja, das fragte sie sich allerdings auch.

   „Das Versteck muss geräumt werden. Solange wir nicht sicher sein können, dass die beiden ihr Maul halten, besteht akute Gefahr, dass wir auffliegen. Und da du Penner sie nicht finden konntest…“

   „…du ja wohl ebensowenig“, begehrte Scott wütend auf.

   „Wie auch immer. Was den Stoff angeht, um den habe ich mich gekümmert. Aber den Rest müssen wir vergraben. Am besten dort, wo wir die letzten Fallen aufgestellt haben. Dort war der Boden nicht so verflucht hart. Nimm dir diese Nacht nichts vor. Wenn wir Pech haben, müssen wir das Zeug bis zum Liefertermin dort lagern. Guck nicht so, ich kann´s nicht ändern. Das Beste wäre ja, wenn wir die beiden doch noch fänden. Dann bekämen wir nicht nur die Kohle, sondern wären auch gleichzeitig saved.“

   „Mir gefällt das alles nicht“, moserte Scott. „Was hast du mit den beiden vor? Selbst wenn wir sie finden … wir können sie doch nicht ewig festsetzen und davon mal abgesehen, ich glaube nicht, dass die beiden den Mund halten werden.“

   „Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es soweit ist. Verlier jetzt bloß nicht die Nerven. Wie kriegen das hin. Ich muss los.“ Es hörte sich an, als würde jemand aufstehen, und Kimberlys Körper spannte sich an. „Schließlich habe ich heute noch einen wichtigen Anruf zu erledigen.“

   Das reichte. Nichts wie weg. Kimberly huschte zur anderen Seite und schaffte es gerade noch rechtzeitig die Badezimmertür leise zu schließen, als sich gegenüber Scotts Zimmertür öffnete.

   „Ich melde mich. Und denk dran: Keine Panik.“

   „Warte, ich komme mit.“

   „Wie jetzt? Ich dachte, du musst zum Dienst?“

   Scott murmelte irgendetwas für Kimberlys Ohren unverständliches, doch sie registrierte mit Erleichterung, dass ihr Bruder Mitch offensichtlich nach draußen begleitete, denn sie hörte durch die geschlossene Tür deutlich, wie mehrere Personen die Treppen hinunter gingen. Aufatmend lehnte sie sich von innen gegen die Badezimmertür. Das hätte auch ins Auge gehen können, dachte sie und bemerkte jetzt erst, dass sie vor lauter Aufregung am ganzen Körper zitterte.

   Du lieber Himmel, da war sie im Grunde gegen ihren Willen etwas Großem auf die Spur gekommen. Dass es sich um etwas Großes handeln musste, davon war sie, nach allem, was sie belauscht hatte, fest überzeugt. Okay, was hab´ ich, versuchte sie ihre Gedanken zu sammeln. Marc ist unschuldig, das ließ sich zumindest aus dem Gehörten schließen. Ben hatte die Drogen in seinem alten Schließfach, das jetzt Marc gehörte, deponiert. Warum er das getan hatte, entzog sich ihrer Kenntnis, aber das war letztlich auch egal. Ben war auch der Dealer in der Schule und er bezog den Stoff offensichtlich von Mitch und … ihrem Bruder, diesem verdammten Narren. Irgendetwas war wohl schief gegangen, denn Mitch und Scott mussten ihre Vorräte in Sicherheit bringen. Dazu wollten sie unter anderem Ben benutzen. Soweit so gut.

   Aber da war noch mehr. Etwas, das offenbar größer war und mehr Platz benötigte, als Drogen. Was konnte das sein? Sie hatte keine Ahnung und auch keine Idee, um was es sich dabei handeln könnte. Auf jeden Fall sollte das – was auch immer es war – in dieser Nacht vergraben werden. Ach ja, und wer waren `die beiden´, von denen mehrfach gesprochen worden war? Wer auch immer diese beiden Personen waren und egal, was sie mit der ganzen Sache zu tun hatten … jetzt schwebten sie anscheinend in Gefahr, denn Mitch und Scott waren gar nicht gut auf sie zu sprechen.

   Fakt war, Stubenarrest hin oder her, sie musste dringend mit irgendjemand reden. Sie hatte zwar keine Ahnung, wem sie sich anvertrauen sollte, aber es musste relativ zügig geschehen, soviel war klar. Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf und ihre Miene hellte sich auf. Ja, genau! Das war die richtige Person. Jetzt musste sie es nur noch möglich schnell und ungesehen bis in die Stadt schaffen.

   Vorsichtig öffnete Kimberly die Badezimmertür und horchte angestrengt. Nichts. Alles still. Ihr Vater hatte Dienst, ihre Mutter war einkaufen und Scott war offensichtlich tatsächlich zusammen mit Mitch verschwunden. Die Gelegenheit war günstig. Eilig huschte sie nach unten, griff nach ihren Schuhen und verließ das Haus genauso, wie sie hereingekommen war, durch die Hintertür. Hoffentlich lief sie jetzt nicht gerade ihrer Mutter über den Weg. Die Standpauke, dass sie trotz des Verbots jetzt das Haus verließ, konnte sie sich auch später noch abholen. Der Gedanke daran, was ihr blühte, ließ Kimberly zwar das Gesicht verziehen, aber jetzt, wo sie einmal einen Entschluss gefasst hatte, war sie nicht mehr zu stoppen. Sie schnappte sich ihr Fahrrad aus dem Gartenschuppen, schwang sich auf den Sattel und radelte fest entschlossen in Richtung Stadt.

 

59. Kapitel

 

   Ben war sauer. Stinksauer. Er hatte von seinem Vater den Auftrag bekommen, noch einmal in der Botschaft vorbeizuschauen, um sich nach Suzannes Befinden zu erkundigen. Seine Begeisterung über diesen Befehl, denn nichts anderes war der Wunsch seines Vaters, hielt sich schwer in Grenzen. Ausgerechnet jetzt sollte er sich um Suzanne kümmern. Jetzt, wo sich für ihn ganz andere, wichtigere Probleme abzeichneten, um die er sich eigentlich vorrangig kümmern sollte. Himmelherrgott nochmal, Suzanne, er war diese Zicke so was von leid. Doch der General schien der irrigen Ansicht zu sein, dass in der Botschaft irgendetwas lief, was nicht ganz koscher war, und dass dies irgendwie mit Suzanne zu tun hatte. Na ja, nicht sein Problem. Er würde einfach tun, was der Alte von ihm verlangte, Bericht erstatten und fertig. Einem ausdrücklichen Befehl des Generals widersetzte man sich nicht, das hatte er schon als Kleinkind auf die harte Tour lernen müssen.

   Also schwang er sich, nach dem Gespräch mit seinem Alten, auf sein Fahrrad und machte sich auf den Weg zur Botschaft. Auf sein wiederholtes Klopfen hin öffnete Gregory nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Tür. War der Alte schwerhörig, oder was? Oder schlicht überfordert mit seinem Job? Wenn´s nach ihm ginge, gehörte dieser steinalte, bornierte Affe gefeuert. Leider ging es nicht immer nach ihm. Zu schade.

   „Endlich“, begrüßte er den Mann knapp. „Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Ben McAllister, der Sohn von General McAllister.“

   „Ich weiß", entgegnete der Butler ihm ruhig, während er ihn kurz von oben bis unten musterte. „Was kann ich für dich tun?"

   Wie jetzt? Der Kerl duzte ihn? Was zur Hölle war das für eine Art Butler? Völlig respektlos. Vielleicht sollte er sich bei der Botschafterin über ihn beschweren? „Ich wollte zu Su“, antwortete Ben in einer Tonlage, die seine Missbilligung deutlich machte, was aber leider an dem Mann gänzlich abzuprallen schien.

   „Tut mir leid, aber das geht nicht. Miss Suzanne schläft."

   „Aber es ist nett, dass du vorbeischaust. Soll ich ihr Grüße von dir ausrichten?“ Die Botschafterin war hinter ihrem Butler aufgetaucht, woraufhin der Bedienstete beflissen einen Schritt beiseite trat.

   „Ja, ich meinte, nein.“ Ben dachte rasch nach. Sein Vater wäre mit Sicherheit sauer, wenn er unverrichteter Dinge zur Basis zurückkehrte. Und er hatte definitiv null Bock, den Weg noch einmal zu machen. „Ähm, kann ich nicht vielleicht warten, bis sie aufwacht? Ich würde sie wirklich gerne sehen.“

   Die Botschafterin schüttelte jedoch zu Bens großem Ärger verneinend den Kopf. „Nein, heute nicht. Es ist noch zu früh für Besuche. Suzanne hat hohes Fieber und es geht ihr wirklich nicht gut.“

   „Oh, das ist aber schade“, gab Ben sich leutselig. „Mein Vater hat übrigens mehrfach versucht, Sie zu erreichen. Er lässt Ihnen Grüße ausrichten.“

   „Ich weiß.“ Die Botschafterin nickte. „Er hat Nachrichten hinterlassen. Aber ich war unter anderem mit Suzanne in der Kreisstadt beim Arzt. Das dauerte.“

   Ben stutzte. Irgendwie kam ihm die Frau seltsam angestrengt vor. Beinahe so, als wolle sie ihn so schnell wie möglich loswerden. Ging es Suzanne wirklich so schlecht? Er kniff forschend die Augen zusammen: „Warum sind Sie denn nicht mit Suzanne zur Basis gekommen? Wir haben wirklich gute Ärzte dort.“

   „Benjamin, bitte. Ich habe wenig Zeit. Richte deinem Vater aus, ich melde mich bei ihm, sobald es Suzanne etwas besser geht.“

   „Klar, mach´ ich.“ Ben trat unentschlossen von einem Fuß auf den anderen. Es sah so aus, als käme er heute tatsächlich nicht weiter, als bis zur Tür. „Tja, na dann, vielleicht schaue ich morgen nochmal vorbei."

   „Du kannst dir ruhig ein paar Tage Zeit lassen. Suzanne braucht im Moment sehr viel Ruhe."

   „Mein Gott, was fehlt ihr denn?“, entfuhr es ihm ungeduldig. „Was sagt denn der Arzt?"

   „Das wird sie dir sicher später selber erzählen. Es tut mir leid, Benjamin, aber das musst du verstehen.“

   Irgendwie fühlte sich Ben wie rausgeworfen, als Gilian Banks ihm jetzt die Tür förmlich vor der Nase zuschlug. Verdammt, das war ihm auch noch nicht passiert. Fassungslos blickte er auf die geschlossene Tür und drehte sich schließlich wütend auf dem Absatz rum. Mann, im Moment lief aber auch gar nichts glatt. Hoffentlich glaubte sein Vater ihm, wenn er ihm berichtete, wie der Besuch abgelaufen war. Einerseits war er ja froh, dass es so gelaufen war. Für ihn lag klar auf der Hand, dass Suzanne keinen allzu grossen Wert auf seinen Besuch legte. Aber das wusste sein Vater ja nicht, und er war sich sehr bewusst, dass dem General viel daran lag, dass sein Sohn eine gute Beziehung zu Suzanne aufbaute. Ob sein Alter das wohl auch von ihm verlangen würde, wenn er wüsste, was für eine Zicke diese hohle Nuss war? Vermutlich schon, gab er sich selbst die Antwort.

   Auf halbem Weg zurück zur Basis begegnete ihm Kimberly, die ihrerseits in Richtung Stadt radelte.

   „Hey.“ Ben stoppte, hielt sein Rad an und stützte sich mit einem Fuß ab. „Was geht ab? Ich dachte, du hast Stubenarrest.“

   „Tja, eigentlich schon. Du musst mich ja nicht verraten. Ich will in die Stadt. Suzanne einen Besuch abstatten und schauen, wie es ihr geht.“

   Ben verzog das Gesicht. „Den Weg kannst du dir sparen. Ich komme gerade von dort. Sie lassen niemanden zu ihr."

   Ben beobachtete Kimberly genau. Sie wirkte, wie eigentlich immer, wenn sie mit ihm sprach, leicht verunsichert, aber merkwürdigerweise längst nicht so sehr wie sonst. Normalerweise wäre er davon ausgegangen, dass sie nach seiner Ansage, sofort umgedreht wäre und ihn zurück zur Basis begleitet hätte, aber jetzt hörte er sie zu seiner Überraschung antworten:

   „Sie werden mich schon reinlassen.“ Kim klopfte zuversichtlich auf ihre Umhängetasche. „Ich bringe ihr die Hausaufgaben. Du weißt schon: Damit sie nicht so viel versäumt."

   „Warum hast du das denn nicht gesagt? Hätte ich doch auch übernehmen können. So riskierst du Ärger.“

   „Nicht, wenn du den Mund hältst. Suzanne ist meine Freundin, und ich möchte sie selber besuchen“, antwortete Kimberly mit fester Stimme. „Hast du was dagegen?"

   „Nein, Nein, wieso sollte ich?", fragte Ben, immer noch etwas verwundert über Kimberlys neues Selbstbewusstsein.

   „Dann ist ja gut. Ich muss weiter. Mach´s gut, wir sehen uns.“ 

   Kimberly schwang sich zurück auf den Sattel, hob kurz verabschiedend die Hand und radelte weiter in Richtung Stadt, während Ben ihr noch kurz nachdenklich nachblickte, bevor er sich seinerseits in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg machte.

**********

   „Hallo“, sagte Kimberly überrascht von der Tatsache, dass die Botschafterin persönlich die Tür öffnete. „Ähm, guten Tag Mrs. Banks. Ich bin…“

   „Kimberly. Ja, ich weiß“, unterbrach Gilian Banks sie freundlich mit einem Lächeln. „Ich erinnere mich an dich. Was kann ich für dich tun?“

   „Ich wollte Suzanne die Hausaufgaben vorbei bringen.“

   „Oh“, antwortete Suzannes Mutter gedehnt. „Das ist aber nett von dir.“

   „Dann darf ich also zu ihr?", fragte Kimberly erwartungsvoll.

   Suzannes Mutter schüttelte den Kopf. „Nein. Tut mir leid, du wirst die Aufgaben schon bei mir lassen müssen. Noch darf niemand zu ihr."

   „Wieso nicht?“, entfuhr es Kimberly besorgt. „Geht es ihr so schlecht?"

   „Im Moment leider schon“, kam bedauernd die Antwort.

   „Oh, scheiße." Damit hatte Kimberly nicht gerechnet. „Ich meinte natürlich, schade. Was glauben Sie, wann kann ich wiederkommen?“

   „Leider kann es noch ein paar Tage dauern, bis sie wieder auf dem Damm ist. Lass die Aufgaben doch einfach bei mir. Ich verspreche, ich gebe sie ihr, sobald es ihr besser geht."

   „Nein, äh ... ich meine, das hat keinen Sinn. Ich werde ihr dazu einiges erklären müssen. Ich werde einfach … wiederkommen und nachfragen. Auf Wiedersehen."

   Bei ihrem beinahe fluchtartigen Abgang war es Kimberly sehr wohl bewusst, dass Suzannes Mutter ihr verwundert hinterher blickte, doch das war ihr in diesem Moment egal. Auf der Straße angelangt blieb das Mädchen erst einmal stehen und dachte nach. Sie konnte unmöglich jetzt zurück zur Basis fahren. Mit irgendjemandem musste sie ihr Wissen teilen, bevor sie womöglich der Mut wieder verließ. Unschlüssig warf sie einen Blick zurück zum Eingang der Botschaft. Vielleicht doch mit der Botschafterin? Nein, lieber doch nicht. Sie musste mit jemandem sprechen, mit dem sie auf Augenhöhe reden konnte. Plötzlich kam ihr die Erleuchtung. Tom! Ja, genau! Er war der Richtige. Erleichtert über diese Idee schwang sie sich auf ihr Fahhrad und machte sich auf den Weg. Soweit sie es im Hinterkopf hatte waren das Rathaus und der Wohnsitz von Toms Familie Eins.

**********

   Zehn Minuten später klopfte Kim dann doch etwas zögerlich an die Tür zum Bürgermeisteramt. Hoffentlich war Tom zu Hause. Noch so einen peinlichen Auftritt wie eben bei der Botschafterin wollte sie sich nicht antun. Und hier zog auch die Hausaufgabenausrede sicher nicht. Eine hübsche Afrikanerin öffnete die Tür und blickte sie ziemlich verwundert an. Kunststück, dachte Kimberly, hier kommen bestimmt nicht allzu viele Weiße vorbei … na ja, außer vielleicht Marc.

   „Ja? Was kann ich für dich tun?", erkundigte sich die Afrikanerin mit einer sehr angenehmen Stimme höflich.

   „Oh, ähm… Ich möchte zu Tom. Ist er da?“

   Die Afrikanerin zog fragend die Augenbrauen hoch: „Wer möchte das denn wissen?“

   Verflixt, die Frau hatte Recht. „Entschuldigung. Ich bin Kimberly, eine Klassenkameradin von Tom.“

   „Komm erst mal rein." Die Frau lächelte freundlich, gab den Eingang frei und Kimberly betrat eine durchaus gemütliche Diele, wie sie auf die Schnelle taxierend feststellte. „Augenblick, ich werde meinen Sohn rufen.“ Sie trat an den Fuß der im Hintergrund liegenden Treppe in den ersten Stock und rief hinauf: „Tom, da ist Besuch für dich.“

   „Besuch?“, klang es dumpf zurück. „Wer denn? Ich erwarte Niemanden“

   „Vielleicht kommst du ja einfach runter“, schlug die Afrikanerin vor und verdrehte die Augen in Kimberlys Richtung, die daraufhin zaghaft lächelte.

   Im ersten Stock waren Schritte zu hören und Toms schlacksige Gestalt erschien auf der Treppe. Als er Kimberly erkannte blieb er abrupt stehen und seine Miene drückte aus, wie überrascht er war, sie hier zu sehen.

   „Hallo“, begrüßte er sie dennoch nicht unfreundlich. „Was ist los? Ist was passiert?“

   „Ich würde gerne mit dir reden? Hast du ein paar Minuten für mich?“

   „So ernst?" Tom hob fragend die Augenbrauen.

   „Ja, Entschuldige, dass ich dich so überfalle, aber es ist wichtig."

   „Okay“, antwortete Tom gedehnt. „Ist mein Zimmer für dich in Ordnung?“

   Sie nickte erleichtert. „Gerne, wenn wir da ungestört sind."

   „Du machst es aber spannend. Geh' schon mal vor, Die Treppe hoch und dann die zweite Tür links. Ich hole uns nur noch schnell etwas zu trinken."

   „Danke.“ Kimberly nickte Toms Mutter, die immer noch wartend in der Diele stand, kurz zu und verschwand eilig nach oben. Sie fand Toms Zimmer problemlos und schaute sich nach dem Eintreten neugierig um. Zu ihrem Erstaunen unterschied es sich kaum von den Zimmern ihrer Freunde. Außer vielleicht in den Mustern der Gardinen und des Bettüberwurfs, denn die waren eindeutig nicht amerikanisch. Ansonsten herrschte das wohnliche Chaos eines Heranwachsenden.

   „Überrascht?“

   Kimberly zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum. Hinter ihr stand Tom mit einem Tablett in den Händen. „Oh Gott, nein. Ich … Entschuldige, dass ich deine Sachen so angestarrt habe“, antwortete sie kleinlaut.

   „Kein Problem.“ Tom grinste wissend. „Wenn ich geahnt hätte, dass du kommst, hätte ich natürlich aufgeräumt“, fügte er augenzwinkernd hinzu.

   Er versucht, das Eis zu brechen, erkannte Kimberly dankbar. „Nicht nötig“, antwortete sie grinsend. „Du solltest mal mein Zimmer sehen.“

   „Wer weiß, vielleicht irgendwann.“ Tom stellte das Tablett ab und fegte mit einer Hand ein paar achtlos dahingeworfene Kleidungsstücke vom Bett. „Bitte. Setz dich, ich nehme den Stuhl.“

   Völlig unaufgeregt füllte er zwei Gläser mit Eistee, während Kimberly sich, immer noch etwas nervös, zögernd auf der Bettkante niederließ.

   Tom reichte ihr ein Glas. „Hier, probier mal. Den macht meine Mutter selber, der ist wirklich gut."

   „Danke." Kimberly nahm das Glas von Tom entgegen und stellte es jedoch gleich wieder auf dem Nachttisch ab. Verlegen knetete sie ihre Hände ineinander, und wusste nicht so recht, wie sie anfangen sollte.

   „Du wolltest mit mir reden", sagte Tom aufmunternd, während er sie aufmerksam beobachtete.

   „Ja richtig. Mir ist sonst niemand eingefallen“, antwortete sie spontan.

   Tom zog amüsiert eine Grimasse: „Oh, wow, das ist wirklich nett."

   „Nein, oh mein Gott, so war das nicht gemeint. Ehrlich. Es ist nur … ich weiß einfach nicht, wie ich anfangen soll. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob es richtig ist, dass ich hergekommen bin."

   „Am besten, du fängst vorne an und am Ende entscheiden wir dann gemeinsam, was zu tun ist. Falls es nötig sein sollte, etwas zu tun.“

   Kimberly fasste sich ein Herz. „Okay, hör zu, es geht um Marc. Unter anderem zumindest. Ich hab' da zufällig was aufgeschnappt und eigentlich wollte ich mit Suzanne darüber reden, aber die Botschafterin läßt niemanden zu ihr", schloss sie schließlich. „Sie hat´s wohl richtig erwischt.“

   „So weit, so gut. Ich verstehe jetzt, dass ich ein Suzanne-Ersatz bin. Damit kann ich leben. Aber was genau hast du aufgeschnappt?", hakte Tom geduldig nach. „Du hast mich echt neugierig gemacht. Geht´s um diese Drogengeschichte?“

   „Auch. Aber ich glaube, da ist noch mehr. Hör zu…“ Kimberly holte einmal tief Luft und erzählte Tom von dem Gespräch, das sie zufällig belauscht hatte. Nachdem sie geendet hate, registrierte sie, dass Tom ihr ziemlich betroffen gegenüber saß. „Ich musste es einfach jemandem erzählen, verstehst du?"

   „Ja, allerdings. Und ich fühle mich wirklich sehr geehrt, dass ich gleich nach Suzanne die zweite Wahl für dich war.“ Tom sprach immer noch sehr ruhig und ausgeglichen, doch sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, erkannte Kimberly, als sie ihn jetzt genauer betrachtete. Er wirkte ungewöhnlich ernst, konzentriert und sehr, sehr nachdenklich.

   „Na ja, schließlich bist du Marcs bester Freund. Außerdem warst du immer sehr nett zu mir, wo wir zusammen das Rad repariert haben und so."

   „Du hättest es immerhin auch jemandem Anderen auf der Basis erzählen können. Oder deinen Eltern."

   „Ich weiß doch nicht, ob da womöglich noch andere in diese krummen Dinger verstrickt sind.“ Kimberly schnaubte und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Und was meine Eltern angeht, mein Dad steht voll hinter dem General. Er wird eher ihm glauben, als mir. Außerdem ist bei uns zu Hause immer noch voll die dicke Luft, weil Ben dem Rektor meinen Namen genannt hat.“

   „Jetzt beruhige dich erst einmal."

   „Was meinst du? Was sollen wir tun?"

   „Ich weiß noch nicht. Das will gut überlegt sein."

   „Aber irgendjemand muss Marc doch sagen, dass die schon wieder Gras in seinem Spind deponieren wollen. Ich meine, das muss er doch erfahren, oder findest du nicht?“

   „Ja, schon“, antwortete Tom, während er sich nachdenklich das Kinn rieb. „Leider ist das alles nicht so einfach...", fügte er dann, mehr zu sich selbst, hinzu.

   „Wieso nicht?“ Je mehr Kimberly darüber sprach, desto mehr war sie davon überzeugt, dass etwas unternommen werden musste. „Dir wird er zuhören. Und wenn wir das bei der Anhörung aussagen ist er rehabilitiert.“

   „Wir?" Tom zog fragend die Augenbrauen hoch.

   „Ja, wir. Bitte. Alleine stehe ich das nicht durch.“ Kimberly wurde mit einem Mal klar, wie ungewöhnlich ihrem Klassenkameraden ihre Bitte vorkommen musste. „Bitte, Tom. Mit dir im Rücken als Unterstützung…“

 

 

60. Kapitel

 

 

 

   Es dämmerte bereits, als Marc und Suzanne endlich ihr Tagespensum beendeten und in stillschweigender Übereinstimmung ihr Lager aufschlugen. Ihren ursprünglichen Plan, tagsüber im Schutz des Busches ein wenig zu schlafen, hatten sie nach ihrem morgendlichen Disput ad acta gelegt. Suzanne hatte stur darauf bestanden, dass sie soviel Wegstrecke wie möglich zurücklegten, und Marc hatte wider besseres Wissen schließlich nachgegeben. Jetzt machte es sich allerdings spürbar bemerkbar, dass sie zuvor fast die ganze Nacht durchgelaufen waren. Durch diese Anstrengung und die sengende Hitze tagsüber waren sie nun beide hungrig, staubig und spürten zu allem Überfluss jeden Knochen im Leib.

 

   Gut, dass wir am Wasserloch waren, dachte Marc, während er seinen Schlafsack ausrollte und ausbreitete, so gut das eben mit einem Arm funktionierte. So hielt sich wenigstens der Durst in Grenzen. Die Rationen, die sie sich tagsüber gegönnt hatten, waren zwar klein gewesen, doch sie hatten dafür gesorgt, dass Suzanne durchgehalten und nicht schlapp gemacht hatte. Seine Lippen umspielte ein Lächeln. Jedes Mal, nachdem sie getrunken hatte, hatte sie sich demonstrativ von ihm abgewandt und die Umgebung sondiert. Zumindest hatte sie so getan. Er wusste es besser: Sie war immer noch wütend auf ihn, doch in diesem Fall sah er ihr Verhalten sogar als Vorteil. So bemerkte sie wenigstens nicht, dass die Rationen, die er für sich abzweigte, noch einmal deutlich kleiner waren, als die, die sie zu sich nahm. Er nahm seit geraumer Zeit nur noch das allernötigste zu sich und sein Plan schien aufzugehen. Gut so. Er hatte sich geschworen, Suzanne heil zurück zum Ausgangspunkt zu bringen, und er war seinem Ziel ein großes Stück näher gekommen. Er musste es einfach schaffen. Anderenfalls könnte er sich das nie verzeihen.

 

   Er warf einen schnellen Seitenblick auf Suzanne, die ihrerseits noch mit ihrem Schlafsack kämpfte und schlenderte hinüber zu der Stelle, wo sie das Gepäck abgelegt hatten. Der Wasserkanister war inzwischen schon wieder so gut wie leer und in Suzannes Feldflasche war noch etwa ein Drittel Inhalt, während seine noch so gut wie voll war. Er stellte sich mit dem Rücken zu ihr und füllte vorsichtig Suzannes Flasche aus seiner auf. Hoffentlich bemerkt sie das nicht, schoss es ihm durch den Kopf. Die bringt es glatt fertig und schlägt mir das Ding um die Ohren.

 

   Bei der Vorstellung schlich erneut ein kurzes Grinsen über sein Gesicht. Suzanne war definitiv wiederstandsfähiger als er es ihr anfangs zugetraut hätte. Wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, verhielt sie sich wie ein wütender Terrier, der sich in etwas verbissen hatte.

 

   Einerseits konnte er ihre Wut auf ihn sehr gut nachvollziehen. Andererseits war er immer noch der Ansicht genau das Richtige getan zu haben. Selbst, wenn er es bedauerte und das tat er definitiv. Die Szene am Wasserloch schlich sich uneingeladen zum x-ten Mal an diesem Tag in sein Gedächtnis zurück und er spürte, wie seine Knie prompt wieder weich wurden. Womöglich lag das aber auch nur an seinem angegriffenen Kreislauf. Nein, unterbrach er seinen Gedankenfluss abrupt.

 

   Sei wenigstens ehrlich dir selbst gegenüber, schalt er sich. Dieses Mädchen geht mir mehr unter die Haut, als gut für mich ist. Und es ist nicht nur ihr gutes Aussehen. Ihre Lebensfreude, ihre Einstellung zu den Dingen und ihre Offenheit und Neugier allem Neuen gegenüber hatten ihn von Anfang an ungemein beeindruckt. Als sie dann am Wasserloch vermutlich all ihren Mut zusammengesucht und ihn geküsst hatte, war es endgültig um ihn geschehen gewesen. Er war schwach geworden. Einen Moment nur, doch der war es verdammt nochmal wert gewesen. Auch, wenn er sie danach sicherlich noch mehr verletzt hatte, als wenn er rechtzeitig die Reißleine gezogen hätte.

 

   So habe ich das nicht gewollt, entschuldigte er sich stumm bei seiner Begleiterin. Er hatte ihr nicht wehtun wollen, aber es musste sein. Seine Gedanken kreisten weiter. Musste es wirklich? Ja, gab er sich im nächsten Augenblick zutiefst deprimiert die Antwort. Es musste sein. Es gab keine andere Lösung, wenn er Suzanne nicht noch tiefer in sein persönliches Dilemma einbinden wollte. Das Fatale war, dass das genau der Punkt war, den er Suzanne nicht erklären konnte. Aus diesem Grund hatte er einen Rückzieher gemacht, so lange es ihm noch möglich gewesen war. Er war sich bewusst, dass durch sein Verhalten jetzt etwas unausgesprochen zwischen ihnen stand, und dass das in ihrer derzeitigen Situation eher störend als hilfreich war, aber es nützte ja alles nichts. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.

 

   Suzanne riss ihn abrupt aus seinen Gedanken, indem sie sich auf ihr Lager fallen ließ und stöhnte: „Scheiße, ich spür´ meine Füße kaum noch.“

 

   Marc verkniff sich den Hinweis, dass sie es gewesen war, die tagsüber jede Rast abgelehnt hatte. Stattdessen ging er neben ihrem Schlafsack in die Knie und sagte nur äußerlich ruhig: „Lass mich dir noch schnell einen neuen Verband anlegen. Dann kannst du schlafen." Die Vorstellung, Suzanne gleich berühren zu müssen, machte ihn äußerst nervös.

 

   Er war dankbar, dass sie sich kommentarlos zur Seite drehte und ihm ihre Schulter entgegenstreckte. Ruhig und sicher wechselte er den Verband, wobei er peinlich darauf achtete, Suzanne nicht zu nahe zu kommen. „Fertig“, sagte er schließlich und wollte sich auf seinen Schlafsack zurückziehen. Doch er hatte die Rechnung ohne das Mädchen gemacht.

 

   Sie hielt ihn an seinem unverletzten Arm zurück und blickte ihn zum ersten Mal seitdem sie das Wasserloch verlassen hatten, wieder direkt an: „Wie geht´s denn eigentlich deiner Schulter?“, erkundigte sie sich leise.

 

   „Geht schon“, antwortete er betont einsilbig, streifte ihre Hand ab, ging zu seinem Schlafplatz und legte sich vorsichtig hin. „Die Schiene hält `ne Menge ab.“ Den gesunden Arm legte er hinter den Kopf und schaute hoch in den sternenklaren Himmel.

 

   Suzanne folgte seinem Beispiel und schwieg. Marc glaubte schon, sie wäre eingeschlafen, als sie plötzlich wieder sprach. „Was für eine wunderschöne Nacht.“ Es klang beinahe andächtig. „Und doch wünschte ich, ich hätte wieder ein Dach über dem Kopf. Ist das nicht merkwürdig?"

 

   Marc begnügte sich mit einem diffusen Brummen als Antwort.

 

   „Wie weit ist es noch?"

 

   „Wenn alles gut läuft, schläfst du morgen schon wieder in deinem Bett."

 

   „Hoffentlich", sagte sie impulsiv.

 

   Überrascht registrierte er, dass ihre aus tiefstem Herzenn kommende Antwort ihn verletzte. Kunststück, Junge, dachte er. Was hast du erwartet? Dass sie das alles hier und ganz besonders noch deine Gegenwart, klasse findet? Dass sie in Jubelstürme ausbricht, weil du nach wie vor an ihrer Seite unterwegs bist und sie durch den Busch schleifst. Tja, schief gewickelt, Alter. Im Gegenteil, sie hat sich deine Ansage zu Herzen genommen und richtet sich danach. Du solltest also zufrieden sein! Du hast erreicht, was du wolltest. Merkwürdigerweise war er jedoch alles andere als zufrieden.

 

   „Ja, hoffentlich“, antwortete er endlich nach einer langen Pause. „Deshalb sollten wir jetzt schlafen. Gute Nacht, Suzanne."

 

   „Ja, gute Nacht, Marc“, kam leise das Echo von rechts.

 

**********

 

   In Toms Kopf überschlugen sich die Gedanken. Das, was er da gerade von Kimberly zu hören bekommen hatte, war brisant. Kein Zweifel und er konnte ihr Ansinnen durchaus versehen. Aber sein Vater hatte ihn zu absolutem Stillschweigen verdonnert. Also, wieviel durfte er seiner Klassenkameradin verraten? Die spann inzwischen den Faden bereits weiter.

 

   „Tom, überleg´ doch mal. Dann wären wir sogar schon zu viert: Du, ich, Suzanne ist sicher auch auf unserer Seite, wenn es ihr besser geht und Marc doch wohl sowieso. Dem helfen wir schließlich aus der Patsche."

 

   „Ja, sicher, aber auf die beiden können wir nicht zählen", entfuhr es Tom wie aus der Pistole geschossen. Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen, doch es war zu spät.

 

   „Wieso denn nicht? Das ist mir zu hoch!" Kimberly stockte, sah ihn mit großen Augen an und stand langsam auf. „Ich verstehe“, sagte sie nach einer Pause dann gedehnt. „Du willst mir nicht helfen. Es ist wohl besser ich gehe. Bitte entschuldige die Störung.“

 

   „Nein“, antwortete Tom schnell entschlossen und stand ebenfalls auf. „Schluss jetzt, wir gehen zu meinem Vater.“

 

   „Zu deinem Vater? Wieso? Was soll das?“ Kimberly wirkte verwirrt, was natürlich kein Wunder war.

 

   „Weil… Ich fürchte, da steckt noch viel mehr dahinter, aber ich kann dir nicht mehr sagen bevor wir nicht mit meinem Vater geredet haben." Er merkte wie Kimberly zögerte. „Hör zu, Suzanne ist doch deine Freudin?“

 

   Kimberly nickte unschlüssig. „Ja, schon, aber ich versteh´ trotzdem nicht…“

 

   „Das glaube ich dir gerne. Hab´ ein wenig Vertrauen und lass uns erst mit meinem Vater reden. Es ist wirklich immens wichtig. Er wird wissen, was zu tun ist.“ Er fasste vertraulich nach Kimberlys Hand und zog sie hinter sich her in den Flur. „Komm, wir bringen es direkt hinter uns. Er ist unten in seinem Arbeitszimmer."

 

   Unten angekommen klopfte er kurz an der Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters und steckte gleich darauf den Kopf durch die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. „Dad, hast du einen Moment? Kimberly ist bei mir und wir müssten kurz mit dir reden. Es ist wirklich dringend“, schloss er drängend als er registrierte, dass sein Vater zögerte.

 

   Der Bürgermeister wirkte zwar überrascht, doch er nickte. „In Ordnung. Kommt rein. Was habt ihr auf dem Herzen?"

 

   Tom schob Kimberly vor sich in das Arbeitszimmer hinein und folgte ihr auf den Fuß. „Ich denke, du kennst Kimberly.“ Er wies mit der Hand auf seine Klassenkameradin. „Sie ist mit Suzanne befreundet und sie wohnt auf der Basis. Dort hat sie heute folgendes belauscht….“ Tom berichtete seinem Vater in kurzen Zügen, was Kimberly ihm eben in seinem Zimmer erzählt hatte und als er geendet hatte, zog sein Vater die Stirn kraus und rieb sich die Nase. Ein sicheres Zeichen, dass er intensiv nachdachte. Prüfend blickte er von Tom zu Kimberly und zurück.

 

   „Traust du ihr?", erkundigte er sich dann ruhig bei seinem Sohn.

 

   „Ja", antwortete Tom ohne zu zögern und genoss kurz den dankbaren Blick, den Kimberly ihm darauhin zuwarf.

 

   „Würdest du..." Der Bürgermeister blickte Kimberly jetzt eindringlich an. „…den Soldaten wiedererkennen, mit dem Ben McAllister gesprochen hat?"

 

   „Ja", antwortete Kimberly. „Nicht nur das. Ich kenne ihn sogar flüchtig. Er heißt Mitch und hängt oft mit meinem älteren Bruder ab.“

 

   „Weißt du wo die beiden … so abhängen?"

 

   „Na, auf der Basis. Aber ich weiß, dass die beiden auch oft rausfahren. Wo sie dann sind, weiß ich nicht. Vermutlich in irgendwelchen Kneipen."

 

   „Könnte es sein,…?“ Tom beobachtete, dass sein Vater sich mit der Formulierung des nächsten Satzes schwer tat. „…dass dein Bruder eventuell auch in diese kriminellen Machenschaften verstrickt ist?", nannte er die Dinge schließlich beim Namen.

 

   Kimberly zuckte mit den Achseln. „Scott ist ein Mitläufer von seinem Freund, diesem Mitch. Er tut eigentlich alles, was der vorschlägt. Hören Sie, wollen Sie den Handel mit Dope wirklich gleich als hochkriminell verteufeln? Ich finde, das ist ein bisschen hart, oder? Sicher, ist es nicht okay, aber es gibt doch wahrhaftig Schlimmeres.“

 

   Auf den erneut fragenden Blick seines Vater reagierte Tom mit einem tiefen Seufzer: „Die Entscheidung liegt bei dir.“

 

   „Nein, nicht alleine. Das weißt du.“ Der Bürgermeister griff zum Telefon: „Wartet bitte kurz draußen“, ordnete er mit einer Handbewegung an. „Ich rufe euch dann wieder rein.“

 

   Tom nickte, fasste Kimberly am Arm und führte sie vor die Tür, die er sorgfältig hinter sich schloss.

 

   „Was ist denn überhaupt los?", fragte Kimberly, kaum dass sie im Flur standen. „Was sollen diese ganzen Fragen und die Geheimniskrämerei? Ich komm´ da nicht mehr mit, aber Tom, irgendwie macht es mir Angst. Noch mehr Angst, als ich hatte, als ich vorhin her kam."

 

   „Das kann ich mir vorstellen, aber bitte, warte einfach noch einen Moment ab", bat Tom, der sich zunehmend unbehaglich fühlte. Besonders seitdem es so aussah, als wäre auch noch Kimberlys Bruder in die Sache verwickelt. „Ich bin sicher, er ruft uns gleich wieder rein.“

 

   „Tom, was ist los?", fragte Kimberly und musterte ihn eindringlich. „Ich spür doch, dass du etwas weißt.“

 

   Tom schüttelte nur den Kopf und wich Kimberlys vorwurfsvollen Blicken aus. Gott sei Dank öffnete sich die Tür zum Arbeitszimmer bereits wieder und der Bürgermeister winkte die Jugendlichen wieder ins Innere.

 

   „Gut", hob er an und schaute ernst von einem zum anderen. „Kimberly, was ich dir jetzt sagen werde muss unbedingt unter uns bleiben. Du darfst mit Niemandem, verstehst du, mit keiner Menschenseele, darüber reden."

 

   „Gut", antwortete Kimberly sichtlich verunsichert. „Ich verspreche es."

 

   „Ich habe eben mit Botschafterin Banks telefoniert. Sie hat mir die Erlaubnis gegeben, dir zu sagen, warum sie dich nicht zu Suzanne lassen konnte. Warum niemand sie besuchen darf."

 

   „Na ja, Suzanne ist krank…“ Kimberly blickte verunsichert von einem zum anderen. „Oder etwa nicht?"

 

   „Nein, das ist sie nicht. Das ist nur die offizielle Version. Suzanne und Marc sind verschwunden. Und zwar schon seit Samstag."

 

   „Wie bitte?“, rief Kimberly entsetzt aus und wieder flogen ihre Augen hin und her. „Ja, aber wie…? Was ist denn passiert?“

 

   „Sie sind zu einem Ausflug in den Busch aufgebrochen und nicht zurückgekehrt", erklärte Tom. „Seitdem sind sie spurlos verschwunden.“

 

   „Wie jetzt? Und jetzt glauben Sie, dass Marc..."

 

   „Nein, um Gottes Willen“, ergriff zu Toms Erleichterung sein Vater wieder das Wort. „Im Gegenteil: Es gibt eine Lösegeldforderung. Für beide. Wie es scheint hat man sie unterwegs abgepasst, überfallen und nun wollen die Entführer Geld sehen. Viel Geld. Sie haben eine Frist gesetzt und die läuft bald ab. Deshalb denke ich, dass wir mit deiner Entdeckung sehr vorsichtig umgehen müssen. Noch."

 

   „Wow…“ Kimberly fühlte sich von den Neuigkeiten wie vor den Kopf geschlagen. „Jetzt ergibt Einiges einen Sinn“, sagte sie dann gedehnt. Was denken Sie? Glauben sie, dass Ben, Mitch und … mein Bruder auch hinter dieser Entführung stecken?"

 

   „Wir wissen nicht, wer dahintersteckt", antwortete der Bürgermeister betont neutral.

 

   „Aber es könnte sein“, wiederholte Kimberly, die äußerst unglücklich über diese Vorstellung wirkte.

 

   Toms Vater nickte. „Ja, du hast Recht. Es könnte sein. Es würde sogar sehr gut ins Bild passen. So oder so: Schon alleine wegen der Drogen müssen wir ihnen eine Falle stellen. Du bist unsere einzige Verbindungsstelle zur Basis. Du musst für uns Augen und Ohren offenhalten. Aber du darfst dir nichts anmerken lassen. Was meinst du, kriegst du das hin?“

 

   „Sicher. Das schafft sie", antwortete Tom an Kimberlys Stelle

 

   „Ich … da ist noch etwas“ Kimberly erzählte kurz von ihrem Treffen mit Ben, als sie auf dem Weg in die Stadt war. „Beweist das nicht, dass er mit der Entführung nichts zu tun hat?"

 

   „Vielleicht. Vielleicht baut er aber auch nur vor. Wir werden sehen. Am besten, du fährst zurück zur Basis. Und halte bitte den Kontakt mit Tom."

 

   „Das werde ich", versprach Kimberly dem Bürgermeister in die Hand, bevor sie sich von dem Mann verabschiedete.

 

   Tom begleitete Kimberly zur Tür. Entschuldigend blickte er sie an. „Verstehst du jetzt, warum ich nichts sagen konnte?“

 

   „Ja, schon. Aber … wusstest du die ganze Zeit über Bescheid? Das ist ja der Horror. Wie hast du das bloß ausgehalten."

 

   „Nein, ich weiß es auch erst seit heute.“ Tom zuckte mit den Achseln. „Was sollte ich tun?" Dann grinste er kurz: „Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich jetzt nicht mehr alleine mit meinem Wissen da stehe. Das macht es leichter für mich. Seitdem ich Bescheid weiß, komm´ ich aus dem Grübeln nämlich nicht mehr raus. Ehrlich gesagt, mache ich mir ziemliche Sorgen.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich finde es toll, dass du zu uns gekommen bist. Es war das Beste, was du tun konntest.“

 

   „Das hoffe ich. Sorry, aber ich muss das alles erst einmal verdauen.“

 

   „Kann ich mir gut vorstellen.“ Tom machte eine kurze Pause. „Darf ich dich noch um ein Versprechen bitten?“, fragte er schließlich leise.

 

   „Noch eins?“, fragte Kimberly mit scherzhaftem Unterton. „Wenn das so weitergeht komm´ich mir bald vor, wie eine Agentin. „Okay, raus damit?“

 

   „Dieses Versprechen wäre nur für mich“, gestand Tom mit klopfendem Herzen. „Es hat nichts mit dem anderen Drama zu tun. Es ist nur… Ich fände es toll, wenn du mit dem Dope aufhörst.“

 

   Kimberlys Gesichtsausdruck war unergründlich als sie ihm endlich antwortete. „Das ist nicht so einfach“, sagte sie schließlich und blickte zu boden. „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob ich dir das versprechen kann.“

 

   „Sorry.“ Tom war betroffen. „Ich wollte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Es tut mir leid, ich...“

 

   „Nein, warte. Lass mich ausreden“, fiel sie ihm ins Wort. „Was ich dir versprechen kann ist, dass ich es versuchen werde. Reicht das?“

 

   „Für´s Erste ja.“ Tom lächelte. „Wenn du möchtest, helfe ich dir dabei.“

 

   „Das klingt gut.“ Kimberly lächelte zaghaft zurück. „Das klingt sogar sehr gut.“

 

   „Prima, dann haben wir jetzt eine Abmachung. Mach´s gut und pass auf dich auf.“

 

61. Kapitel

 

 

 

   Der Bürgermeister hatte John nach Kimberlys Bericht direkt angefunkt und er hatte sich umgehend auf den Weg gemacht, unterwegs noch schnell Gilian in der Botschaft abgeholt und nun saßen sie im Büro des Bürgermeisters zusammen und redeten sich die Köpfe heiß, wie am besten mit den überraschenden Neuigkeiten umzugehen war.

 

   „Wenn wir nur wüßten, wo sie das Zeug vesteckt haben, kämen wir schon einen großen Schritt weiter. Es nützt uns nichts, wenn wir wissen wo sie es heute Nacht hinbringen wollen. Wenn da wirklich noch mehr dahinterstecken sollte..."

 

   „Es ist zu spät, John. Sie haben das Zeug sicher längst weggeschafft", unterbrach Gilian ihn sanft. „Ich finde das ja auch sehr unbefrie…“

 

   In diesem Augenblick klingelte das Telefon und der Bürgermeister war sofort am Apparat: „Ja?"

 

   -

 

   „Langsam, langsam. Und kannst du bitte etwas lauter sprechen." Während er angestrengt lauschte, gab er gleichzeitig seinen Besuchern Handzeichen sich ruhig zu verhalten.

 

   -

 

   „Okay, okay, ich verstehe. Also, was ist los?"

 

   Kurz darauf bedankte er sich und beendete das Telefonat. „Das war Kimberly“, klärte er die anderen auf. „Es ist ihr eben gelungen, ein Telefonat ihres Bruders zu belauschen. Er und sein Freund wollen heute Abend nochmal weg. Sie konnte nicht alles genau verstehen aber sie glaubt, etwas von einem Steinbruch gehört zu haben."

 

   „Am Steinbruch war nichts bemerkenswertes“, warf John deprimiert ein. „Ich war mit Gilian dort. Wir haben uns alles genau angesehen. Auch von innen.“

 

    „Hm… Einen anderen gibt es in dieser Gegend nicht“, überlegte der Bürgermeister. „Bist du wirklich sicher, dass da nichts war?"

 

   „Eigentlich schon, aber…“ John stand entschlossen auf. „…ich werde gleich nochmal rausfahren und mich noch einmal genauer umsehen. Wer weiß, vielleicht haben wir ja etwas übersehen."

 

   Der Bürgermeister erhob sich ebenfalls. „Ich werde dich begleiten."

 

   „Ich komme auch mit."

 

   „Nein, Gilian“, wehrte John ab. „Du bleibst hier und hältst die Stellung. Falls wir uns irren, werden die Entführer sich schon bald wieder melden."

 

   „Aber ich muss doch..."

 

   John winkte entschieden ab. „Nein. Ich bitte dich, sei vernünftig. Außerdem musst du uns im Notfall den General vom Leib halten.“

 

   „Was? Wieso? Der weiß doch von gar nichts."

 

   „Wissen wir das?“, gab John ernst zu bedenken. „Bislang vermuten wir das nur. Außerdem sagte ich: Im Notfall. Gilian, bitte."

 

   „Okay, wie du willst." Man konnte deutlich an Gilians Gesicht ablesen, dass ihr Johns Pläne alles andere als Recht waren.

 

   „Komm, lass uns fahren." John wich den vorwurfsvollen Blicken bewusst aus und wandte sich an den Bürgermeister. In diesem Moment klopfte es an die Tür und Tom steckte seinen Kopf ins Zimmer.

 

   „Braucht ihr mich?"

 

   Die beiden Männer blickten sich an. „Wer weiß, vielleicht schon.“

 

   „Gut", sagte Tom erfreut. „Ich bin dabei.“

 

   Gilians Gesicht sprach Bände, doch sie fügte sich zu Johns Erleichterung schweigend in ihr Schicksal als sie zehn Minuten später vor dem Botschaftsgebäude abgesetzt wurde.

 

**********

 

   „Ich bin dafür, dass wir das letzte Stück zu Fuss gehen", schlug John vor, als sie nicht mehr weit vom Steinbruch entfernt waren. „Falls sich da tatsächlich etwas abspielt, sollten wir die Pferde nicht scheu machen.“

 

   „Gute Idee, stellen wir den Wagen dort hinter den Büschen ab", stimmte der Bürgermeister sofort zu.

 

   Schweigend legten die drei das letzte Stück des Weges zurück, und stellten kurz darauf fest, dass sie den Weg nicht umsonst gemacht hatten. Ein Jeep der Army parkte vor dem Steinbruch mit hell erleuchteten Scheinwerfern.

 

   „Sie fühlen sich anscheinend sicher", flüsterte der Bürgermeister.

 

   „Gut so", brummte John angespannt. Es gab hier kaum Möglichkeiten, in Deckung zu gehen, falls die Soldaten unglücklicherweise gerade jetzt aus der Höhe kommen würden. Er war froh, dass sie den Wagen abgestellt hatten, sonst hätten sie sich alleine durch das Motorengeräusch schon auf sich aufmerksam gemacht. „Tom, du kümmerst dich um den Wagen. Sieh zu, dass du ihn irgendwie lahmlegst und dann wartest du hier auf uns. Dein Vater und ich gehen rein."

 

   „Okay!" Tom änderte die Richtung und schlich zum Jeep. Dort angekommen warf er einen Blick ins Wageninnere. Das Glück war ihm hold, denn der Schlüssel steckte. Mit einem breiten Grinsen zog er ihn aus dem Zündschloss, holte aus und schleuderte ihn mit einer weit ausholenden Bewegung in die Dunkelheit. Um wirklich sicher zu gehen, öffnete er danach noch die Motorhaube und entfernte mit geschickten Fingern die Verteilerkappe, die gleich darauf dem Weg des Schlüssels folgte – allerdings in entgegengesetzter Richtung. Er gab John Gilbert und seinem Vater ein Zeichen, bevor er sich anschließend noch einmal tief ins Wageninnere hinein bückte, und mit einer Hand unter den Beifahrersitz tastete. Wenn er sich nicht sehr täuschte, hatte er dort eben etwas sehr interessantes hervorschauen sehen. Etwas, das sich womöglich noch als brauchbar erweisen konnte…

 

**********

 

   Nach Toms Zeichen hatten sich John und der Bürgermeister links und rechts vom Höhleneingang postiert. Auf ein Zeichen von John hin zogen beide ihre Waffen und betraten die Höhle unmittelbar in dem Moment als Mitch, beladen mit einigen Stosszähnen in Plastiksäcken, dieselbe verlassen wollte. John erkannte auf den ersten Blick, was vor sich ging. Mitch ließ ihm jedoch erst einmal keine Chance zu reagieren. Nachdem er sich von seiner Schrecksekunde erholt hatte, ging er sofort zum Angriff über. Er holte aus und schleuderte John die Stosszähne vor die Brust, so dass dieser sein Gleichgewicht und unglücklicherweise auch seine Waffe verlor. Er taumelte rücklings gegen den Bürgermeister, dem daraufhin ebenfalls seine Waffe aus den Händen glitt.

 

   „Scott! Achtung! Pass auf!", brüllte Mitch just in dem Moment, als ihn Johns Faust hart im Gesicht traf, so dass der letzte Satz schon in einem undeutlichen Keuchen unterging.

 

   Kimerlys Bruder, der gerade mit einigen Fellen auf dem Weg in den vorderen Bereich der Höhle war, ließ diese umgehend fallen und eilte seinem Freund zu Hilfe. Der hatte sich bereits wieder von seiner Überraschung erholt und versetzte John nun seinerseits einen Schlag in die Magengrube, der diesen glatt auf die Knie zwang. Scott und der äußerlich etwas behäbig wirkende Bürgermeister lieferten sich überraschenderweise einen ziemlich ausgeglichenen Kampf.

 

   Mitch nutzte unterdessen die Gelegenheit, dass sich John kurz auf den Knien befand und trat ihm mehrfach mit den Stahlkappen seiner Stiefel in die Nierengegend. John wechselte die Farbe, fiel zur Seite und schnappte nach Luft. Mitch trat noch einmal kräftig nach und rief seinem Freund zu:

 

   „Ich bin draußen und starte den Wagen. Mach den Alten fertig und sobald du den Motor hörst, kommst du nach", befahl er knapp.

 

   Bevor er förmlich in Richtung Ausgang stürzte verpasste er John noch einmal einen so heftigen Tritt, dass dieser laut aufstöhnte. Trotz der Schmerzen machte John sich lang und versuchte verzweifelt, Mitchs Bein noch an den Knöcheln zu erwischen, was ihm allerdings nicht ganz gelang. Mitch geriet lediglich leicht ins Strauchen, doch es gelang ihm erneut, Johns Attacke abzuschütteln und weiter in Richtung Ausgang zu flüchten. Dort erwartete ihn allerdings eine herbe Überraschung, denn direkt vor dem Ausgang traf ihn ein Baseballschläger mit voller Wucht im Gesicht, was ihn zwei Zähne und zusätzlich das Bewusstsein kostete.

 

**********

 

   Tom, der zu seiner großen Freude den Schläger unter dem Beifahrersitz gefunden hatte, hatte sich damit geduldig neben dem Eingang postiert und auf seine Chance gewartet. Nachdem er mit seinem fulminanten Schlag Mitch außer Gefecht gesetzt hatte, kontrollierte er noch kurz, ob dieser auch tatsächlich nichts mehr würde ausrichten können, bevor er die Höhle betrat. Dort bekam er gerade noch mit, wie sein Vater und ein sichtlich angeschlagener John Scott in den Schwitzkasten nahmen.

 

   „Wir brauchen einen Strick!", rief John ihm immer noch atemlos zu und Tom rannte eilig zum Jeep zurück.

 

   Als er kurz darauf zurückkam, reichte er den Männern mit einem breiten Grinsen zwei Paar Handschellen. „Ich hab' da was Besseres."

 

   „Wo hast du die denn her?", erkundigte sein Vater sich überrascht.

 

   „Aus deinem Schrank im Keller. War nur so´ne Idee. Ich dachte, so für alle Fälle."

 

   „War `ne verdammt gute Idee", lobte der Bürgermeister seinen Sohn und verlor kein Wort darüber, dass Tom eigentlich nichts an seinem Schrank zu suchen hatte. Stattdessen klopfte er Tom anerkennend auf die Schultern, während John Scott die Handschellen anlegte.

 

   Danach konnten sie in Ruhe und kontrolliert vorgehen. Sie brachten Scott nach draußen und verluden ihn zusammen mit Mitch, der langsam wieder zu Bewusstsein kam und ihre Aktivitäten hasserfüllt beobachtete, auf die Ladefläche des Jeeps. Beide Männer wurden mit je einer Hand per Handschelle am Überrollbügel des Wagens gefesselt. Zuletzt wurden noch die Felle und das Elfenbeim in aller Ruhe verladen, bevor sie sich auf den Rückweg in die Stadt machten. Den fahruntüchtigen Army-Jeep ließen sie einfach vor dem Steinbruch zurück, da niemand Lust dazu verspürte, die fehlenden Utensilien im Dunkeln zu suchen.

 

********

 

   Gilian erwartete die Rückkehr der Männer bereits sehnsüchtig. Als sie am Fenster stehend das Motorengeräusch des sich nahenden Jeeps hörte, noch bevor sie das Auto sah, stürzte sie auf die Straße und wartete nervös auf die Ankunft des Wagens. Kaum stand das Fahrzeug, eilte sie nach hinten, warf einen Blick auf die Ladefläche und fragte enttäuscht:

 

   „Ist das alles? Wo sind die Kinder?“

 

   „Keine Spur von ihnen", sagte John, der hinten auf der Ladefläche mitgefahren war und Gilians tiefe Enttäuschung nachvollziehen konnte. „Und die beiden sagen kein Wort."

 

   „Weil wir nichts wissen. Sie haben überhaupt kein Recht uns hier festzuhalten!", schnauzte Mitch grossmäulig. „Das ist Freiheitsberaubung! Wir sind amerikanische Staatsbürger! Angehörige der Army!“ Er fixierte Gilian. „Hey, Botschafterin, ich verlange, dass Sie sofort General McAllister informieren!"

 

   „Wo sind unsere Kinder?", fragte Gilian außer sich vor Wut, ohne auf die Forderung einzugehen.

 

   „Welche Kinder?"

 

   „Wir haben keine Ahnung, wovon Sie reden“, mischte sich Scott ein, der allerdings nicht ganz so selbstsicher wirkte, wie sein Kumpel. „Wir waren nur zufällig da draußen, sind auf den Steinbruch gestoßen und wollten uns dort mal umsehen. Dabei haben wir das ganze Zeug gefunden."

 

   „Genau. Uns war klar, dass hier was nicht stimmt, und wir wollten das Ganze unserem General melden. Damit in Zwischenzeit niemand das Zeug beiseite schafft, wollten wir es mitnehmen. Rein zur Sicherheit“, tönte Mitch ins das gleiche Horn.

 

   „Plötzlich tauchte die beiden auf, fielen ohne Vorwarnung über uns her, und prügelten wie wild auf uns ein. Es ging alles so schnell, dass wir tatsächlich erst später erkannt haben, mit wem wir es zu tun hatten.“

 

   „Mir kommen gleich die Tränen“, presste John leise hervor.

 

   Mitch schickte ihm einen vernichtenden Blick aus halbgeschlossenen Lidern bevor er sich wieder Gilian zuwandte. „Botschafterin, rufen Sie endlich den General an. Hier läuft etwas gewaltig schief.“

 

   „Den Eindruck habe ich allerdings auch“, antwortete Gilian schmallippig.

 

   „Sperren wir die Typen erstmal ein", entschied der Bürgermeister. „In meinem Keller befindet sich eine Zelle.“ Als er spitzbübisch grinste, blitzten die weißen Zähne in seinem Gesicht auf. „Ich gestehe, ich freue mich fast ein wenig darauf, dass sie wieder einmal benutzt wird. Botschafterin, ich vermute, Sie möchten uns begleiten?“

 

   „Und ob ich das möchte“, kam grimmig die Antwort.

 

   Die Gruppe machte sich auf den Weg und nachdem alles erledigt war trafen sie im Arbeitszimmer des Bürgermeisters wieder zusammen.

 

   „Die beiden werden nicht reden. Nicht freiwillig zumindest", sagte John wütend. Nach der Auseinandersetzung mit den Soldaten schmerzte ihn immer noch jeder Atemzug, und jetzt sah es zu allem Überfluss auch noch so aus als würde die ganze Aktion zu einem Boomerang werden.

 

   „Das fürchte ich auch“, meinte Gilian tief deprimiert. „Das Schlimmste ist, dass wir nicht drumherum kommen. Ich muss den General informieren. Jetzt.“

 

   „Na, prima. Der hat mir hier gerade noch gefehlt", fuhr John auf.

 

   „Wer weiß, vielleicht reden die Soldaten ja bei ihm."

 

   „Ja, aber vielleicht hängt er ja, genauso wie sein sauberer Sohn, in der Sache mit drin. Schon mal darüber nach…"

 

   „John, natürlich habe ich…“

 

   „Ich hab' da eine Idee", mischte Tom sich in das Gespräch ein. Vermutlich befürchtete er, dass sich die Erwachsenen vor lauter Frust jetzt auch noch in die Haare bekämen und wollte daher gegensteuern.

 

   „Lass hören", forderte sein Vater ihn dankbar für die Ablenkung auf. „Wir brauchen jetzt gute Vorschläge."

 

   „Wir haben sie mit dem Wilderergut erwischt, das ist bislang alles. Da werden sie jetzt natürlich versuchen, sich rauszureden. Es ist schade, dass wir die Entführung schon angeschnitten haben. Was die beiden aber nicht wissen können ist, – und da sind wir ihnen definitiv noch einen Schritt voraus – dass wir dank Kimberly über ihre Drogengeschäfte Bescheid wissen. Übermorgen ist die Anhörung wegen Marcs Suspendierung. Alle werden da sein. Kimberly und ich könnten dort die Bombe platzen lassen und sie damit vielleicht überrumpeln. Damit erwischen wir gleichzeitig Ben, und wenn der General nichts damit zu tun hat, was ich übrigens nicht glaube, wird Ben singen wie ein Vogel um wenigstens halbwegs sauber aus der Geschichte rauszukommen. Ich könnte mir vorstellen, dass er alles tun wird, damit sein Vater ihm nicht den Kopf abreißt. Er hat gehörigen Schiss vor seinem Alten."

 

   „Hm, das ist nicht schlecht", überlegte John. „Das könnte funktionieren.“

 

   „Das sind noch fast zwei Tage", gab Gilian prompt zu bedenken. „Es könnte unsere Kinder umbringen, wenn wir so lange warten. Und das Gespräch mit dem General kann unmöglich zwei Tage warten. Es sind seine Männer und ob es mir nun gefällt oder nicht, es ist meine Pflicht, ihn zu informieren. Er kann mich sonst in echte Schwierigkeiten bringen. Zu Recht."

 

   „Das glaube ich nicht", sagte John beruhigend. Er schien sich immer mehr für den Gedanken zu erwärmen. „Unsere Kinder sind zäh. Und falls die Soldaten nichts mit der Entführung zu tun haben werden sich die Entführer sowieso morgen wieder melden. Wenn sie es allerdings nicht tun, spielt uns das ein weiteres Indiz in die Hände."

 

   „Indizien…“ Gilian blickte nachdenklich aus dem Fenster, wo sich am Himmel bereits wieder die ersten Anzeichen des Morgengrauens abzeichneten. „Beweise wären mir lieber“, fuhr sie fort und seufzte tief. „Also gut", sagte sie schließlich. „Ich weiß, ich sollte das besser sofort erledigen, aber ich werde das Gespräch mit dem General verschieben. Ich bringe im Moment einfach nicht die Kraft für eine Auseinandersetzung mit dem Mann auf. Außerdem verschafft uns das etwas zusätzliche Zeit. Aber…“ Sie blickte die anderen Anwesenden kreuzunglücklich an. „…auf gar keinen Fall zwei Tage. Tom, kannst du heute vor dem Unterricht bitte mit Kimberly reden und sie über den Plan informieren?"

 

   „Klar, das kriege ich hin“, versprach Tom.

 

62. Kapitel

 

 

 

   Suzanne erwachte am Morgen als Erste. Sie streckte sich vorsichtig, und nahm sich die Zeit ihr schlafendes Gegenber ausgiebig zu betrachten. In gewisser Weise war Marc ihr immer noch ein Rätsel, obwohl sie während der letzten Tage den überall als Eigenbrötler bekannten Jungen als sehr besorgten und zuverlässigen Freund kennengelernt hatte. Mehr noch: Das, was sie ihm gegenber am Tag zuvor am Wasserloch zaghaft angedeutet hatte, war längst eingetroffen. Deswegen hatte seine Reaktion auf ihre Worte sie auch mehr verletzt als sie es für möglich gehalten hatte.

 

   Sie hätte Marc nie für einen Feigling gehalten. Erst kam er ihr einen Schritt entgegen und gleich darauf hatte er nichts Eiligerers zu tun, als prompt wieder zwei zurück zu gehen. Das hatte wehgetan. Verdammt weh. Schon allein dadurch war ihr klargeworden wie es um sie stand. Allerdings glaubte sie ihm nicht so ganz. Wenn sie an seinen Kuss zurückdachte wurde ihr jetzt noch flau im Magen. Der Moment war so intensiv gewesen, fast magisch. Unvorstellbar, dass nur sie allein das so empfunden hatte.

 

   Und doch … hatte er plötzlich wieder dicht gemacht und sich von ihr zurückgezogen. Mit irgendetwas hielt er hinter dem Berg. Sie war sich fast sicher, dass er einen Plan verfolgte, in den er sie nicht einweihen wollte oder es aus irgendwelchen merkwürdigen Ehrgefühlen nicht konnte. Die Ungewissheit machte sie verrückt. Zu gerne hätte sie gewusst, was er im Schilde führte, doch – so gut kannte sie Marc inzwischen – wenn er nicht darüber reden wollte, dann würde er es auch nicht tun.

 

   An diesem Punkt spürte Suzanne, wie sich ihre Lippen zu einem kleinen Lächeln verzogen. Sie mochte Marc, so oder so, aber sie mochte es ganz besonders, wenn er so entspannt war, wie jetzt. Leider gab er sich im wachen Zustand nur selten so. Wie er so ruhig dalag und schlief fiel es ihr wieder einmal auf, wie sehr er sich von den anderen Jungen, die sie bislang kennengelernt hatte, unterschied. Er sah gut aus, gewiss, manch einer würde vielleicht sagen, auf eine etwas eigentümliche Art und Weise, aber das war eben sein Stil. Seine ganz persönliche Note, die zu ihm passte und die ihr nichts desto trotz sehr gut gefiel. Und trotz seines sehr lässigen Äußeren wirkte er insgesamt viel reifer und männlicher als viele seiner Altersgenossen.

 

   Nachdenklich streckte sie spontan einen Arm vor, und strich Marc äußerst vorsichtig die langen Haare aus der Stirn. Als er sich daraufhin leicht bewegte hielt sie erschrocken in der Bewegung inne. Erst als sie sicher war, dass er weiterschlief ließ sie den langen, auffälligen Ohrring, den er – wie sie von Tom wusste – niemals ablegte, sachte durch ihre Finger gleiten. Es war ein schönes Stück Schmuck. Wahrscheinlich war er nicht allzu wertvoll, doch sie vermutete, dass er für Marc einen sehr großen ideellen Wert besaß. Sie lächelte versonnen, egal, ob wertvoll, oder nicht, sie fand ihn auf jeden Fall wunderschön.

 

   Behutsam, um Marc nicht zu wecken, legte sie den Ohrring wieder ab, schälte sich aus ihrem Schlafsack heraus und begann aufzuräumen und zusammenzupacken. Plötzlich tauchte Marc neben ihr auf und war ihr schweigend behilflich.

 

   „Hey, guten Morgen", begrüßte sie ihn mit einem Lächeln.

 

   Er nickte lediglich kurz, ohne sie dabei anzuschauen. „Wenn alles gut läuft, sind wir heute Abend zurück bei der Station. Dann ist es vorbei", antwortete er einsilbig.

 

   „Ja", entgegnete sie ihm ungewollt harsch „Danke, dass du mich daran erinnerst. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie froh du bist, wenn du mich wieder los bist.“

 

   Marc streifte sie mit einem müden Seitenblick. Seine braunen Augen blickten matt und seine Züge ließen keine Rückschlüsse auf sein Inneres zu. „Ich habe weder die Zeit noch die Kraft, mich jetzt mit dir zu streiten."

 

   „Schon gut, ich will mich auch nicht streiten. Lass uns lieber sehen, dass wir hier fertig werden und loskommen, bevor es noch heißer wird."

 

   „Da bin ich ganz bei dir.“ Marc blickte kurz zum Himmel und seufzte tief: „Glaub mir, heute wird es heiß. Sehr heiß.“

 

   „Möchtest du lieber noch die Mittagshitze abwarten?“, fragte sie zweifelnd, als sie seinen Blicken folgte. „Auf ein paar Stunden mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an."

 

   „Nein, bringen wir es lieber hinter uns“, sagte er kurz.

 

   „Du siehst aber gar nicht gut aus“, wandte sie ein. „Bestimmt hast du wieder die halbe Nacht wachgelegen.“

 

   Ein Ruck ging durch seinen Körper und er streckte den Rücken durch. „Es geht schon. Mir hängt das nur langsam alles zum Hals raus."

 

   Suzanne fühlte sich durch seine Worte erneut tief verletzt und ein Blick in sein Gesicht zeigte ihr, dass Marc dies durchaus bewusst war. Doch er sagte nichts weiter, sondern streckte ihr lediglich schweigend den Rucksack entgegen. „Geh´n wir.“

 

**********

 

   Gilian bat den General telefonisch für den frühen Nachmittag in die Botschaft. Der Bürgermeister wollte Mitch und Scott nur sehr ungerne alleine mit seiner Frau und Tom in dem etwas provisorischen Gefängnis zurücklassen und so warteten sie noch, bis der stellvertretende Polizeichef in seinem Haus eintraf. Danach machte sich die kleine Gesellschaft geschlossen auf den Weg in die Botschaft.

 

   Nachdem sie die Männer in ihr Arbeitszimmer geführt hatte, entschuldigte sie sich, eilte in den ersten Stock, putzte sich die Zähne und machte sich hastig ein wenig frisch. Bevor sie eine frische Bluse überzog stützte sie sich mit den Händen am Waschbecken ab, beugte sich weit vor und warf einen selbstkritischen Blick in den Spiegel. Was sie dort sah, gefiel ihr gar nicht, denn sie musste erkennen, dass die Sorge um die Kinder bereits deutliche Spuren bei ihr hinterlassen hatte. Eine Tatsache, die General McAllister sicher nicht entgehen würde. Rasch versuchte sie die verräterischen Spuren wenigstens andeutungsweise zu überschminken, bevor sie sich auf den Rückweg nach unten machte. Ihr graute vor dem bevorstehenden Gespräch, auch wenn sie gleichzeitig froh war, dass sie das nicht alleine durchstehen musste.

 

   Noch während sie auf der Treppe war, klingelte es und Gregory öffnete dem General bereits die Tür, als sie in der Eingangshalle eintraf. Ohne Gregory eines Blickes zu würdigen, der gerade noch rechtzeitig respektvoll einen Schritt zurücktrat, eilte McAllister auf Gilian zu.

 

   „Botschafterin, was gibt es?“, fragte er mit besorgter Miene. „Da ich weiß, wie sehr Sie Ihre Wochenenden schätzen, muss die Angelegenheit ja von immenser Wichtigkeit sein“, fügte er in Anspielung auf ihre letzte Unterhaltung mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen hinzu.

 

   Sie warf Gregory einen entschuldigenden Blick wegen McAllisters Benehmen zu und antwortete kühl: „Das ist es allerdings.“ Sie ging voran und öffnete selber die Tür zu ihrem Arbeitzimmer. „Bitte General, folgen Sie mir. Es ist auf jeden Fall nichts, was ich in der Diele zwischen Tür und Angel mit Ihnen besprechen möchte.“

 

   Obwohl sie sich beim Betreten des Raumes seitlich von McAllister befand entging es Gilian nicht, wie der Mann beim Anblick von John Gilbert überrascht die Augenbrauen hochzog. John hatte offenbar beschlossen, sich im Hintergrund zu halten, denn er stand in einer Ecke seitlich von ihrem Schreibtisch am Fenster. Mit scheinbar ungerührter Miene beobachtete er, wie der General auf den Bürgermeister zutrat und ihm reserviert die Hand schüttelte, während er für ihn lediglich ein kurzes Nicken übrig hatte. Danach blickte er Gilian auffordernd an und kam gleich zur Sache:

 

   „Botschafterin? Wenn Sie mich jetzt bitte in Kenntnis setzen würden, worum es bei dieser Zusammenkunft geht? Bereits Ihre … Einladung am Telefon, die mir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, eher wie ein Befehl vorkam, klang sehr geheimnisvoll. Auch der Zeitpunkt für eine Unterhaltung kommt mir nach wie vor sehr ungewöhnlich vor. Und dass ich jetzt hier auch noch auf …“

 

   Er warf John einen missbilligenden Blick zu und als Gilian seinen Augen folgte, stellte sie fest, dass um Johns Lippen ein zynisches Lächeln spielte, das allerdings seine Augen nicht erreichte.

 

   „…Mr. Gilbert treffe, irritiert mich zugegebenermaßen über die Maßen.“ Der General blickte von einem zum anderen. „Es tut mir leid, aber ich komme mir ein bisschen vor, wie auf der Strafbank … allerdings ohne zu wissen, warum ich dort gelandet bin?“

 

   Der Blick, der Gilian nun traf, war eine Mischung aus Vorwurf und Frage, und sie biss sich auf die Zunge. Stattdessen gab sie, wie vorab besprochen, die Eröffnung des Gespräches weiter: „Tja, General, es hat sich etwas ereignet, das indirekt auch Sie betrifft.“

 

   „Indirekt?“

 

   „Nun, eigentlich sogar ganz direkt.“ Gilian nickte dem einheimischen Stadtoberhaupt zu. „Bürgermeister? Bitte.“

 

   Der Bürgermeister trat einen Schritt vor und redete nicht lange um den heißen Brei herum. „General McAllister, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich letzte Nacht dazu gezwungen war zwei ihrer Soldaten in Gewahrsam zu nehmen.

 

   McAllister sog hörbar die Luft ein. „Um wen handelt es sich, und was wird meinen Leuten vorgeworfen?", erkundigte er sich knapp. „Sie sagten letzte Nacht. Warum werde ich erst jetzt informiert?“

 

   „Es handelt sich um Scott Brady und Mitchell Duncan“, setzte der Bürgermeister den General in Kenntnis, wobei er allerdings großzügig dessen letzte Frage ignorierte. „Die beiden wurden von uns im Busch dabei erwischt, wie sie gerade dabei waren, Wilderergut beiseite zu schaffen. Ihnen ist ja sicherlich bekannt, wie streng hierzulande Wilderei geahndet wird.“

 

   „Ja, ja, schon gut. Sparen Sie sich das.“ McAllister machte eine ungeduldige Handbewegung. „Sie sagten, Sie hätten die beiden erwischt. Was sagen denn meine Soldaten zu den Vorwürfen? Womöglich haben sie die Sachen ja nur zufällig gefunden. Schon mal daran gedacht?"

 

   „Ich bin sicher, sie werden Ihnen später ihre Version der Geschichte erzählen. Aber Sie dürfen mir glauben: Die Beweise sprechen eindeutig gegen ihre Soldaten."

 

   „Entschuldigung, aber…“ McAllisters Stimme klang gepresst und eiskalt als er forderte: „…ich pflege, mir ein eigenes Bild zu machen. Wo sind meine Männer? Ich will sie sehen. Sofort.“

 

   „Sie befinden sich im Keller meines Hauses. Mein Stellvertreter passt auf die beiden auf“, antwortete der Bürgermeister.

 

   „Im Keller?“ General Mc. Allister schüttelte ungläubig den Kopf. „Nicht zu fassen.“

 

   „Ja, dort ist unser Gefängnis“, sagte der Bürgermeister jetzt fast entschuldigend und Gilian fragte sich unwillkürlich, inwieweit der Mann sich womöglich vom Auftreten des Generals beeindrucken ließ.

 

   McAllister trat auf den Bürgermeister zu und baute sich direkt vor dem Mann auf. „Sagen Sie: Wann genau haben Sie eigentlich meine Soldaten verhaftet? Und wagen Sie es ja nicht, mir wieder auszuweichen."

 

   „In den frühen Morgenstunden“, gestand sein Gegenüber leise.

 

   Der General lief rot an, hob eine Hand und für einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er tatsächlich zuschlagen. Gilian hielt unwillkürlich die Luft an, doch dann fuhr sich McAllister zu ihrer Erleichterung lediglich über seinen kurzrasierten Militärhaarschnitt. „Ich nehme an, Sie wissen sehr gut, dass Sie mich sofort hätten informieren müssen“, fauchte er wütend. „Ihr Verhalten ist unverzeihlich. Sie können sicher davon ausgehen, dass das Konsequenzen haben wird.“

 

   „General, beruhigen Sie sich. Wir hatten unsere Gründe“, mischte Gilian sich von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch aus ein.

 

   „Ach ja? Und die wären bitte? Im Übrigen verstehe ich nicht ganz, was … Gilbert hier zu suchen hat. Das ist ja wohl eher eine interne Angelegenheit.“

 

   „John Gilbert war bei der Verhaftung dabei“, übernahm der Bürgermeister wieder das Wort. „Außerdem ist er womöglich auch noch anders in den Fall verwickelt. Sozusagen persönlich.“

 

   „Ach, was Sie nicht sagen. Das ist ja interessant.“ McAllister hob die Augenbrauen. „Das lässt meines Erachtens tief blicken. Ich vermute, sein sauberer Sohn ist ebenfalls in die Wildereien verwickelt?“

 

   Gilian spürte, obwohl John in ihrem Rücken stand, dass der im Begriff war, eine Dummheit zu machen und kam ihm schnell zuvor. „General, ich bitte Sie noch einmal. Beruhigen Sie sich. Es wäre nicht gut, wenn sich die Fronten schon im Vorfeld verhärten. Noch ist Marc nicht verurteilt."

 

   „Ja, wie Sie schon sagten. Noch nicht. Warten wir den morgigen Tag ab. Dann sieht das sicher anders aus.“

 

   „Morgen…", erinnerte ihn Gilian sanft. „...findet zunächst einmal nur die Anhörung statt."

 

   „Ersparen Sie mir Ihre Spitzfindigkeiten. Ich verstehe Sie nicht, Botschafterin Banks. Sie sind doch eine vernünftige Frau: Wie können Sie nur so vertrauensselig sein?"

 

**********

 

   „Vertrauensselig? Das bin ich durchaus nicht", unterbrach Gilian den General kühl, und John bewunderte einmal mehr ihre Fähigkeit sich zu beherrschen. In ihm brodelte und kochte es schon wieder.

 

   „General", sprach Gilian weiter. „Da ist noch etwas, und da wir das Thema Ihren Leuten gegenüber schon angeschnitten haben..."

 

   „Wie bitte?“ Der General ging blitzartig nach vorn, stützte sich auf dem Schreibtisch ab und funkelte Gilian erbost an. „Soll das heißen, Sie haben meine Leute bereits verhört? Ohne mich vorher zu informieren, und ohne einen Anwalt hinzuzuziehen? Das wird ja immer besser!“

 

   Gilian begegnete dem wütenden Angriff äußerlich ruhig und gelassen. „Ich war zugegen, General und ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie mich künftig aussprechen lassen würden.“

 

   „In Ordnung.“ McAllister holte einmal tief Luft. „Ich höre…?“

 

   „Was wir Ihnen jetzt gleich mitteilen werden ist unbedingt vertraulich zu behandeln. John und ich, wir … wir haben uns trotzdem entschlossen, Sie einzuweihen, aber dafür erwarten wir in dieser Sache Ihre absolute Kooperationsbereitschaft. – Und Verschwiegenheit."

 

   „John?" Der General wirkte perplex.

 

   Auch John war sehr überrascht, dass Gilian dem General gegenüberkeinen Hehl aus der Persönlichkeit ihrer Beziehung machte. Obwohl, Beziehung ist sicherlich nicht die richtige Bezeichnung, sagte er sich gleich darauf und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf Gilian.

 

   „Ich denke, Sie wissen sehr gut wer John ist, General. Können wir diese Spielchen jetzt bitte lassen. Sie kosten nur kostbare Zeit."

 

   „Kann es nicht vielleicht eher sein, dass sie Ihren Status vergessen haben und sich zu sehr persönlich engagieren? Auf der falschen Seite, wie ich am Rande bemerken möchte. Ich könnte mir übrigens vorstellen, dass das gewisse Stellen in Washington sehr interessiert."

 

   „Sie wollen mir drohen?“, fragte Gilian kühl.

 

   „Aber nein, wie kommen Sie denn darauf?“, konterte der General. „Das war lediglich eine allgemeine Feststellung.“

 

   Gilian lehnte sich zurück und musterte ihr Gegenüber mit einer Mischung aus Verachtung und Coolness im Blick. „Wissen Sie, Ihre Meinung interessiert mich gerade nicht im Geringsten. Was Sie von mir persönlich denken ist mir ebenfalls ziemlich egal. Wenn Sie sich in Washington über mich beschweren wollen, dann bitte. Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich kann und werde Sie nicht daran hintern. Aber eines sollten Sie dabei gut im Hinterkopf haben. Ich tue nichts, was gegen die Regeln verstößt. Im Gegenteil, ich bin immer dafür, mit offenen Karten zu spielen. Damit bin ich bislang immer gut gefahren, und so handele ich auch jetzt. Manipulationen, gleich welcher Art, liegen mir nicht.“ Gilians Stimme hatte zunehmend an Schärfe gewonnen. „Das Einzige, was John und mich im Moment interessiert ist, dass wir unsere Kinder heil und gesund zurückbekommen. Und so wie es aussieht, könnte es sein, dass Sie uns dabei behilflich sein können. Falls nämlich Ihre Soldaten auch mit dem Verschwinden unserer Kinder zu tun haben.“

 

   „Verschwunden?“ Der General wirkte ehrlich betroffen. „Suzanne? Was genau meinen Sie mit `verschwunden'?"

 

   „Wir müssen von einer Entführung ausgehen?“ Gilian schluckte und John bemerkte, dass sie kurz um Fassung ringen musste, als sie die Tatsachen aussprach. „Es passierte am Samstag und inzwischen… Es gibt es Lösegeldforderung.“

 

   „Aber…“ McAllisters Blicke flogen verwirrt von einem zum anderen und als der Bürgermeister bestätigend nickte sagte er: „Ich dachte, Ihre Tochter wäre krank.“

 

   Gilian nickte. „Ja, für die Öffentlichkeit ist sie das. Und so soll es auch bleiben, deshalb erwarten wir Ihre absolute Diskretion. Suzanne und Marc kamen von einem Ausflug in den Busch nicht mehr zurück. Kurz darauf kam dann der Anruf mit der Forderung.“

 

   „Wie kommen Sie darauf, dass meine Leute darin verwickelt sind?“

 

   „Bislang ist es lediglich eine Vermutung“, gestand Gilian widerwillig.

 

   Der General überlegte. „Haben Sie schon mal daran gedacht, dass das Ganze eventuell nur fingiert sein könnte? Um ... nun ja, ich bin sicher, Sie wissen, worauf ich hinaus will."

 

   John konnte nicht mehr an sich halten. Er schoss von allen unbemerkt und unerwartet um den Schreibtisch herum, packte McAllister blitzschnell am Kragen und zischte: „Was willst du damit sagen, Brian?" Nur mit äußerster Beherrschung gelang es ihm, seine geballte Faust zurück zu halten. „Na los! Spucks schon aus! Sag es! Du hältst doch sonst nicht mit deiner Meinung hinter dem Berg!"

 

   Bevor Gilian etwas sagen konnte, eilte der Bürgermeister bereits auf John zu, und packte ihn am Arm und hielt ihn zurück.

 

   „Schon gut", reagierte John gepresst und riss sich sichtlich mit Mühe zusammen. „Du kannst mich loslassen.“ Er atmete einmal tief durch und ließ sich dann auf einen der Besucherstühle, die vor Gilians Schreibtisch standen, fallen. „Tut mir leid", sagte er leise an Gilian gewandt.

 

   „Damit hilfst du uns nicht gerade“, reagierte sie mit leisem Vorwurf.

 

   „Ich weiß ja. Ich weiß", sagte er deprimiert. „Ehrlich, es tut mir leid.“

 

   Gilian nickte ihm kurz zu, bevor sie sich wieder an den General wandte: „Wie sieht es aus? Können wir mit Ihrer Unterstützung rechnen?"

 

   McAllister ließ sich Zeit mit der Antwort. Viel Zeit. Schließlich sagte er sichtlich konsterniert: „Ich versichere Ihnen, dass ich meinen Verpflichtungen auf jeden Fall hundertprozentig nachkommen werde."

 

   „Sie hätten Diplomat werden sollen", entfuhr es Gilian zynisch.

 

   „Sie vergreifen sich im Ton“, rügte McAllister in einem Ton, der bei John wieder die Wut schürte. „Aber ich sehe es Ihnen nach. Es liegt vermutlich am Umgang, den Sie in den letzten Tagen zwangsläufig pflegen mussten."

 

   „Entschuldigung, aber Sie müssen verstehen, dass wir jetzt schon seit mehreren Tagen unter einer ungeheuren Anspannung stehen.“

 

   „Sie haben mein Wort. Was ich allerdings nicht verstehe … haben Sie nicht nach den beiden gesucht?"

 

   „Doch, natürlich!“ Gilian strich sich mit einer müden Handbewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wir waren zwei Tage vergeblich unterwegs und haben noch nicht mal ihren Wagen gefunden.“ Gilian stockte und schluckte mehrmals hart, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte und weitersprechen konnte. „John kennt sich da draußen ja wirklich sehr gut aus, aber die beiden sind wie vom Erdboden verschluckt.“

 

63. Kapitel

 

 

 

   McAllister dachte kurz nach und blickte dann eindringlich von einem zum anderen. „Gut, wo nun alles auf den Tisch gekommen ist… Ich würde jetzt sehr gerne meine Soldaten mit zur Basis nehmen. Ich gehe davon aus, dass keiner der Anwesenden Einwände dagegen vorzubringen hat.“

 

   Er beobachtete, wie der Bürgermeister der Botschafterin einen raschen Blick zuwarf und erst antwortete als diese andeutungsweise zustimmend nickte: „Nein, das geht in Ordnung. Sie können Sie bei mir zu Hause abholen lassen.“ Der Mann wirkte insgeheim erleichtert, so als sei er insgeheim froh, die Verantwortung für die Soldaten wieder abgeben zu können. „Aber ich weise Sie darauf hin, dass ich in meiner Funktion als Polizeichef bei den Verhören anwesend sein muss. Schließlich geht es nicht nur um amerikanische Belange. Wenn die Vorwürfe zutreffen, dann haben die beiden auch diverse Verstöße gegen unsere Gesetze…“

 

   „Schon gut, schon gut“, fiel der General dem Bürgermeister ungeduldig in die Tirade. „Ich werde Sie selbstverständlich informieren wenn wir diesbezüglich informieren.“ Er reichte der Botschafterin die Hand zum Abschied. „Es tut mir sehr leid, dass Sie sich in einer solchen Lage befinden und wünsche Ihnen ehrlich, dass sich bald alles aufklärt und gut ausgeht. Ich vermute, unter diesen Umständen wird die Anhörung ohne Sie stattfinden?“

 

   „Oh, nein.“ Gilian ergriff die ihr dargebotene Hand: „Da vermuten Sie falsch. Ich werde meinen Verpflichtungen nachkommen.“

 

   McAllister nickte. „Gut, dann sehen wir uns spätestens dort wieder. Bitte bleiben Sie sitzen, ich finde alleine raus.“

 

**********

 

   General McAllister schlenderte zu seinem Wagen, stieg ein und atmete erst einmal tief durch. Er war betroffener als er es im Botschaftsgebäude zugegeben hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben zog er zumindest in Betracht, womöglich einen Fehler gemacht zu haben.

 

   Einiges stellte sich jetzt, wo er im Bilde war, plötzlich ganz anders dar, als es zuerst den Anschein gehabt hatte und er musste sich fragen, ob er nicht doch übereilt gehandelt hatte. Womöglich hatte er die entsprechenden Stellen in Washington etwas zu vorschnell davon in Kenntnis gesetzt, dass die neue Botschafterin sehr persönliche Wege einschlug. Wenn er jetzt Pech hatte, konnte sich das Ganze später glatt als Bumerang für ihn herausstellen.

 

   Dabei hatte es für ihn zunächst richtig gut angefühlt nicht nur dieser so verdammt selbstgefälligen Frau, sondern gleichzeitig auch seinem alten Kontrahenten und Rivalen John Gilbert eins auszuwischen zu können. Nur gut, dass seine Gesprächspartner eben in der Botschaft noch keine Ahnung davon gehabt hatten, dass ihnen vermutlich wegen seines Handels Schwierigkeiten in Haus standen. Gilian Banks konnte seine Handlungsweise im Ernstfall den Job kosten und John würde aufgrund dessen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Cent aus dem Subventionstopf bekommen, was ihn letztlich die Existenz kosten würde.

 

   John Gilbert war ihm eigentlich egal, aber wenn herauskam, dass er eine Botschafterin der vereinigten Staaten unter einen falschen Generalverdacht gestellt hatte… Das war nicht gut. Nein, das war ganz und gar nicht gut. Besser, er machte sich jetzt schon mal Gedanken darüber, wie er aus der Nummer mit heiler Haut herauskam.

 

   Mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen startete McAllister und legte einen regelrechten Kavaliersstart hin, bevor der Wagen in einer Staubwolke um die nächste Kurve verschwand.

 

**********

 

   „Du siehst schlecht aus", sagte Suzanne am Spätnachmittag zu Marc während sie nebeneinander mit gesenkten Köpfen durch die sengende Hitze inzwischen mehr stolperten als gingen. Die Luft flimmerte und bei jedem Schritt spürte sie durch die kaputten Sohlen ihrer Schuhe hindurch den glühend heißen Boden. Sie hob den Kopf und blickte sich müde um. Weit und breit nur ödes Land. Selbst die Tiere schienen sich gegen sie verschworen zu haben. In den letzten Stunden hatte sich nicht ein einziges blicken lassen.

 

   „Lass uns rasten", bat sie als Marc ihr keine Antwort gab. „Ich finde, wir sollten abwarten bis es dunkel und etwas kühler ist. Du brauchst eine Pause. Wir brauchen beide eine Pause."

 

   Marc zeigte immer noch keine Reaktion. Er schien ihre Anwesenheit kaum noch zu registrieren. So sicher wie sie sich all die Tage bei ihm gefühlt hatte, langsam begann sie sich zu fürchten. Vorsichtig fasste sie ihn am Arm und sagte leise. „Marc, bitte!"

 

   „Nein.“ Aus trüben Augen warf er ihr einen Seitenblick zu. „Wir können nicht rasten", sagte er mit seltsam belegter Stimme. „Wir lägen hier wie auf dem Präsentierteller. Außerdem will ich es endlich hinter mich bringen. Es kann nicht mehr weit sein – nur noch ein paar Stunden – wenn meine Berechnungen stimmen erreichen wir sowieso bald den Busch. Dort könnten wir nochmal rasten, wenn du unbedingt eine Pause brauchst."

 

   „Nicht ich. Verdammt nochmal, du müsstest dich sehen. Du brauchst eine Pause", rief sie verzweifelt aus. „Gib es doch wenigstens zu." Sie hielt ihm ihre Feldflasche hin, die den letzten Rest ihrer Wasservorräte beherbergte. „Komm, trink einen Schluck. Bitte."

 

   Marc griiff nach der Flasche, setzte sie an die aufgesprungenen Lippen und trank – wenigstens tat er so als würde er trinken, doch Suzanne konnte er damit nicht täuschen. Sie ahnte, dass er nur weiteren ermüdenden Diskussionen aus dem Weg gehen wollte. Resignierend nahm sie die Flasche wieder entgegen.

 

   „Teil dir den Rest gut ein“, sagte er rau. „Hier ist weit und breit kein Wasserloch mehr."

 

   „Könnten wir nicht wenigstens unser Gepäck hierlassen“, wagte sie einen weiteren Vorstoß. „Ich meine, wir kämen schneller voran und wenn es wirklich nicht mehr weit ist, wie du sagst..."

 

   „Lieber nicht", entgegenete er kurz und setzte sich wieder in Bewegung. „Ich könnte mich schließlich auch irren.“

 

   „Das glaub´ ich nicht. Bis jetzt hattest du noch immer recht.“ Als Marc wiederum nicht reagierte trank Suzanne seufzend ebenfalls noch einen kleinen Schluck Wasser, bevor sie die Flasche wieder gründlich verschloss und ihm folgte.

 

**********

 

   Tom trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er wollte gerne hinter sich bringen, was er seinem Vater, John Gilbert und der Botschafterin so vollmundig versprochen hatte. Doch inzwischen war er extrem unsicher und nervös, wie Kimberly reagieren würde. Würde sie tatsächlich ihre Freunde stehenlassen, nur um mit ihm zu reden? Vor allen anderen? War sie wirklich schon so weit, oder hatte er sich das nur einreden wollen? Seine Mutter zog ihn schließlich immer wieder damit auf, dass er sich die Dinge gerne schön redete. Wie auch immer, den Schulbeginn und die erste Pause hatte er schon verpasst. Und die zweite Pause war inzwischen auch so gut wie vorbei. Da! Schon klingelte es. Wenn er sie jetzt nicht beim Betreten des Schulgebäudes ansprach würde er sich das nie verzeihen. Schließlich ging es hier nicht um ihn, rief er sich noch einmal in Erinnerung als Kimberly sich, umringt von ihrer Clique, dem Eingang näherte.

 

   Tom hatte ich absichtlich etwas seitlich vom Eingang postiert und versuchte, Kim mit möglichst unauffälligen Handzeichen auf sich aufmerksam zu machen, was glücklicherweise gelang, denn sie bemerkte ihn und zu seiner großen Erleichterung nickte und lächelte sie.

 

   „Hey.“

 

   „Hey.“ Bevor ihn der Mut womöglich doch noch verließ, setzte er eilig hinzu: „Könnten wir kurz reden?“

 

   „Ja, klar.“ Kimberly wirkte zwar ein wenig überrascht, doch sie nickte zustimmend, sagte etwas zu den anderen, das er nicht verstand, und baute sich dann wie selbstverständlich vor ihm auf. „Was liegt an?“

 

   Mit Genugtuung beobachtete Tom, wie Kimberlys Freunden, allen voran Ben, die Gesichtszüge entgleisten.

 

   „Oha, ich schätze, das wird gründlich für Gesprächsstoff sorgen", eröffnete er mit einem vorsichtigen Lächeln die Unterhaltung.

 

   „Na und? Das ist mir mittlerweile egal", antwortete sie und erwiderte das Lächeln. „Was ist los? Gibt´s was Neues? Ich gestehe, ich bin neugierig. Du scharwenzelst schon die ganze Zeit so rum."

 

   „Ich tu … wie bitte, was tu ich?“

 

   „Ach, vergiss es. Sagen wir einfach, du hast überdeutliche Signale ausgesendet, dass du etwas mit dir rumträgst.“

 

   „Echt jetzt? Hab´ ich?“

 

   „Hast du.“ Kimberly nickte und lachte kurz auf. „Können wir jetzt vielleicht auf den Punkt kommen? Wie gesagt, ich bin neugierig.“

 

   „Warum hast du denn nichts gesagt?“

 

   „Tom!“ Kimberly stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf.

 

   „Schon gut, schon gut“, beschwichtigte er schnell. „Dass sie deinen Bruder und seinen Freund geschnappt haben weißt du ja inzwischen bestimmt."

 

   Kimberly grinste gequält: „Allerdings, du kannst dir nicht vorstellen, wie bei uns zu Hause der Stimmungspegel ist. Echt bombastisch, ich schwöre. Erst der Ärger wegen mir und jetzt Scott. Ich glaube meine Eltern zweifeln langsam an ihren erzieherischen Fähigkeiten. Ich gestehe aber, ich bin auch ein klitzekleines bisschen froh darüber, dass mein Bruder im Moment die volle Aufmerksamkeit meiner Eltern genießt. Trotzdem, es ist kaum auszuhalten. Mal lamentieren sie und mal brüllen sie sich an und geben sich gegenseitig die Schuld wegen ihrer missratenen Kinder."

 

   Tom fasste sich ein Herz: „Wenn du es daheim nicht mehr aushältst komm doch nach der Schule mit zu mir", bot er an. „Du könntest bei uns essen.“

 

   „Sehr gerne." Kimberly antwortete spontan und schien sich aufrichtig zu freuen. „Nach Hause zieht mich zurzeit wirklich nichts."

 

   „Gut, abgemacht. Dann lass uns an dieser Stelle hier abbrechen. Wir können ja dann später in Ruhe reden. Wir sollten uns absprechen, was wir morgen bei der Anhörung sagen.“

 

   „Gut, einverstanden."

 

   Langsam schlenderten sie nebeneinander durch die Eingangstür. „Bist du dir deiner Sache wirklich sicher?", hakte Tom noch einmal nach.

 

   „Was meinst du? Dass ich mit zu dir möchte? Ja.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Weißt du, es ist langsam an der Zeit, dass ich wieder anfange meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Meine Eltern kann ich getrost außen vor lassen. Die haben zurzeit andere Sorgen. Verstehst du, ihre heile Welt bricht gerade zusammen. Und was die Clique angeht … ich bin nicht naiv, auch wenn du das vielleicht glaubst. Mir ist durchaus bewusst, dass das alles mehr oberflächliche Freundschaften sind. Aber so ist das nun mal, wenn man Kind eines Militärangehörigen ist."

 

   „Erstens: Ich halte dich durchaus nicht für naiv. Und zweitens: Ich wollte auf etwas anderes hinaus: Ich meinte, ob du wirklich offiziell daran beteiligt sein willst, Ben den Hals zu brechen. Wahrscheinlich schadest du dadurch deinem Bruder noch zusätzlich. Immerhin musst du, wenn das alles vorbei ist, weiter auf der Basis leben. Dürfte nicht so einfach sein, wenn die Blase erst einmal geplatzt ist."

 

   „Mein Bruder hat sich selber in diese Lage gebracht. Und was Ben angeht. Er ist ein Arschloch. Ich bin sicher, wenn die anderen das erst einmal registrieren werden sie auch wieder zu eigenständigen Menschen. Und wenn nicht..." Kimberly zuckte mit den Schultern: "...dann werde ich halt in Zukunft ein Stück weiter fahren müssen, wenn ich meine Freunde sehen möchte. Oder?"

 

   „Genau.“ Tom grinste breit. „Du hast Recht. Ich bin froh, dass du das so siehst."

 

   Sie hatten das Klassenzimmer erreicht und betraten den Raum, immer noch in ihre Unterhaltung vertieft. Gleich hinter der Tür passte Benjamin Kimberly ab, indem er sie hart am Arm packte und zurückhielt.

 

   „Hey, Kim, was hast du mit dem zu schaffen?"

 

   „Was soll das?" Tom baute sich drohend vor Ben auf. „Lass sie los!", forderte er. „Sofort!“

 

   Kimberly schüttelte Bens Arm ab. „Schon gut", sagte sie beruhigend an Tom gewandt. Und zu Ben sagte sie kühl: „Ich wüsste wirklich nicht was dich das angeht."

 

   Alle in der Klasse blickten Kimberly überrascht hinterher, als sie hocherhobenen Hauptes auf ihren Platz zusteuerte. Was Tom am allermeisten freute war, dass ihr der Auftritt nicht einmal peinlich zu sein schien. Im Gegenteil, das Mädchen strahlte etwas aus, das ihm vermittelte, dass sie sich sehr wohl in ihrer Haut fühlte und das freute ihn außerordentlich.

 

**********

 

   Nach dem Unterricht verließ Kimberly wie selbstverständlich an Toms Seite das Schulgebäude und ignorierte die neugierigen Blicke ihrer Mitschüler. Kurz überlegte sie sogar, Toms Hand zu nehmen, doch so weit zu gehen traute sie sich dann doch nicht – allerdings aus anderen Gründen.

 

   „Willst du nicht lieber doch noch jemandem Bescheid sagen?", fragte Tom während er sein Fahrrad aufschloss.

 

   „Nein, aber vielleicht könnte ich von euch aus ja bei meinen Eltern anrufen? Ginge das?"

 

   „Natürlich kannst du das."  Tom deutete auf seinen Gepäckständer: „Ist nicht sehr komfortabel, aber bitte. Der Platz ist für dich, wenn du möchtest. Ansonsten schiebe ich selbstverständlich."

 

   Gelöst ließ sich Kimberly auf Toms Gepäckständer nieder. „Alles klar. Zum Bürgermeisteramt, bitte", sagte sie scherzhaft.

 

   „Gewiss M'am, sofort M'am", antwortete Tom, schwang sich auf den Satten, grinste ihr über die Schulter einmal kurz zu, bevor er kräftig in die Pedale trat.

 

64. Kapitel

 

 

 

   Am frühen Abend trafen der General und der Bürgermeister wieder in der Botschaft ein. John war zwischenzeitlich zurück zur Station gefahren und Gilian hatte einige unangenehme Telefonate bezüglich des Geldes geführt. Doch jetzt waren endlich alle Einzelheiten im Zusammenhang mit dem Transfer geklärt. Es konnte sich nur noch um ein paar Stunden handeln, bis sie über das Geld verfügen konnte. Sie betete unterschwellig immer noch darum, dass die Entführer sich wieder melden würden, denn inzwischen hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass Mitch und Scott einknicken und etwas ausplaudern würden.

 

   Das, was die beiden bislang von sich gegeben hatten, war Wasser auf des Generals Mühle. Die beiden belasteten Marc Gilbert und unterschwellig auch John, dem sie allerdings uneingeschränkt vertraute. Doch ohne Beweise war ihr Vertrauen in ihn völlig wertlos, das war klar.

 

   Als der General nun gemeinsam mit dem Bürgermeister ihr Arbeitszimmer betrat, schöpfte sie kurzfristig noch einmal Hoffnung: „Und? Haben die beiden noch etwas gesagt?" Ein Blick in die Gesichter der beiden Männer ließ ihre Hoffnungen allerdings schnell wie Seifenblasen zerplatzen.

 

   „Oh ja", nickte der General mit grimmigem Gesichtsausdruck. „Und ich hoffe wirklich sehr, dass Marc Gilbert schnell gefunden wird. Leider weigert sich der Bügermeister bislang noch, ihn zur Fahndung auszuschreiben. Er steckt auf jeden Fall auch hinter der Wilderergeschichte und hat meine Leute dazu benutzt die Sachen außer Landes zu bringen. Es tut mir ja irgendwie sogar Leid für John, aber sein Sohn tut wirklich alles um seinen alten Herrn zu ruinieren. Marc hat meinen Leuten Geld gezahlt und sie gleichzeitig mit in diese Drogensache reingezogen. Gewiss, die beiden sind nicht unschuldig, aber die Drahtzieher dieser Scharade sind sie ganz gewiss nicht. Den müssen wir jetzt nur noch finden. Wer weiß, wo er sich mit ihrer armen Tochter verschanzt. Ich kann nur hoffen, dass er ihr nichts antut. Langsam glaube ich wirklich, dass Marc Gilbert zu allem fähig ist.“

 

   „Sie irren. Marc Gilbert hat kein Geld“, konterte Gilian. „Auf jeden Fall nicht genug, um davon gleich zwei ihrer Leute zu bezahlen.“

 

   „Anscheinend doch. Wo auch immer er es bunkert.“ McAllister wirkte unerschütterlich und selbstbewusst.

 

   „Mich würde interessieren, ob Sie Beweise für Ihre Behauptungen haben?" So leicht gab Gilian sich nicht geschlagen.

 

   „Die beiden nannten uns eine Adresse", kam der Bürgermeister dem General zuvor. „Es handelt sich dabei um eine einigermaßen berüchtigte Kneipe am Stadtrand. Wir waren eben gemeinsam vor Ort und Marc ist dort tatsächlich bestens bekannt. Er war in der Vergangenheit sehr häufig dort zu Gast und einer der Barmänner sagte aus, dass er beobachtet hat, wie Marc Mitch und Scott erst kürzlich Geld gegeben hat. Irrtum ausgeschlossen. Das mag vielleicht ein Zufall sein, aber alles in Allem sieht es gar nicht gut aus“, schloss er bedauernd. „Leider.“

 

   Gilians Mut sank in den Keller, just in dem Moment als sich das Funkgerät meldete. „John?“ Sie hoffte, dass man ihrer Stimme nicht anhörte, wie deprimiert sie sich fühlte.

 

   „Ja, ich bin´s. Hör zu, ich war eben nochmal draußen und…“

 

   „Was? Ohne mich?"

 

   „Gilian, bitte halt die Luft an.“ Johns Stimme klang ein wenig ungeduldig durch das Mikro. „Es gibt Neuigkeiten: Ich hab' unseren Jeep gefunden."

 

   „Was?" Gilian hob den Kopf und registrierte am Rande, dass sowohl der Bürgermeister, wie auch McAllister unbewusst näher an ihren Schreibtisch getreten waren und angespannt lauschten. „Wo?“

 

   „Ja, am Rande eines Wasserloches. Er war so tief im Morast eingesunken, dass ich um ein Haar übersehen hätte."

 

   „Und?"

 

   „Nichts und“, kam die niederschmetternde Antwort. „Irgendetwas muss passiert sein, dass Marc den Wagen in den Bach gesetzt hat. Es sieht so aus, als hätten die Kinder danach vergeblich versucht, ihn wieder rauszuholen. Auf jeden Fall war der Wagen leer. Sie haben alles ausgeräumt und mitgenommen. Rucksäcke - Proviant - Verbandskasten - alles."

 

   „Was?“ Gilian riss entsetzt die Augen auf. „Glaubst du, dass einer von Beiden verletzt ist? Oder beide?"

 

   „Keine Ahnung. Ehrlich Gilian, ich kann´s nicht sagen. Charlie und meine Leute bergen gerade den Wagen. Vielleicht kann man dann ja mehr erkennen. – Gibt’s bei dir irgendwas Neues?“

 

   „Nein", log sie glatt. „Noch nicht." Wozu sollte sie ihn noch mehr belasten. „John, sei bitte ehrlich. Was glaubst du: Wie passt das alles zu dem, was wir bislang wussten? Ich meine, das mit dem Jeep und das er leer war und so weiter."

 

   „Kann ich dir nicht sagen. Gilian, ich wünschte, ich könnte es.“ Johns Stimme war das ehrliche Bedauern anzuhören. „Ich melde mich wieder. Halt die Ohren steif."

 

   Die Verbindung brach ab und Gilian warf ihren beiden Besuchern einen Blick zu. „Nun ja, Sie haben es ja mitbekommen. Was halten Sie davon?"

 

   „Wenn Sie mich fragen, es bestärkt mich in meiner Vermutung, dass Marc Gilbert allein mit ihrer Tochter auf der Flucht ist", sprach der General Gilians Befürchtungen aus.

 

   „Dafür kann es auch andere Gründe geben“, widersprach sie trotzdem mit fester Stimme. „Ich weiß, Sie vermuten, dass Marc Suzanne als Geisel genommen hat, aber ich sage Ihnen: Wenn das so ist wird sie ihn niemals freiwillig begleiten und von irgendwelchen Kampfspuren hat John kein Wort gesagt.“

 

   „Würde er das? Mrs. Banks..." Der General verlegte sich auf die väterliche Tour. „Bitte, Sie besitzen doch gesunden Menschenverstand, ich verlange nicht mehr von Ihnen, als dass Sie ihn auch benutzen."

 

   „Das werde ich, General, verlassen Sie sich darauf“, sagte Gilian kühl. „Was haben Sie denn nun mit Ihren Soldaten vor? Ich meine, immerhin haben die beiden zugegeben an kriminellen Machenschaften beteiligt gewesen zu sein."

 

   „Dafür stehen sie auch weiterhin unter Arrest. Aber ich werde auf gar keinen Fall zulassen, dass meine Männer für etwas belangt werden, was sie nicht getan haben. Ich habe außerdem schon eine Mannschaft zusammengestellt die im Augenblick den Busch nach Gilbert Junior und Ihrer Tochter durchkämmt."

 

   Gilian fuhr auf wie von einer Tarantel gestochen. „Sind Sie wahnsinnig, General?! Hatten wir Ihnen nicht ausdrücklich gesagt, dass die Informationen vertraulich zu behandeln sind?"

 

   „Beruhigen Sie sich.“ Der General richtete sich steif auf und sprach mit unbewegter Miene weiter: „Meine Leute wissen nichts von einer möglichen Entführung. Sie suchen lediglich nach zwei verschwundenen Jugendlichen."

 

   „Ach ja? Und wenn genau das die Entführer aufschreckt?! Schon mal darüber nachgedacht was dann passieren könnte?! Wenn Sie es schon von anderen verlangen … warum benutzen Sie dann nicht selber Ihren Grips?!" Gilian war ganz gegen ihre Gewohnheit laut geworden. „Bürgermeister, verdammt! Wieso haben Sie das nicht verhindert?“

 

   „Davon wusste ich nichts", gestand der kleinlaut. „Der General bestand darauf, alleine in seinem Büro zu telefonieren.“

 

   „Sie... Sie..." Gilian baute sich jetzt drohend vor McAllister, der einen guten Kopf größer als sie war, auf. „Sie mögen sich ja für gerissen halten, aber soll ich Ihnen mal was sagen: Sie sind ein unverbesserlicher Idiot! Wenn den Kindern aufgrund Ihres unüberlegten Handels etwas zustößt, dann schwöre ich, dass ich Sie dafür zur Rechenschaft ziehe."

 

   Der General zuckte merklich zusammen. So hatte offensichtlich schon lange niemand mehr mit ihm gesprochen. Und ebenso offensichtlich wollte er sich das nicht bieten lassen.

 

   „Und ich…", hob er pikiert an. „...habe den Eindruck, dass Sie vor lauter Verliebtheit Ihre eigentlichen Pflichten schwer vernachlässigen. Jeder kann sehen, dass Sie John Gilbert schöne Augen machen. Sie sollten auf der Seite meiner Leute sein, stattdessen himmeln Sie Gilbert derart an, dass es schon fast peinlich ist. Mehr noch, Sie verbringen mit ihm Gott weiß wo Ihre Nächte."

 

   Ein lauter Knall ertönte, als Gilian in einer fließenden Bewegung und ohne weiter darüber nachzudenken impulsiv weit ausholte und dem General eine schallende Ohrfeige verpasste. Danach herrschte Totenstille in dem Raum.

 

   „Wenn ich überhaupt auf irgendjemandes Seite stehe, dann auf der Seite meines Kindes", sagte Gilian schließlich kreidebleich und etwas atemlos. „Das, und nur das hat für mich im Moment absolute Priorität. Verstehen Sie: Ihre Leute interessieren mich nur insoweit, wie sie mit dem Verschwinden meiner Tochter zu tun haben. Ansonsten sind mir sowohl Ihre Soldaten, wie auch Ihre Basis scheißegal! Und jetzt raus hier. Verlassen Sie mein Haus!"

 

   „Mit Vergnügen." Mit steifen Schritten versuchte der General möglichst würdevoll die Tür zu erreichen. Im Rahmen stehend drehte er sich nochmals um: „Das wird Ihnen noch leid tun, das schwöre ich Ihnen."

 

   „Ich gebe Ihnen den guten Rat, ihren Idiotentrupp zurück zu pfeifen, sonst lernen Sie mich noch ganz anders kennen! Noch leite ich diese Botschaft hier!", fauchte Gilian unbeeindruckt.

 

   „Ja, genau! Sie sagen es: Noch!", schleuderte der General ihr entgegen bevor er endgültig den Raum verließ.

 

   Unverhohlen bewundernd schaute der Bürgermeister Gilian an: „Ob das klug war?", äußerte er trotzdem mit einem zweifelnden Kopfschütteln.

 

   Gilian atmete tief durch. Es war ihr durchaus bewusst, dass sie eben geradezu unverzeihlich aus der Rolle gefallen war. „Vermutlich nicht, aber es ist mir tatsächlich egal. Seitdem ich dieses Haus hier betreten und meinen Job angetreten habe, versucht dieser Mensch mich zu manipulieren. In seinen Augen bin ich doch nicht mehr als eine Marionette mit der er nach seinem Belieben spielen kann. Aber er hat mir auch etwas beigebracht: Als ich herkam habe ich ehrlich fest daran geglaubt, hier etwas bewirken zu können… Der General hat mich eines Besseren belehrt. Leider", schloss sie bedauernd.

 

   „Sie sollten nicht aufgeben", erwiderte der Bürgermeister aufmunternd. „Geben Sie sich einfach etwas mehr Zeit.“

 

   „Das sagt sich so leicht."

 

   „Ich weiß…“ Der Farbige zuckte mit den Schultern. „Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann..." Er ließ das Ende des Satzes offen, doch Gilian verstand ihn auch so.

 

   „Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber zurzeit ist das alles doch wirklich zweitrangig.“ Sie öffnete eine Schublade und griff nach ihrem Autoschlüssel. „Ich werde wieder raus zur Station fahren. Es ist mir egal, was der General darüber denkt. Soll er sich doch meinetwegen das Maul zerreißen. Was ist? Wollen Sie mitkommen?“

 

   Der Bürgermeister nickte. „Auf jeden Fall.“

 

   „Gut, geben Sie mir ein paar Minuten. Ich ziehe mich nur schnell um und sage Gregory Bescheid."

 

**********

 

   Marc hatte natürlich Recht behalten. Suzanne hatte sowieso keinen Augenblick daran gezweifelt. Es fing an mit einzeln auftauchenden vertrockneten Büschen, die sich schnell häuften, bis sie endlich den dichten Busch und somit auch den von ihr so sehnsüchtig herbeigesehnten Schatten erreichten. Dort war es zwar nicht wirklich kühler, aber sie atmete trotzdem erleichtert auf. Nachdem sie noch ein Stück weit hinein marschiert waren und die endlose Steppe endgültig hinter sich gelassen hatten, blieb sie abrupt stehen und bestimmte mit fester Stimme:

 

   „Stop. Jetzt wird gerastet.“

 

   Marcs Kopf blieb unten als er beinahe unverständlich für Suzanne antwortete. „Wozu? Wir haben es bald geschafft." Er stolperte über eine Wurzel und taumelte weiter ohne auf ihre Reaktion zu achten.

 

   Suzanne schnappte erbost nach Luft, überholte Marc und versperrte ihrem Begleiter dann rigoros den Weg.

 

   „Wozu? Das fragst du nicht im Ernst, oder?“ Als sie keine Antwort bekam, schnaubte sie einmal kurz. „Na gut. Wie du willst. Wir legen eine Pause ein, weil ich nicht will, dass du komplett aus den Latschen kippst! Weil ich dich nämlich hier brauche! Deshalb! Und jetzt setz' dich verdammt nochmal endlich hin und ruh´ dich aus!"

 

   Sie packte Marc bei den Schultern und wollte ihn mit sanfter Gewalt nach unten drücken, doch der war schon so geschwächt, dass er abermals strauchelte und unkontrolliert zu Boden fiel.

 

   „AAAHHH!!"

 

   Sein erstickter Schrei ließ ihr fast das Blut in den Adern gefrieren. Hektisch fiel sie neben ihm auf die Knie.

 

   „Oh Gott! Deine Schulter. Es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Wirklich nicht! Ich habe für einen Moment lang nicht mehr daran gedacht. Marc, so sag doch bitte was."

 

   „Es… ist… nicht die Schulter", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus.

 

   „Was?“ Suzanne war entsetzt und fragte sich, was stattdessen passsiert war. Sie hatte Marc doch nur leicht nach unten gedrückt. Sein schmerzverzerrtes Gesicht sagte allerdings etwas völlig anderes aus. „Was denn dann? Rede mit mir“, drängte sie.

 

   Marc stützte sich minimal auf seinen gesunden Arm und deutete mit dem Kinn auf seinen Fuß, der zu Suzannes Entsetzen in einer häßlichen Eisenschere klemmte. Blut tropfte seitlich heraus, und der Schmerz schien Marc förmlich zu lähmen. Er hatte jegliche Farbe verloren, seine Augenlider flatterten und es sah ganz danach aus, als würde er jeden Augenblick die Besinnung verlieren.

 

   Scheiße!

 

65. Kapitel

 

 

 

   Suzanne starrte fassungslos auf die Bescherung und dann wieder in Marcs Gesicht. Gott nein, das darf doch nicht wahr sein, schoss es ihr durch den Kopf, bevor endlich wieder Leben in sie kam. Mit aller Kraft versuchte sie mit den Händen die Scheren auseinander zu biegen, während sie gleichzeitig lautstark auf Marc einredete.

 

   „Marc! Hörst du mich? Na los, gib Antwort! Nicht ohnmächtig werden, hörst du? Ich brauche deine Hilfe! Marc?“

 

   „Ja, verdammt!“, brüllte er so unvermittelt zurück, dass sie erschrocken zusammenfuhr. „Ich bin ja wach! Was zum Teufel tust du da?“

 

   „Ich versuche deinen Fuß freizubekommen, was denn sonst?!“, schrie sie unter höchster Anspannung zurück, während sie frustriert realisierte, dass ihre Anstrengungen wohl vergeblich waren. Es steckte einfach zuviel Spannung dahinter.

 

   „Einen Hebel“, keuchte Marc. „Such nach etwas, das du als Hebel benutzen kannst.“

 

   Na klar, dass sie nicht selber darauf gekommen war. Suzanne sprang auf und machte sich auf die Suche nach einem passenden Werkzeug. Ein Stück von der Unglücksstelle entfernd fand sie endlich, wonach sie suchte: Einen dicken Stock, der noch nicht völlig ausgetrocknet und morsch war. Zudem wurde der Ast an der einen Seite flacher und lief am Ende spitz zu. Sie hastete zurück zu Marc, der leichenblass und flach atmend auf dem Rücken liegend um Fassung rang.

 

   „Ich hab´ was gefunden“, verkündete sie. „Halt durch. Nur noch ein bisschen.“ Suzanne benötigte drei Anläufe bis es ihr endlich gelang das flachere schmale Ende zwischen die Scheren zu klemmen. Der Schweiß lief ihr in Strömen den Rücken hinunter, von der Stirn aus über das Gesicht und brannte ihr in den Augen. Allerdings konnte das Brennen auch von den Tränen der Verzweiflung herrühren, die sie zusätzlich pausenlos weinte. Suzanne rappelte sich mühevoll auf. Sie musste höllisch aufpasssen, dass das Ende des Stocks nicht wieder aus der Falle heraus rutschte. Blein drin, bitte bleib drin, flehte sie stumm, während sie sich mit aller Gewalt als Kontergewicht über das dicke Ende des Astes hing.

 

   „Pass auf!“, schrie sie Marc zu, der kaum noch aufnahmefähig schien. „Wenn die Dinger sich aufbiegen musst du schnell reagieren!“

 

   „Ja, ja, mach schon“, presste Marc zwischen den Zähnen hervor.

 

   „Ich mach ja!“ Suzanne ächzte und stöhnte vor lauter Anstrengung … so lange bis plötzlich mit einem lauten Krachen die Spitze brach. „Scheiße!“, fluchte Suzanne laut und stolperte durch den überraschenden Ruck auch noch auf Marcs Körper. „Was…?“

 

   „Such nach etwas anderem. Beeil dich. Bitte!!!“, wisperte Marc kaum hörbar mit geschlossenen Augen.

 

   „Bin schon dabei.“ Sie rappelte sich zurück auf die Füße. „Mach´ mir bloß nicht schlapp“, rief sie, während sie sich schon wieder entfernte. Dieses Mal in entgegengesetzter Richtung als zuvor.

 

   „Kunststück“, presste er hervor. „Du hast gut reden.“

 

   Suzanne kehrte mit einem neuen Stock zurück und dieses Mal ließ sie sich schweren Herzens deutlich mehr Zeit und ging vorsichtiger zu Werke. Sie spürte, dass Marc am Ende war. Die Aktion durfte einfach nicht noch einmal scheitern. Da! Es schien, als würden ihre verzweifelten Bemühungen endlich von Erfolg gekrönt. Ja! Die Scheren bewegten sich! Nur noch ein kleines Stückchen, dann hätte sie diese Scheißdinger weit genug auseinandergebogen, dass Marc seinen Fuß rausziehen konnte. Allerdings knirschte das Holz schon wieder äußerst bedenklich.

 

   „Marc! Mach schon, zieh´ deinen Fuß raus! Schnell! Ich kann nicht mehr gegenhalten!“

 

   Der hatte schon kapiert und reagierte Gott sei Dank bereits. Ohne Rücksicht auf seine kaputte Schulter zu nehmen robbte er so schnell wie möglich auf seine Ellbogen gestützt ein Stück weit nach hinten.

 

   „Gutes Mädchen", murmelte er dabei vor sich hin. „Sehr gut.“

 

   „Wow!“ Suzanne ließ los und die Scheren der Falle rauschten klirrend und scheppernd wieder zusammen. „Ich kann kaum noch was sehen. Außer ein paar hellen Kreisen ist da gerade gar nichts.“

 

   „Frag mich mal“, stöhnte Marc, ließ sich auf den Rücken fallen, schloss die Augen und blieb regungslos liegen.

 

   Für einen Moment lang dachte Suzanne, das er nun doch noch das Bewusstsein verloren hätte, doch dann hörte sie ihn zu ihrer Erleichterung erneut leise stöhnen. Sofort war sie wieder an seiner Seite.

 

   „Gott sei Dank", stieß sie hervor. „Du bist wach. Sag mir was ich jetzt tun soll.“

 

   „Okay…“ Mühevoll öffnete Marc seine Augen. „Kannst du …? Versuch´ rauszufinden ob es nur eine Fleischwunde ist, oder ob die Knochen eventuell auch was abbekommen haben."

 

   „In Ordnung.“ Suzanne atmete einmal tief durch und widmete sich dann dem verletzten Fuß. So behutsam wie möglich streifte sie Marcs Schuh ab, während sie ihm zwischendurch immer wieder kontrollierende Blicke zuwarf. Sie registrierte, wie er angestrengt die Zähne zusammenpresste, während ihm die Tränen in die Augen schossen. Beinahe nebenbei bemerkte sie, dass er zum ersten Mal gar nicht erst den Versuch startete, seine Qualen vor ihr zu verbergen.

 

   Prompt fühlte sie sich total mies, aber es nützte ja nichts. Der Schuh musste runter, wenn sie das Ausmaß der Verletzung einschätzen sollte. „Es tut mir leid“, flüsterte sie daher lediglich und blickte ihn verzeihend an. „Ehrlich, so leid.“

 

   „Schon gut“, presste er kaum verständlich hervor. „Sag mir lieber, wie es aussieht?“

 

   „Sieht so aus, als wäre es wirklich nur eine Fleischwunde", teilte sie ihm zögernd mit, nachdem sie den lädierten Fuß näher untersucht hatte. „Allerdings eine ziemlich große“, fügte sie leise hinzu.

 

   „Gut“, konstatierte Marc offensichtlich erleichtert und schloss wieder die Augen. „Hauptsache, die Knochen sind heil geblieben. Irgendwann müssen wir ja auch mal wieder Glück haben.“

 

   „Ja, genau“, antwortete Suzanne sehr leise und war froh, dass er die Augen geschlossen ließ. Im Grunde genommen war sie sich nämlich gar nicht so sicher, dass es sich wirklich „nur“ um eine Fleischwunde handelte. Der Fuß war Matsch. Unvorstellbar, dass da nicht noch mehr kaputt gegangen war, als es äußerlich den Anschein hatte. Aber das konnte, nein, das wollte sie ihm unmöglich so sagen.

 

   Sie gab sich einen Ruck. „Wie auch immer, der Fuß muss auf jeden Fall verbunden werden", verkündete sie mit einer plötzlichen Entschlossenheit, die aber eher aus der Verzweiflung heraus geboren war. Sie griff nach dem Rucksack und wühlte auf der Suche nach dem Verbandszeug wüst darin herum. „Wir sollten unbedingt vermeiden, dass da jetzt noch Dreck in die Wunde kommt.“

 

   „Sicher“, stöhnte Marc. „Von mir aus kannst du ihn auch gerne amputieren.“

 

   „Red kein Blech“, antwortete sie grob, und fühlte sich dabei beschissener als je zuvor in ihrem Leben. „Schon mal was von Phantomschmerzen gehört?“, fügte sie trotzdem bissig hinzu und entlockte mit dieser Bemerkung Marc wenigstens den Anflug eines zynischen Lächelns. „Lass mich mal machen.“

 

   Alles was sie noch an Verbandszeug zur Verfügung hatten war eine Mullbinde und zwei einzeln verpackte sterile Kompressen. Den Rest hatte Marc für die Behandlung an ihrem Schulterblatt verbraucht. Immerhin, die Tube mit der Salbe war noch halb voll. Suzanne, riss die Kompressen auf, trug eine großzügige Menge desinfizierende Wundsalbe darauf und drückte sie dann mit einem kurzen: „T'schuldigung", auf die am schlimmsten betroffenen Stellen.

 

   „Ah, Mann!", schrie Marc auf. „Bist du irre?“

 

   „Sei bitte still", forderte sie ihn hart auf. „Mir macht das auch keinen Spass."

 

   Suzanne wusste, wenn sie jetzt nicht hart blieb, würde ihr schlecht werden. Sie fixierte die Kompressen mit der Binde und griff danach zu Marcs Buschmesser und der Decke, die sie konzentriert in einige größere Stücke und mehrere schmale Streifen zerschnitt.

 

   „Was hast du vor?“, erkundigte sich Marc, der ihr Tun misstrauisch beäugte. „Bitte nicht wieder basteln", bat er schließlich. „Die Arbeit kannst du dir sparen, denn dieses Mal wird das nicht funktionieren.“

 

   „Und ob. Ich werde deinen Fuss in einen dicken Sack einpacken, das Ganze etwas auspolstern und unterhalb des Knies zusammenbinden. Vielleicht kannst du wenigstens ein bisschen auftreten, wenn der Fuß so geschützt ist. Dann brauchen wir noch einen stabilen Stock als Gehhilfe und ich bin ja auch noch da."

 

   Suzanne machte sich an die Arbeit, wobei es ihr sehr wohl bewusst war, dass Marc ihr dabei mit zwiespältigen Gefühlen zuschaute.

 

   „Das eben, das… Ich hab´s nicht so gemeint", nuschelte er nach einer Weile leise.

 

   „Weiß ich doch", antwortete sie ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

 

   „Suzanne?"

 

   „Ja?"

 

   „Egal was du vorhast… Es wird nicht funktionieren. Du musst mich hierlassen", eröffnete er ihr plötzlich ganz ruhig.

 

   „Träum weiter!" Unverdrossen machte sie weiter.

 

   „Suzanne, hör mir zu, du musst. – Du musst alleine weiter!"

 

   „Kommt berhaupt nicht in Frage!"

 

   „Mach dir doch nichts vor", sagte er nun verzweifelt.

 

   „Tue ich ja gar nicht." Sie blickte ihm fest in die Augen. „Entweder wir gehen wir beide hier weg, oder keiner! Ist das klar?!"

 

   „Ich zeige dir wie du dich nach dem Kompass richten kannst. Es ist ganz einfach. Alleine kannst du es schaffen", redete er eindringlich auf sie ein. „Mit mir dagegen…“

 

   „NEIN! STOP!" Sie schrie fast, während ihr schon wieder Tränen der Verzweiflung über die Wangen strömten. „Sprich es nicht aus! Ich werde dich hier nicht alleine zurücklassen!"

 

   „Du musst. Es ist nur vernünftig. Wir sind beide am Ende aber ich bin fix und alle. Ich will, dass du Hilfe für mich holst! Es ist wirklich nicht mehr weit. Mit ein bisschen Glück bist du vor Einbruch der Dunkelheit schon auf der Station."

 

   „Marc, spar dir deine Worte. Ich gehe keinen Meter weit ohne dich!", sagte sie fest entschlossen. „Ich werde jetzt einen passenden Stock für dich suchen. – Bin gleich wieder da."

 

**********

 

   Kopfschüttelnd blickte Marc ihr hinterher. Es widersprach jeglicher Vernunft, das wusste er, aber im Grunde genommen war er heilfroh, dass sie bei ihm bleiben wollte. Wären diese Typen aufgekreuzt oder ein wildes Tier - er wäre der Situation hilflos ausgeliefert und hätte nicht die geringste Chance. Zu zweit hatten sie zwar in diesem Zustand wahrscheinlich auch keine, aber irgendwie fühlte er sich in ihrer Nähe besser. Er hatte sich in den letzten Tagen sehr an sie gewöhnt und irgendwie genoss er sogar die kleinen Scharmützel. Es krachte im Unterholz: Suzanne kam zurück und schleppte einen grossen Stock der sich oben gabelte. Das Ding sah aus, wie eine überdimensionale Wasserroute, aber er wirkte überraschend stabil.

 

   „Schau, was ich gefunden hab´", freute sie sich. „Da kannst du dich richtig reinhängen. Der ist einfach ideal!"

 

   Doch so ideal wie sie es sich vorgestellt hatte war es dann leider doch nicht. Marc spürte, was es sie an Kraft kostete, ihn auf die Beine zu stellen und als sie es endlich geschafft hatte hing er auf seiner provisorischen Krücke und hatte Mühe, überhaupt stehenzubleiben. Auf sie musste es wirken, als würde er jeden Augenblick wieder umkippen. Er beobachtete, wie Suzanne die restlichen Sachen zusammen raffte und sagte:

 

   „Nimm bitte die Falle mit – ich brauche sie für meinen Vater."

 

   „Wozu soll das gut sein?"

 

   „Damit er was gegen diese Typen in der Hand hat. Vielleicht findet sich ja eine Möglichkeit die Herkunft der Falle herauszufinden."

 

   „Okay.“ Mit spitzen Fingern griff Suzanne nach der Falle und versuchte sie noch im Rucksack zu verstauen.

 

   „Es kann nichts mehr passieren", sagte Marc beruhigend.

 

   „Das weiß ich auch", entgegenete sie. „Aber ich finde dieses Ding einfach widerlich. Es ekelt mich an, das Scheißteil nur anzusehen.“

 

   Doch so sehr sie sich auch bemühte, im Rucksack ließ sich das Teil einfach nicht unterbringen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen seufzte Suzanne tief und verschnürte die Falle obenauf. „Fertig.“, verkündete sie dann. „Wir können.“

 

   Marc biss die Zähne zusammen und tat, was er konnte, doch schon nach wenigen Metern war klar, dass der Weg auf diese Art eine Katastrophe für ihn war. Eine Tortour für sie beide. Der Weg führte sie durch den dichten Busch und über unwegsamen Untergrund und er war durch die neue Verletzung sehr viel stärker behindert, als er es selber vermutet hatte. Außerdem hatte er nach wie vor starke Schmerzen und schaffte nur unter Aufbierung seiner allerletzten Kraftreserven auf den Beinen zu bleiben. Sie kamen nur sehr, sehr langsam voran und schon bald fanden sie sich von tiefschwarzer Dunkelheit umgeben.

 

**********

 

   Schweigend – schon allein um Kräfte zu sparen – stolperten sie durch den Busch. Suzanne hielt den Kompass fest in der Hand und doch hatte sie das Gefühl, als kämen sie ihrem Ziel kein Stück näher. Marc hatte ihr zwar erklärt, wie sie ihn zu lesen hatte, doch war es tatsächlich möglich, dass sich die Gegend um sie herum nicht im Geringsten veränderte? Doch sie noch hütete sich davor, ihre Zweifel laut zu äußern. Laut dem Kompass liefen sie immer weiter zielstrebig auf Gilbert's Station zu, auch wenn sie den Glauben daran längst verloren hatte. Aber alles war besser, als untätig rumzusitzen.

 

   Von Minute zu Minute wuchs Suzannes Mutlosigkeit. Hatte Marc nicht gesagt es wäre nicht mehr weit? Waren sie denn tatsächlich so langsam unterwegs. Tief in ihre Gedanken versunken achtete sie nicht auf den Weg, stolperte über eine Wurzel und fiel der Länge nach mit einem erschrockenen Aufschrei bäuchlings in den Staub. Dabei schlug sie sich das Knie auf, und hätte Marc im Fallen um ein Haar fast mit zu Boden gerissen. Mit einer Reaktion, die er sich selber gar nicht mehr zugetraut hatte, verlagerte er blitzschnell sein ganzes Gewicht auf die provisorische Krücke und konnte so im letzten Moment verhindern, dass er mitstürzte.

 

   Dieser, an sich eher harmlose Vorfall, brachte Suzannes Nervenkostüm endgültig zum Zusammenbruch. Die ganze Anspannung der vergangenen Tage löste sich in einem Weinkrampf. Sie rappelte sich zum sitzen hoch und verbarg ihren Kopf auf den Knien, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich das Haar an ihrem Knie blutig schmierte.

 

66. Kapitel

 

 

 

   Marc stand hilflos auf seine Krücke gestützt neben Suzanne und beobachtete wie sich ihre schmalen Schultern, von ruckartigen Schluchzern geschüttelt, hoben und senkten.

 

   „Hey, ist alles in Ordnug mit dir?", fragte er schließlich leise. Er hörte selber wie bescheuert das klang, aber ihm war einfach nichts Besseres eingefallen. So war ihre heftige Reaktion denn auch nicht sonderlich überraschend für ihn.

 

   Tränenberströmt blickte Suzanne mit vor Wut und Verzweiflung blitzenden Augen zu ihm hoch: „Nein!", schrie sie unbeherrscht. „Nichts ist mehr in Ordnung. Verdammte Scheiße! Mein Leben ist ein einziger Trümmerhaufen.“

 

   „Suzanne", bat er, sich immer noch machtlos angesichts ihrer Verzweiflung fühlend. „Ich kann mir ja vorstellen, wie du dich fühlst, aber auch wenn gerade alles Scheiße ist, es nützt doch nichts."

 

   „Hättest du bloß bei diesem Plan mitgemacht“, schleuderte sie ihm jetzt entgegen. „Dann ginge es uns jetzt besser."

 

   „Das ist Blödsinn und das weißt du sehr gut“, widersprach er. „Du weißt ja nicht mehr was du redest. – Wir zwei, wir haben es bis hierher geschafft und den Rest schaffen wir auch noch.“

 

   „Ach ja? Kann es sein, dass du ein Träumer bist?“, fragte sie bitter.

 

   Marc spürte, dass es ihm im Moment offenbar an Überzeugungskraft mangelte. Doch er musste es weiter versuchen, denn ihm war klar, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. „Lass mich hier, dann bist du schneller. Nur noch ein kleines Stückchen, dann hast du es geschafft."

 

   Suzanne stand auf und wischte sich, ungeachtet der Schmutzschlieren, die sie auf diese Art in ihrem Gesicht verteilte, trotzig mit den Händen die Tränen aus den Augen. Der Blick, den sie ihm danach zuwarf, ging ihm durch und durch, denn er zeigte ihm deutlich ihre Resignation: „Weißt du, ich hatte mich wirklich auf dieses Land gefreut. Aber seitdem ich hier bin stimmt plötzlich gar nichts mehr in meinem Leben. Ich wünschte..." Sie stockte.

 

   „Was?", hakte er sanft nach.

 

   „Ich wünschte, ich hätte nie einen Fuss in dieses gottverdammte Land gesetzt!", antwortete Suzanne impulsiv. „Wär´ ich doch bloß im Internat geblieben!“

 

   Marc schwieg und schaute auf seine provisorische Krücke gestützt zu, wie Suzanne hektisch ihre Sachen wieder zusammenraffte.

 

   „Gehen wir weiter", sagte sie schließlich, und ihre Stimme hatte wieder den alten, festen Klang.

 

   „Du musst noch dein Knie versorgen", widersprach er.

 

   „Quatsch", wehrte sie grob ab. „Das ist nichts. Na los, komm schon, ich will nicht noch mehr Zeit mehr verlieren."

 

   „Halt. Moment noch, warte.“

 

   „Was denn noch?“, fragte sie ungeduldig. „Ich hab´ dir doch gesagt…“

 

   „Schau´“, unterbrach er sie und wies ungelenk mit einer Hand links hinter sie. „Du kannst dich beruhigt alleine auf den Weg machen. Da steht jemand, der auf mich aufpassen wird.“ Er deutete ein Lächeln an, das allerdings ziemlich missglückte. Kunststück, er hatte Schmerzen. „Nun mach´ schon. Dreh´ dich halt um.“

 

   Langsam tat Suzanne was Marc von ihr verlangte und zuckte prompt zusammen. In etwa zwanzig Metern Entfernung stand Skat, die halb von einem Busch verdeckt, genauestens zu beobachten schien, was sich vor ihren Augen abspielte.

 

   „Skat“, sagte sie tonlos.

 

   „Ja.“ Marcs Stimme war die Befriedigung über die unerwartete Wendung deutlich anzuhören. „Ich wusste doch, dass sie in unserer Nähe bleiben wird.“

 

   „Aber…“

 

   „Suzanne. Sie wird mir nichts tun. Im Gegenteil. Sie wird kompromisslos gegen jeden vorgehen, der mir zu Nahe kommen will. In ihrer Gesellschaft bin ich sicher wie in Abrahams Schoß. Verlass dich drauf.“

 

   Suzanne schaute mit weit aufgerissenen Augen zu, wie die Löwin nun ganz aus dem Busch in Erscheinung trat und langsam auf sie zutrottete. Marc grinste insgeheim kurz, als sie automatisch beiseite trat, um dem mächtigen Tier nicht im Weg zu stehen. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen, denn Skat schritt, ohne das Mädchen weiter zu beachten, gemächlich an ihr vorbei, um sich dann unaufgefordert neben Marc auf dem Boden niederzulassen. Sie blickte ihn an und prompt kam wieder das laute Schnurren tief aus ihrer Kehle. Er beobachtete, wie Suzanne dreimal hart schluckte, um einen Kloß, der sich anscheinend urplötzlich in ihrer Kehle festgesetzt hatte, zu verdrängen.

 

**********

 

   Suzanne konnte es nicht leugnen. Trotz des großen Respekts, den sie immer noch vor dem imsposanten Wildtier hatte, war sie zutiefst gerührt als Marc jetzt einen Arm ausstreckte, um Skat hinter dem linken Ohr zu kraulen. Die spürte die tiefe Verbundenheit, die zwischen den beiden so unterschiedlichen Lebewesen herrschte und merkte, wie ihre Augen feucht wurden und eine Träne sich den Weg über ihre Wange suchte. Marc veränderte jetzt äußerst vorsichtig seine Position und lehnte sich so bequem es ihm in seiner Lage möglich war, gegen Skats Seite und atmete erleichtert aus, als er nach einigen vergeblichen Versuchen endlich eine Stellung gefunden zu haben schien, in der er es einigermaßen aushalten konnte.

 

   „Geh´ schon“, sagt er und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf Suzanne. „Hol´ Hilfe. Mit Skat an meiner Seite bin ich sicher. Mach dir keine Sorgen.“

 

   Das glaubte sie ihm unbesehen. Aber was war mit ihr? Was, wenn sie versagte? Scheiße, sie hatte Angst. Um sich, um ihn … um sie beide. „Was ist, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffe“, argumentierte sie lahm. „Wenn ich mich verlaufe, und sie dich durch meine Schuld zu spät finden … Ich könnte mir nie verzeihen, wenn du deinen Fuß verlierst, weil ich…“

 

   „Suzanne.“ Er klang unendlich müde und leicht gereizt. „Es reicht. Bitte geh´ einfach. Du schaffst das. Ich weiß es.“

 

   „Na, wie schön, dass das wenigstens einer von uns weiß.“ Alles in ihr sträubte sich dagegen, ihn alleine zurück zu lassen, aber sie sah ein, dass dies vermutlich die einzig vernünftige Lösung war. „Skat?“

 

   Die Löwin schnaubte und schaute hoch – Suzanne direkt in die Augen.

 

   „Ich verlass´ mich auf dich, hörst du? Pass auf Marc auf. Halt ihn warm und wach und wenn…“

 

   „Suzanne. Skat weiß genau, was sie tut.“ Sie registrierte dankbar, dass Marc jetzt wieder weicher und verständnisvoller klang. „Du schaffst das. Mach dir keine Gedanken. Du kriegst das hin. Aber du musst dich jetzt wirklich langsam auf den Weg machen. Okay?“

 

   „Ja. In Ordnung.“ Suzanne zitterte am ganzen Körper, während sie erneut ihre wenigen Utensilien von rechts nach links schob und überlegte, ob es sich überhaupt lohnte, irgendetwas davon mitzunehmen. Außer dem Kompass natürlich. Der war wichtig. Immens wichtig. Sorgsam griff sie nach dem Gerät. Jetzt durfte alles passieren, außer dass das Ding irgendwie kaputtging. Bevor sie sich auf den Weg machte, warf sie noch einen letzten Blick über die Schulter auf Marc und Skat. „Passt auf euch auf, klar?“

 

   „Machen wir“, antwortete Marc leise. „Du aber auch.“

 

**********

 

   Die Morgendämmerung hatte gerade eingesetzt, als Gilian Banks nach einer unruhig verbrachten Nacht erwachte. Sie brauchte einen Augenblick um sich zurechtzufinden und zu realisieren, dass sie im Gästezimmer von John Gilberts Station verbracht hatte. Schon wieder. Aber egal, sollen die Leute doch denken, was sie wollen, dachte sie trotzig. Sie hatte es in der Botschaft einfach nicht mehr ausgehalten und das war doch wohl mehr als verständlich.

 

 

 

   John hatte sich zwar gefreut als sie tags zuvor überraschend ohne vorherige Absprache auf der Station aufgetaucht war, doch leider hatte er keine guten Nachrichten für sie gehabt. Der Suchtrupp, kurzerhand zusammengetrommelt aus Einheimischen, die ihn unterstützten, war kurz vor ihrem Eintreffen ergebnislos zurückgekehrt, und vor dem nächsten Morgen machte es schlicht keinen Sinn einen neuen loszuschicken. So war der gemeinsame Abend eher deprimierend verlaufen und sie hatte sich früh in ihr Zimmer zurückgezogen.

 

   Gilian seufzte tief, stand auf, zog sich einen Pulli über und verließ ihr Zimmer. Im Haus war noch alles ruhig, also ging sie in die Küche, setzte Kaffeewasser auf und ging dann hinaus auf die Terrasse. Einige Minuten stand sie dort schweigend und betrachtete die, in ihren Augen, trügerische Stille. Selbst die Tiere in ihren Käfigen schliefen noch größtenteils. Sie ging die Stufen hinunter und schlenderte langsam auf die Käfige zu. In Gedanken beschäftigte sie sich mit der unliebsamen Tatsache, dass sie spätestens nachmittags wieder zurück in die Stadt musste. Die Anhörung stand an und ihr war klar, dass sie es sich nicht leisten konnte, nicht daran teilzunehmen. So ärgerlich sie das auch fand. Die Konsequenzen, die eine eventuelle Abwesenheit ihrerseits nach sich ziehen konnte, waren – schon alleine wegen des Generals – ünüberschaubar und sie hatte keine Lust hinterher Washington Rede und Antwort zu stehen. Derzeit hatte sie wahrlich genug andere Probleme. Also würde sie, genau wie John, daran teilnehmen. Nur gut, dass er so viele Leute hatte, die ihn unterstützten. So würde wenigstens die Suche nach den Kindern nicht unterbrochen.

 

   Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Da lag etwas ein Stück weit hinter dem letzten Käfig, dort wo dichtes Gestrüpp den nahen Busch ankündigte. Was war das? Ein Stück Stoff, allerdings recht groß. Vermutlich hat jemand während der Arbeit sein Hemd ausgezogen und es dann dort vergessen, sagte sie sich, während sie bereits darauf zuhielt, um das Kleidungsstück aufzuheben und mit zurück zum Haus zu nehmen.

 

**********

 

   John, der halb verdeckt vom Vorhang, Gilian vom Fenster seines Zimmers aus gedankenverloren beobachtete, wunderte sich als er sie plötzlich zielstrebig auf den Busch zuhalten sah. Er sah, wie sie stutzte, die Hände vor das Gesicht schlug und in einen schnellen Trab verfiel. Sie bückte sich über irgendetwas, das er vom Fenster aus nicht erkennen konnte und kam gleich darauf, wie von Furien gehetzt, auf das Haus zugelaufen. Dabei schrie sie wie von Sinnen:

 

   „John! Wach auf! John! Du musst aufwachen, hörst du? Es ist Suzanne! Ich habe Suzanne gefunden!"

 

   John, der inzwischen bereits auf dem Weg nach draußen war, konnte kaum fassen, was er da hörte. Er traf zeitgleich mit Charlie, den das Geschrei geweckt hatte, auf der Terrasse zusammen. Gilian stand am Fuß der Treppe und wies aufgeregt hinter sich:

 

   „Dort hinten! Sie liegt hinter den Käfigen!" In Gilians Augen standen Tränen und sie bekam kaum Luft. „Ich … ich dachte zuerst, sie wäre tot! Aber sie atmet! Kommt schnell! Oh mein Gott, sie sieht furchtbar aus!"

 

   John setzte sich sofort in Bewegung während Charlie ihm nachrief: „Ich hole schnell den Verbandskasten. Bin gleich da."

 

   John hörte, dass Gilian hinter ihm schwer atmend versuchte, mit ihm Schritt zu halten, doch das veranlasste ihn nicht, langsamer zu werden. Eher das Gegenteil war der Fall, denn bei aller Erleichterung quälte ihn gerade nur ein einziger Gedanke: Wieso nur Suzanne? Wo war Marc? Inzwischen hatte er die Stelle am Rand des Busches erreicht, kniete neben dem am Boden liegenden Mädchen nieder und fühlte ihr den Puls. Als Gilian Sekunden später neben ihm eintraf konnte er sie schon beruhigen:

 

   „Beruhige dich. Sie schläft nur." Vorsichtig rüttelte er an Suzannes sonnenverbrannten, nackten Schultern. „Suzanne? Suzanne, hörst du mich?"

 

   Unendlich langsam öffnete das Mädchen die Augen und blickte ihn ungläubig an, so als könne sie sein Gesicht im ersten Augenblick nicht unterbringen.

 

   „Mama?", flüsterte sie schläfrig.

 

   „Ich bin hier", antwortete Gilian, kniete sich neben ihn, und griff nach der Hand ihrer Tochter. „Mach dir keine Sorgen, ich bin da.“

 

   „Marc?“, stieß Suzanne plötzlich alarmiert aus, während sie hektisch versuchte, sich aufzustützen. „Wo ist er? Habt ihr ihn?"

 

   Das Mädchen war augenscheinlich immer noch nicht richtig wach. John war ihr vorsichtig dabei behilflich, sich aufzurichten. „Nein, Suzanne! Das haben wir nicht. Du musst uns helfen", sagte er eindringlich. „Sag uns, wo wir suchen müssen.“ Die Sorge, gekoppelt mit einer leichten Ungeduld in seiner Stimme war nicht zu überhören.

 

   Jetzt erst schien Suzanne richtig zu sich zu kommen. Sie stützte sich mit einem Arm ab, schaute sich mit großen Augen um, und realisierte wo sie sich befand.

 

   „Er hat mich tatsächlich nach Hause gebracht", flüsterte sie beinahe ehrfürchtig, während sie ihre andere Hand öffnete und andächtig auf einen Kompass blickte. Den Kompass, der sich immer am Armaturenbrett des Jeeps befunden hatte, wie John mit einem Blick erkannte. Bei der Bergung des Wagens war er nicht mehr an seinem Platz gewesen und er hatte insgeheim gehofft, dass die Kinder ihn mitgenommen hatten. Offenbar hatte er hier richtig gelegen.

 

   „Suzanne..." Er konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln. „Hör mir zu. Bitte. Wo ist Marc?"

 

   Es schien, als würden die Ereignisse der letzten Nacht mit einem Mal über Suzanne hereinbrechen. Auf jeden Fall kam Leben in sie. Sie riss die Augen auf und blickte wild von einem zum anderen „Wie spät ist es?"

 

   „Noch nicht mal Sechs", übernahm Gilian die Antwort.

 

   „Was? Schon?" Suzanne schien ehrlich entsetzt und versuchte aufzustehen, was ihr aufgrund des Zitterns ihrer Beine kaum gelingen wollte. „Wir müssen los. Sofort!“

 

   „Du musst gar nichts", sagte John ruhig, obwohl er innerlich fast verrückt wurde. „Deine Mutter wird sich um dich kümmern und ich werde mit Charlie losfahren. Sag uns, was passiert ist? Wo ist Marc? Warum ist er nicht bei dir?" Und dann stellte er die Frage die ihm am meisten auf der Seele brannte. „Es geht ihm doch gut, oder?"

 

   „Nein!" Suzanne schossen die Tränen in die Augen. „Bitte, Sie müssen das verstehen: Ich musste ihn einfach zurücklassen. Er wollte das so, weil…“ Sie stockte schniefend. „Er ist verletzt. Sein Fuß, er sieht einfach… Ich … ich habe versucht, ihm zu helfen. Ehrlich. Aber er ... es ging einfach nicht mehr. Ich … Ach, Scheiße!“ Suzanne zog die Nase hoch und wischte sich mit einem Anflug wiederkehrender Energie die Tränen aus den Augen. Dass sie dabei nur jede Menge Schmutz in ihrem Gesicht verteilte ignorierte sie. „Marc hat gestern schon die ganze Zeit über gesagt, dass es nicht mehr weit ist. Ich hatte so gehofft, dass wir den Rest auch schon schaffen, aber jetzt weiß ich, dass es doch noch ganz schön weit war.“ Sie hob die Hand mit dem Kompass an. „Er hat mir das Ding erklärt, mir gezeigt, wie ich mich nach ihm richten kann. Als die Station dann tatsächlich plötzlich vor mir auftauchte konnte ich es zuerst gar nicht glauben. Ehrlich, ich wollte mich nur ganz kurz mal hinsetzen und den Augenblick genießen. Ich war so erleichtert. Doch dann… Ich … ich muss eingeschlafen sein. Verdammte Scheiße! Und Marc? Er…“

 

   Mit Suzannes Beherrschung war es mit einem Mal vorbei. Regelrechte Weinkrämpfe schüttelten sie durch und sie bekam kein Wort mehr heraus. Gilian konnte es anscheinend nicht mehr mit ansehen, denn sie nahm ihre Tochter jetzt zärtlich und beschützend in die Arme. „Ist ja gut“, sagte sie beruhigend und strich Suzanne zärtlich über den Kopf. „Niemand macht dir einen Vorwurf.“

 

   Himmel nochmal, er konnte Gilians Erleichterung ja durchaus nachempfinden, und er verstand ja auch, dass Gilian sich wünschte, dass ihre Tochter sich beruhigte, aber im Moment konnte er sie einfach noch nicht in Ruhe lassen. Sie musste ihnen unbedingt sagen, wo sie nach Marc suchen mussten. Sein Sohn lag irgendwo dort draußen und war verletzt. Zu verletzt, um Suzanne weiter begleiten zu können, und das bedeutete, dass es ernst war. Ansonsten hätte er das Mädchen nie alleine losgeschickt, da war er sich sicher. Zutiefst verzweifelt warf er Gilian einen flehenden Blick zu und formte lautlos mit den Lippen das Wort „Bitte“. Gott sei Dank, sie verstand sofort, nickte und rückte Suzanne wieder ein Stückchen von sich ab.

 

   „Suzanne, bitte. Du musst dich beruhigen und John sagen, wo er nach Marc suchen muss. Du willst doch sicher auch, dass wir ihn schnell finden und ihm helfen können, oder?“

 

   „Ja, klar.“ Schniefend nickte das Mädchen und wandte sich ihm zu. „Es tut mir leid. Hier, sehen Sie…“ Sie erklärte John nun genau, wo die Nadeln des Geräts gestanden hatten, als sie Marc in der Nacht verlassen hatte. „Genügt das?“, fragte sie abschließend angstvoll. „Reicht das, damit Sie ihn finden?“

 

   John nickte. „Ja, mach dir keine Sorgen. Mit diesen Angaben werden wir ihn sicher schnell finden.“ Zumindest hoffte er das. Wieder fixierten seine Augen Gilian. „Du kannst sie jetzt reinbringen. Im Badezimmer im Wandschrank findest du alles, was du für eine Erstversorgung benötigst. Mach dir keine Sorgen, sie sieht zwar schlimm aus, aber ich glaube nicht, dass sie ernsthaft verletzt ist. Ich würde dir ja Charlie hier lassen, aber, je nachdem in welchem Zustand Marc ist, brauche ich unter Umständen seine Hilfe direkt vor Ort dringender.“ Er nickte seinem Schwiegervater zu, der direkt verstand.

 

   „Ich mache den Wagen startklar.“

 

   „Geht klar.“ Charlie verschwand.

 

   „Tu das“, antwortete John knapp und berührte die Bürgermeisterin, die ihre Tochter wieder beruhigend hin und herwiegte, und leise auf sie einredete, sachte am Arm. „Gilian?“

 

   Sie blickte auf. „Natürlich müsst ihr beide fahren. Mach dir keine Gedanken. Ich komme zurecht.“

 

   „Wir sind so schnell wie möglich zurück“, versprach er leise.

 

   Gilian nickte verständnisvoll. „Lasst euch Zeit. Das Wichtigste ist jetzt, dass ihr Marc findet, und den Jungen so schnell wie möglich nach Hause bringt.“

 

   „Das haben wir vor.“ Er nickte Gilian dankbar zu und sprang in den Wagen, mit dem Charlie gerade vorgefahren war.

 

   „Mr. Gilbert?"

 

   „Ja?" John gab Charlie ein Zeichen, damit der den Motor nur ja nicht abstellte. Er brannte darauf loszufahren, und musste sich förmlich dazu zwingen, noch auf Suzannes Einwurf einzugehen.

 

   „Finden Sie ihn! Schnell! Er hat mir das Leben gerettet und die ganze Zeit über auf mich aufgepasst. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich jetzt, wo er mich braucht, versagt hätte."

 

   John lächelte, doch er war extrem angespannt und es kostete ihn beinahe ein übermenschliches Maß an Beherrschtheit, Suzanne seine Ungeduld und Panik nicht spüren zu lassen. Trotzdem nahm er sich die Zeit für eine Antwort: „Kein Mensch hat hier versagt. Ich bin sicher, Marc wird stolz auf dich sein, wenn er erfährt, dass du es alleine bis hierhin geschafft hast. Mach dir keine Sorgen. Wir kommen nicht ohne ihn zurück.“

 

   Suzanne nickte immer noch unter Tränen, aber sie beruhigte sich langsam wieder ein wenig, wie John am Rande registrierte. Er hob verabschiedend die Hand und wenige Sekunden später verschwand der Jeep in einer Staubwolke.

 

To be continued

 

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